Der erste Alarm kam aus den Niederlanden. Schon 1983 legten die Sozialisten (SP) eine Studie vor, die man heute als politisch unkorrekt bezeichnen würde. In „Gastarbeit und Kapital“ forderten sie, dass Zuwanderer „einen wertvollen Beitrag in dem Kampf ... leisten, den die Arbeiter gegen das kapitalistische System werden führen müssen.“ Wer dazu nicht bereit sei, solle das Land verlassen, wobei ihm 75.000 niederländische Gulden auszuhändigen seien.
Empörung löste nicht die antikapitalistische Spitze aus. Denn in den Niederlanden gehört die sozialistische Rhetorik zur allgemein akzeptierten politischen Meinungsvielfalt. Vielmehr war es die Thematisierung einer Unverträglichkeit zwischen säkularer Gesellschaft und religiöser Herrschaft. In der Folge sprachen auch die holländischen Liberalen öffentlich davon, dass sich eine säkulare Wertneutralität nicht mit religiösen Moralvorstellungen vereinbaren lasse. Und Pim Fortuyn schoss 1997 mit seinem Buch, „Gegen die Islamisierung unserer Kultur“ den Vogel ab. Seitdem haben sich die Niederlande immer klarer gegen die „kosmopolitische Illusion“, so der Soziologe Paul Scheffer, positioniert und werden seit kurzem von einer Koalition unter Beteiligung der Freiheitspartei von Geert Wilders regiert.
Am falschen Platz
Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hob mahnend ihren Zeigefinger gegen Holland. Mit Geert Wilders an der Regierung ging ihr die populistisch orchestrierte Abgrenzung zu weit. Im Inland aber war sie nicht weniger zimperlich als die Abgemahnten: „Multikulti ist absolut gescheitert“, verkündete sie Mitte Oktober in Berlin, um dann hinzuzufügen: „"Wir fühlen uns dem christlichen Menschenbild verbunden, das ist das, was uns ausmacht." Wer das nicht akzeptiere, "der ist bei uns fehl am Platz". - Wohlgemerkt beziehen sich diese Sätze nicht auf die Mitglieder der CDU/CSU, sondern auf die gesamte Population der Bundesrepublik Deutschland.
Demgegenüber erinnerte der bekannte evangelische Theologieprofessor Friedrich Wilhelm Graf in 3-sat Kulturzeit am 15. Oktober 2010 daran, dass der moderne Verfassungsstaat „religiös-weltanschaulich neutral“ ist und es jedem frei steht, zu glauben, was er will, so lange er sich an die Gesetze hält. Und wie nebenbei fügte der Theologe hinzu: „Durch Flucht in Beschwörungen von christlichen Werten ist niemandem geholfen.“ Damit hatte er buchstäblich ins Schwarze getroffen.
Überdurchschnittliches Verantwortungsgefühl
Der Konflikt reicht tief. Er verläuft zwischen dem modernen Verfassungsstaat mit seiner Wertneutralität auf der einen Seite und theokratischen Tendenzen von Teilen des Islam auf der anderen Seite. Zusätzlich provoziert dieser Konflikt in unseren Gesellschaften Reaktionen, die der Theologe Graf als „Flucht in Beschwörungen“ bezeichnet. Christliche Werte sollen einen Zusammenhalt garantieren, der ohne diese als akut gefährdet betrachtet wird. Das entspricht nicht nur einem weit verbreiteten Bauchgefühl in Deutschland.
Die Leiterin des CDU-nahen Allensbacher Instituts für Demoskopie, Renate Köcher, hat kürzlich Zahlen vorgelegt, die eine Abnahme christlicher Orientierung speziell in der jüngeren Generation belegen. Damit verbindet sie einen Niedergang der Bereitschaft, sich für mehr als nur das eigene unmittelbare Wohl einzusetzen. Umgekehrt kommt sie bei den nach wie vor religiös Orientierten zu dem Ergebnis: „Die Minderheit der religiösen unter den 30-Jährigen unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von den religiös indifferenten Gleichaltrigen: durch stärkere Familienorientierung, überdurchschnittliches soziales Verantwortungsgefühl, Aufgeschlossenheit, Bildungsorientierung und eine signifikant grössere Bereitschaft, sich mit gesellschaftlichen Entwicklungen auseinanderzusetzen.“ (Beilage, „Denk ich an Deutschland“, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung am 16. Oktober 2010)
Die 16. Schell-Jugendstudie, die im September 2010 vorgestellt wurde, kommt dagegen zu einem ganz anderen Schluss. Zwar diagnostiziert auch sie eine starke Abnahme religiöser Orientierung in der jungen Generation: „Religion spielt für die Mehrheit der Jugendlichen in Deutschland nur eine mässige Rolle.“ Dann aber stellt sie fest: „Im Vergleich zu den Vorjahren sind immer mehr Jugendliche sozial engagiert: 39 Prozent setzen sich häufig für soziale oder gesellschaftliche Zwecke ein. Auch hier zeigen sich soziale Unterschiede. Aktivität und Engagement sind bildungs- und schichtabhängig.“
Todesstrafe und sexuelle Skandale
Also hängt das soziale Engagement nicht vom „christlichen Menschenbild“ ab. Die anderen Realitäten wie Schicht und Bildung sind härter. Noch härter ist allerdings die Frage, die gemäss der Kanzlerin gestellt werden müsste: Sind die Verfasser der Jugendstudie von Shell „bei uns fehl am Platz“?. Oder die Jugendlichen, die befragt und deren Antworten ausgewertet worden sind? Denn wichtiger als das christliche Menschenbild sind Schicht und Bildung. Diese Zuspitzung mag übertrieben anmuten. Aber sie stammt von der Kanzlerin
Wer Religion und die damit verbundene Moral ernst nimmt und den Äusserungen von Horst Seehofer bis Angela Merkel folgt, erkennt, dass hiermit die Fragen des Einschlusses und Ausschlusses - „fehl am Platz“ - und der Achtung und Nichtachtung - „was uns ausmacht“ - verbunden sind. Der Soziologe Niklas Luhmann hat aus diesen fatalen Konsequenzen schon lange vor dem jetzt aufgeflammten Streit um die richtigen Identitäten den Schluss gezogen, dass es Aufgabe der Moral sein könnte, vor der Moral zu warnen.
Moral ist eine gefährliche Droge. Sie trübt sie Wahrnehmung für die Tatsache, dass unter dem Deckmantel christlicher Moral alles möglich ist. Wer von den europäischen Politikern würde die Todesstrafe gut heissen, die in Europa geächtet, aber von amerikanischen Christen für biblisch korrekt angesehen wird? Wie will man die sexuellen Skandale in den christlichen Kirchen deuten? Wie steht es mit kriegerischer Gewalt? Und so fort.
Späte Anerkennung der Menschenrechte
Die Droge der „Beschwörungen von christlichen Werten“ trübt nicht nur die Wahrnehmung. Sie suggeriert auch falsche Strategien. Auf den islamischen Fundamentalismus wird dann mit einem christlichen Fundamentalismus reagiert gemäss dem Motto: „Unsere christlichen Werte, Eure islamischen Werte.“ Dieser Streit mag für Theologen interessant sein, für die Realität des deutschen und der Mehrzahl der europäischen Rechtsstaaten ist er absolut irrelevant. Denn der moderne Rechtsstaat basiert auf den Menschenrechten, nicht auf dem christlichen Menschenbild, worin immer das bestehen mag. Im Übrigen hat die katholische Kirche die Menschenrechte erst unter Johannes XXIII. während des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962 bis 1965) anerkannt.
Die Unverträglichkeit der liberalen säkularen Gesellschaft mit dem islamischen Fundamentalismus, wie sie in den Niederlanden schon 1983 von den Sozialisten festgestellt worden ist, ist etwas völlig anderes als die Auseinandersetzung zwischen religiösen Wertesystemen. Der moderne Verfassungsstaat ist ein Produkt der europäischen Aufklärung und der Kodifizierung der Menschenrechte in Europa und Amerika. Wenn manche Politiker das nicht unterscheiden können, dienen sie dem religiösen Fundamentalismus mehr, als sie in ihrem Bekenntniseifer ahnen.