Wiederholen ist in unserer linearen Zeit ein anrüchiges Wort geworden. Auch in der Schule. Vorwärts heisst die Devise. Doch Lernen und Können leben vom Üben, und Üben besteht im Wiederholen. Wir brauchen wieder mehr Mut fürs Zyklische.
Der verkörperte Fluch der Wiederholung
Gustav Schwabs schönste Sagen des klassischen Altertums faszinieren viele. Mit einer Figur aus der griechischen Mythologie hatte ich als Jugendlicher ausserordentlich Bedauern, mit Sisyphos, Sohn des Äolos und Listigstem aller Sterblichen. Er taucht im grossen Epos der Odyssee auf. Eine ganz alte Gestalt.
Den schweren Marmorstein auf eine Anhöhe hinaufwälzen, dazu hatten ihn die Götter in der Unterwelt für seine Überheblichkeit auf Erden verdammt – zum unentwegten Bemühen und ohne jede Aussicht auf Gelingen. In Homers Odyssee heisst es: „Doch wenn Sisyphos ihn über den Grat – den riesigen Steinblock – werfen wollte, so drehte das Übergewicht stets zurück ihn, und von neuem rollte dann talwärts der schamlose Felsblock. Er aber straffte den Leib und stiess immer wieder zurück ihn; Schweiss entfloss seinen Gliedern, und über dem Haupte stieg Staub hoch." (1) Ein Schauer läuft über den Rücken.
Meine Angst – die Wiederholung!
Stets das Gleiche tun, wiederholen. Stets von vorne beginnen? Der Arme! Der Unglückliche! Keine Vorbildfigur. Schon gar nicht für einen jungen Menschen. „Meine Angst – die Wiederholung!“ Max Frischs Wort im „Stiller“ verstärkte die Distanz zu dieser Gestalt. Pubertät und Berufsbildung liessen Sisyphos gedanklich in weite Ferne rücken! Glücklicherweise. Doch Sisyphos kehrte in mein Leben zurück. Diesmal nuancierter.
Mit dem Lehrerwerden und der Lehreraufgabe war er plötzlich wieder da. Zuerst vielleicht nur im berühmten Buch von Siegfried Bernfeld: „Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung“. Später auch im bekannten Gefühl „Alle Jahre wieder!“, im Gefühl der Wiederholung, des „Schon wieder!“ Diese „ewige Wiederkunft des Gleichen“, um an Friedrich Nietzsches berühmtes Diktum zu erinnern, macht Angst. Es ist der Fluch der Wiederholung. Wir alle kennen dieses Gefühl und damit die Gefahr nur zu gut: Wiederholung kann verschleissen, Wiederholung kann zur Entleerung und Erstarrung führen, kann zur Routine verkommen.
In Wiederholungen den Reichtum des Lebens erfahren
Wo der Inhalt verschwindet, regiert letztlich die Routine. Dann verkommt ein beglückendes „Alle Jahre wieder“ zu einem apathischen „Schon wieder!“. Die Wiederholungen werden zu unserem Problem. Resignation schleicht sich ein.
Doch wir leben aus Wiederholungen. Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter. Ostern, Weihnachten. Geburtstage und Jahrestage. Wiederholung ist das Grundmuster eines menschlich reichen Lebens. Hier liegt die entscheidende Frage: Wie können wir die Wiederholung brauchen und zugleich der Gefahr ihrer Monotonie entrinnen?
Sinn für Wiederholungen finden
Das Wiederholen ist konstitutiv für wirksame Lernprozesse. Ohne fleissiges und kontinuierliches Üben geht es nicht. Das weiss jede junge Geigerin, das kennt jeder Junioren-Fussballer. Nur so wird aus dem nerventötenden Gekratze dereinst virtuose Musik, aus dem ungelenken Gekicke hohe Ballkunst. Repetitio est mater studiorum, wissen wir seit den Römern. Wiederholung ist die Mutter der Studien.
Doch die Einheit von Wiederholen und Lernen ist in der heutigen Didaktik nicht mehr selbstverständlich. Den Zusammenhang zwischen Wiederholen und Können muss man – sprachlich naheliegend – wieder-holen. Nicht im Sinne des schematisch-platten Drills, des geistlos-tödlichen hundertmal Abschreibens, sondern des lustvollen Wiederholens, durch die sich Schülerinnen und Schüler Erfahrungen – zum Beispiel Gewissheiten, Verbindlichkeiten, Vertrauen – aneignen.
Wirksame Lernprozesse brauchen die Wiederholung
Max Frisch formulierte treffend: „Alles wiederholt sich – nichts kehrt uns wieder.“ Und in diesem Sinne lässt Peter Handke in seinem Buch „Langsame Heimkehr“ den Geologen Sorger sich selbst auffordern: „Sinn für Wiederholungen kriegen!“ Er erfährt den Wert des anregenden Wiederholens gegen den strapaziösen Wiederholungszwang mit der ständigen Wiederkehr des Identischen. Darum, so Sorger, „hier mein anderes Wort für die Wiederholung: Wiederfindung!“
Wir müssen den Wert der Wiederholung wieder finden, den Geist des Übens wieder entdecken. Dafür plädierte auch der grosse Soziologe Georg Simmel in seinen postum publizierten pädagogischen Reflexionen. Er forderte die Lehrer auf, den „Kern des Lehrstoffes in immer neuen Metamorphosen, in immer neuen Verbindungen den Schülern darzustellen.“ (2) In der Wiederholung auf das Altvertraute neue Inhalte legen, in der Wiederkehr neue Bilder bringen: Nur so kann man der Eintönigkeit des Wiederholens entgegenwirken.
Wiederholen als zyklisches Lernen
Von „Varietas delectat“ sprachen die Römer. Abwechslung macht Freude. Mein Primarlehrer beherrschte diese Kunst; als kleine Knirpse erlebten wir sie. Noch heute erinnere ich mich, wie er Langweiliges lebendig werden liess. Die deutsche Grammatik bekam ein Gesicht – und wir das Gefühl, wir verstünden etwas. X-mal haben wir Sätze umformuliert, den Akkusativ geübt, nach Synonymen gesucht, Wichtiges in den Hauptsatz gesetzt, die Einheit der Zeitenfolge überprüft, Abschnitte nach dem gleichen Subjekt durchforstet, Textübergänge kontrolliert, Nebensätze mit Kommas abgetrennt. Unbemerkt ergaben sich Automatismen.
So wurde das Wiederholen zu einem spiraligen Lernen: In eins mit der Wiederholung stellte sich der Erkenntnisfortschritt ein; er nahm dem Wiederholen vieles vom monotonen Charakter und festigte unser sprachliches Können.
Der vergnügte Sisyphos
Intensive Übungsstunden mit Schülerinnen und Schüler haben auch mich glücklich gemacht. Ich konnte sie auf ihrem Lern- und Erkenntnisweg ein Stücklein weiterbringen. Dies im Wissen: Erkenntnisse brauchen nicht unbedingt die Wiederholung, aber Wiederholungen sind unverzichtbar, wenn die Erkenntnisse wirksam werden sollen.
In solchen Momenten erinnerte ich mich an Albert Camus' „Le mythe de Sisyphe“. Mit ihm erlebte ich die unermüdliche, nie an ein Ziel gelangende Lehrerarbeit vielleicht so: „La lutte elle-même vers les sommets suffit à remplir un cœur d’homme. Il faut imaginer Sisyphe heureux.“ (3)
Mit dem französischen Existentialisten und Literatur-Nobelpreisträger Camus stellte ich mir Sisyphos als glücklichen Menschen vor. Der vergnügte Sisyphos. Der glückliche Pädagoge.
(1) Homer, Odyssee, 11, 593-600. München: Manesse Verlag 2007, übersetzt von Kurt Steinman.
(2) Georg Simmel, Schulpädagogik. Vorlesungen, gehalten an der Universität Strassburg. Osterwieck/Harz: Verlag von A.W. Zickfeldt 1922, S. 45.
(3) Albert Camus, Le mythe de Sisyphe. Essai sur l'absurde. Editions Gallimard 1994, S. 168.