Der Drang ans Gymnasium ist ungebrochen, die Matura für viele eine Conditio sine qua non. Ein Drittel schafft es nur mit Nachhilfeunterricht. Manche sind überfordert. Evaluationen zeigen Defizite. Das Recht auf den prüfungsfreien Universitätszugang erodiert. Anzustreben wäre, so die ETHZ-Wissenschaftlerin Elsbeth Stern, eine Studierquote von rund 20 Prozent.
Zynische Bildungsverachtung?
„Mehr Maturanden, bitte!“, fordert Professor Philipp Sarasin, Universität Zürich. Dezidiert verlangt er für eine breite Bevölkerungsschicht den Zugang zum Gymnasium. Sich diesem Imperativ zu widersetzen sei „Ausdruck einer ebenso dummen wie zynischen Bildungsverachtung eines kleinen Herrenvolkes“, hält er fest. Zu den Gegnern einer höheren Maturandenzahl zählt der Autor dieser Zeilen.
Auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD rügt die Schweiz regelmässig: Die niedrige Maturaquote sei international eine unverantwortliche Anomalie und darum zu erhöhen. Paradoxerweise lobt sie gleichzeitig die helvetische Berufsbildung mit dem dualen System von Lehre im Betrieb und Schule. Sie sei eng mit dem Arbeitsmarkt verwoben und gelte als integrativ. Und doch verkennt die OECD, dass 2013 14 Prozent der schweizerischen Jugendlichen eine Berufsmaturität absolvierten.
Gegenhaltende Kräfte
Auf der andern Seite wehrt sich Professor Franz Eberle, Universität Zürich, gegen einen deutlichen Anstieg der gymnasialen Maturitätsquote von gegenwärtig rund 20 Prozent. Unterstützt wird er von der Intelligenzforscherin der ETH Zürich, Elsbeth Stern. „Wenn man die überdurchschnittlich Intelligenten an den Universitäten haben will, dann sollte man eine Quote von etwa 20 Prozent anstreben“, schreibt sie und fügt bei: „Das ergibt sich aus der Normalverteilung der Intelligenz.“ Eine solche Quote sei natürlich nur sinnvoll, wenn neben den Universitäten ein System fundierter Ausbildungsstätten existiere wie Fachhochschulen sowie berufspraktische Ausbildungsgänge à la duale Berufsbildung. Auch sie ebnen den Weg in ein erfolgreiches Berufsleben.
Die kritischen Stimmen werden lauter
Vor zwanzig Jahren hat die Erziehungsdirektorenkonferenz EDK das Typenmodell der Maturität durch ein Wahlfachsystem ersetzt (MAR 95). 2008 wurden die Reformen evaluiert und Schwächen diagnostiziert, vor allem im Bereich Mathematik und Deutsch. Seither fordern Politiker eine „härtere Matura“. Nationalrat Matthias Aebischer, Präsident der nationalrätlichen Bildungskommission und Dozent an der Universität Bern: „Ich würde es begrüssen, wenn die EDK und die Mittelschulen Lösungen fänden, um die Qualität der Matura zu erhöhen.“
„Weniger, dafür bessere Maturanden“ wünscht sich auch der Vorsteher des Eidgenössischen Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung, Bundesrat Johann Schneider-Ammann. Und der ehemalige Zürcher Bildungsdirektor Ernst Buschor bekennt öffentlich, dass die Universitäten zunehmend die Leidtragenden eines gymnasialen Defizits seien. Mindestens ein Drittel der gegenwärtigen Studenten wechsle die Fachrichtung oder breche das Studium ab. Konkret fordert er: „Wir sollten die Universitäten selber über die Aufnahme entscheiden lassen.“
Der unaufhaltsame Drang ans Gymnasium
Wer die Postulate und Positionen um die Qualität der Matura und die Maturitätsquote studiert, dem brummt der Kopf. Da hilft nur ein Blick auf die Fakten. In einigen Kantonen bleibt der Anteil der Gymnasiastinnen und Gymnasiasten stabil, in andern Kantonen wächst er stetig. Die Maturaquote variiert zwischen den Kantonen enorm. Sie reichte 2013 von 13 (Glarus) bis rund 30 Prozent (Basel-Stadt, Genf und Tessin). Auffallend ist der Andrang in urbanen Gebieten wie Zürich oder Basel. In einigen Stadtzürcher Quartieren stellt sich fast die ganz Primarklasse der Aufnahmeprüfung.
„Alle wollen ans Gymi“, schrieb jüngst der „Blick“ und fügte in boulevardesker Manier bei: „Firmen schlagen Alarm: Schüler sind zu dumm für eine Lehre! Zu wenig qualifizierte Bewerber“ (9.2.2015). Zurückzuführen sei dies auf den Gymnasiumswahn. „Wer einigermassen gute Noten hat, wird zur Gymi-Prüfung gedrängt. Uns machen die Bildungsbehörden zu schaffen, die meinen, es bräuchte überall noch mehr Gymnasien“, schrieb der Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbandes SGV, Hans-Ulrich Bigler. Nicht umsonst spricht er von einem „War of Talents“. Die Abnahme der Anzahl Jugendlicher verstärkt den Verteilungskampf um die Begabten.
Da stehen sich zwei Lager gegenüber. Umso dringlicher ist die Grundsatzfrage zu klären: Ausweitung der Gymnasialquote und damit Anstieg der Maturitätsdiplome oder eine Art Kontingentierung und damit Stärkung der Berufsbildung?
Schweizerische Matura als Unikat
Wer eine eidgenössisch anerkannte gymnasiale Maturität besitzt, hat prüfungsfreien Zugang zu allen universitären Studienfächern – mit Ausnahme des Medizinstudiums. Das bedeutet allgemeine Studierfähigkeit und ist in dieser Form weltweit fast einmalig. Darum muss die Matura halten, was das Maturitätsanerkennungsreglement MAR 95 als erstes Hauptziel stipuliert und der Ausweis bescheinigt: jedes Studium erfolgreich aufnehmen können. Das wäre wohl stringent gedacht, bleibt aber in letzter Konsequenz eine Fiktion. Nicht jeder wird an der ETH Zürich Ingenieurwissenschaften studieren können. Dennoch muss sich das Gymnasium als Schule für intellektuelle Allrounder definieren und anspruchsvolle Lernleistungen in der Breite verlangen.
Als zweites Ziel bereitet das Gymnasium auf anspruchsvolle Aufgaben in der Gesellschaft vor. Franz Eberle spricht von einer „vertieften Gesellschaftsreife“. Das sei mehr als ein paar Schlüsselqualifikationen im Bereich der Methoden- und Sozialkompetenzen, fügt er bei. Nutzt die Mittelschule ihre Fächer nur als Sprungbrett für Qualifikationen wie Teamfähigkeit oder Kreativität, verspielt sie ihren Anspruch. Deutsch zum Beispiel muss mehr als nur Texterfassungskompetenz fördern, Musik mehr sein als soziales Lernen. Kreativ wird, wer ins Fach eintaucht, wer sich den Niveauanforderungen der fachlichen Ausbildung unterwirft, schreibt der Philosoph Ludwig Hasler in einem klugen Essay über das Gymnasium. Im Klartext: Wer lernt, wer die Tiefe sucht und die Sache bedingungslos zur eigenen macht.
Das Gymnasium stellt hohe Ansprüche
Wörtlich meint Hasler: „Das Gymnasium muss sich insgesamt als Schule für eine intellektuelle Elite verstehen. Als was denn sonst?“ Er plädiert für eine normative Elite. Das sind Generalisten, die das Ganze im Auge behalten; ohne sie zerfällt die Gesellschaft. So begründet sich die Unverzichtbarkeit des Gymnasiums. Nur das Gymnasium habe, so Hasler, die generalistische Struktur, jungen Leuten den Blick fürs Ganze zu schärfen.
Das ist die wirksamste Antwort auf die kritischen Stimmen aus Politik und Wissenschaft. Nur so kann das Korrelat zwischen der Maturität als umfassender Universitätsreife und dem Recht auf den prüfungsfreien Übertritt in eine Universität bestehen bleiben – und zwar für alle Formen der Maturität.
Zwischen elterlichem Anspruch und kindlichem Potential
Viele Wege führen zu Bildung und Beruf. Das Schweizer Bildungssystem ist breit gefächert und gut ausgebaut – mit unterschiedlichen Passagen und Passerellen. Der gymnasiale Pfad ist einer von vielen.
Warum? Wissen und Können wollen wachsen, und Wachsen braucht Zeit. Wissen und Können wachsen nicht bei allen Kindern und Jugendlichen gleich schnell und in die gleiche Richtung. Darum öffnen sich am Ende der Primarschulzeit verschiedene Wege. Eines ist bei allen Wegen gleich: Chancengerecht sollen sie sein und allen eine berufliche Zukunft ermöglichen.
Primarlehrerinnen und Primarlehrer haben dabei eine hohe Verantwortung. Ihre Rolle ist nicht immer einfach und oft mit konkreten, gar handfesten Erwartungen verknüpft. Soziales Prestigedenken erhöht den Druck; nicht selten hilft der Anwalt nach. Lehrpersonen müssen zwischen elterlichem Anspruch und kindlichem Potential unterscheiden können: Gehört das Kind zu jenen Schülerinnen und Schülern, die gerne und ausdauernd lernen, die viel lesen und gedankliche Ansprüche suchen, die Fragen stellen und den Dingen auf den Grund gehen möchten – und die sich bereits jetzt vorstellen können, einmal an einer Hochschule zu studieren? Dann führt der Weg ins Gymnasium. Ziel ist die gymnasiale Maturität.
Zum Berufseinstieg gelangt man auf verschiedenen Wegen
Dieser Zugang ist mehrspurig – einerseits direkt von der Primarschule ins sogenannte Langzeitgymnasium, anderseits nach der zweiten oder dritten Sekundarklasse oder der Bezirksschule ans vierjährige Gymnasium. Der Weg variiert von Kanton zu Kanton.
Vielleicht ist das Kind noch nicht so weit? Oder es verfügt eher über praxisnahe und anwendungsbezogene Fähigkeiten? Vielleicht hat es handwerkliche Talente und Freude am selber Gemachten? Oder das Kind ist fasziniert vom Verkaufen oder von Büroarbeiten, vom Helfen oder von der Technik und der Computerwelt – und möchte sich schon bald praktisches Wissen aneignen? Dann führt der Weg an die Sekundarschule oder Realschule.
Ziel ist eine Lehre mit Attest oder Fähigkeitszeugnis, die Fach- oder Wirtschaftsmittelschule – mit der Möglichkeit einer Fach- oder Berufsmatura. Zwei Drittel aller Jugendlichen in der Schweiz machen eine berufliche Grundbildung, wie die Lehre heute heisst. Sie steigen nach der Sekundarstufe I in die Berufswelt ein. Das Schweizer Berufsbildungssystem kennt viele Aufstiegs- und Weiterbildungschancen. Es ist durchlässig nach dem chancengerechten Grundsatz: Jeder Abschluss führt wiederum zu einem Anschluss.
Entscheide bei der Berufswahl sind nie endgültig
Bildung ergibt sich aus vielen Stufen und Stationen und ist etwas ganz Persönliches. Darum ist das Schweizer Schul- und Bildungssystem gut verzweigt und vielfältig vernetzt, mit verschiedenen Wegen und Übergängen, mit Abzweigungen und Verbindungen. Im feingliedrigen und vielschichtigen Bildungssystem sollten alle Kinder und Jugendlichen ihren persönlichen Lern- und Berufsweg finden – aufgrund ihrer Begabungen und altersgemässen Fähigkeiten. Das entspricht wohl nicht überall der Realität, bleibt aber als Anspruch.
Lehrerinnen und Lehrern kommt eine Schlüsselfunktion zu – einerseits als Limes gegen überhöhte Elternansprüche, anderseits als Potentialentwickler unentdeckter Talente. Sie müssen erkennen, für wen der Weg ins Gymnasium der richtige ist. Doch Lehrerurteil und Erfahrungsnoten sind immer auch subjektiv und unterliegen einem soziodemografischen Einfluss. Das zeigt die Forschung. Sie weist zudem nach, dass Prüfungen gerechter sind und einen Beitrag zur Chancengerechtigkeit darstellen – sofern die Schule darauf vorbereitet. Ein gutes Gymnasium darf sich diesen Erkenntnissen nicht verwehren.