„Sie sind gut gebaut und sehen gut aus“, schwärmte Christoph Kolumbus in einem Brief an Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon über die Arawak, Kariben, Siboneys oder Tainos, die er in Westindien antraf. „Mit fünfzig Mann könnten wir sie unterwerfen und dazu zwingen zu tun, was immer wir wünschen.“ Wenn sie nicht taten, was sie sich wünschten, griffen die frommen Christen unter dem Admiral schnell zu den notwendigen Erziehungsmassnahmen. Er habe sich ein schönes, junges Mädchen genommen, das sich zu seinem Ärger „mit all ihren Kräften wehrte“, erzählte Miguel Cuneo aus Kolumbus‘ Mannschaft. Da sei ihm keine andere Wahl geblieben, als sie „gnadenlos zu verprügeln und zu vergewaltigen“.
Massenmord als fromme Tat
Jeder durfte sich bedienen. Als sie ihre Karavellen für die Rückfahrt klarmachten, „sammelten wir eintausendsechshundert Männer und Frauen dieser Indianer ein. Jenen, die zurückblieben, gaben wir die Erlaubnis, dass sich jeder so viele von ihnen nehmen dürfe, wie er wünschte“, berichtete Cuneo. Kolumbus erkannte schnell den Wert der menschlichen Ware: „Auch wenn sie lebende Wesen sind, sind sie so gut wie Gold.“ Also stieg der so gerne und viel Gerühmte gleich in das einträgliche Geschäft des Menschenhandels und der Kinderprostitution ein und prahlte sogar darüber: „Allgemein gilt, dass man hundert Castellanos (spanische Münze) so leicht für eine Frau wie für einen Bauernhof erzielen kann. Es gibt eine Menge Händler, die Mädchen suchen; die neun- bis zehnjährigen sind derzeit gefragt.“
Die Verschiffung der Indianer als Sklaven nach Spanien, Massenmord (Auf Hispaniola galt es als fromme Tat, für jeden Jünger Jesu einen Indiander zu töten.), Zwangsarbeit und europäische Krankheiten dezimierten die indigene Bevölkerung innerhalb weniger Jahre. Modernen Schätzungen zufolge lebten bei Kolumbus‘ Ankunft 1492 zwischen 200´000 und 300´000 Menschen auf Hispaniola (heute die Dominikanische Republik und Haiti), 1508 waren es noch 60´000, 1510 46´000, 1512 20´000, 1514 14´000. In seiner 1546 erschienenen „Allgemeinen und Natürlichen Geschichte Indiens“ zweifelte Gonzalo Fernando de Oviedo, ob noch 500 jener Menschen lebten, von denen Kolumbus nur fünfzig Jahre zuvor geschrieben hatte: „Es gibt kein besseres oder sanfteres Volk auf der Welt.“
Die Ermordung der Indianer Brasiliens
Es folgten 400 bis 500 Jahre blutigster Ausrottungsfeldzüge und Jagd auf Sklaven, denen Millionen einheimische Bewohner Lateinamerikas, Afrikas und Asiens zum Opfer fielen. Doch nicht, dass mit Menschenrechtskonventionen oder internationalen Gerichtshöfen indigene Völker heute in Frieden leben könnten. Immer noch, auch im aufgeklärten 21. Jahrhundert, werden sie dem Fortschritt oder dem, was als solcher bezeichnet wird, geopfert.
Vor der Ankunft der Weissen lebten in Brasilien – der Heimat der weltweit grössten Ansammlung isoliert lebender Völker – rund drei Millionen Indianer, um 1900 waren es noch eine Million, 1990 wurde ihre Zahl auf nur noch 200´000 geschätzt. „Der 1910 geschaffene Indianerschutzdienst (SPI) beteiligt sich seit 1964 aktiv an der Vertreibung und Tötung einschliesslich Vergiftung von Indianern, die aus einem 200 Kilometer breiten Streifen an der Autobahn Transamazonica entfernt werden, um Platz für brasilianische Siedler zu schaffen“, notierte das „Lexikon der Völkermorde“ (rororo aktuell 22338) 1998 kühl und sachlich. „1973 wird die Schutzpolitik offiziell aufgegeben, die zwangsweise Umsiedlung von Indianern mithin Gesetz“ – ein klarer Verstoss gegen Artikel 7 der Statuten des Internationalen Gerichtshofs, der „Deportation oder den gewaltsamen Transfer einer Bevölkerung“ als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ definiert.
Im Carajásgebirge in Brasiliens nördlichem Bundesstaat Pará lagern neben riesigen Mangan-, Chrom-, Bauxit-, Nickel-, Kupfer-, Gold-, Molybdän- und Wolframvorkommen unter einer dünnen Erdschicht 18 Milliarden Tonnen Eisenerz, die seit 1985 von der brasilianischen Companhia Vale do Rio Doce in der grössten Eisenerzmine der Welt abgebaut werden. Diesen Ansturm des Fortschrittes haben von den 4000 Carajás, die dort noch 1964 gezählt wurden, nur 400 überlebt.
Systematische Ausrottung
1964 lebten noch 20´000 Munducurus im Regenwald, heute sind es noch 1200. Die Cintas Largas wurden von den entlang der Transamazonica vordringenden Siedlern mit Bomben und Dynamit aus dem Weg geräumt. Zwei Völker der Patch Os-Gruppe wurden 1964 mit Windpocken infiziert und starben aus. Den Taipunas schenkten die Siedler mit Arsen vergifteten Zucker, sie sind verschwunden. 1968 stiessen die Eindringlinge der Zivilisation zu ihrem Ärger auch noch auf ein bis dato völlig unbekanntes Volk, das ihren geplanten Rinderfarmen ebenfalls im Wege stand. Also rotteten sie die 400 Mitglieder dieses Volkes, die Beicos de Pau genannt wurden, mit Nahrungsmitteln aus, die mit Arsen und Ameisengift angereichert waren. Als Nachrichten über den Völkermord im Urwald an die Öffentlichkeit gelangten, behaupteten die Täter, die Beicos seien in einer Epidemie gestorben.
Bis die Europäer vor 500 Jahren in ihr Gebiet eindrangen, siedelten Zehntausende Awá in Dörfern im Gebiet des heutigen brasilianischen Bundesstaats Maranhao. Um den Neuankömmlingen auszuweichen, gewöhnten sie sich das Nomadenleben an. Aber auch diese Überlebensstrategie half ihnen kaum. Sie wurden von den weissen Eindringlingen verfolgt, ermordet oder vertrieben. Ihre Wälder wurden abgebrannt. Erst 2003 und unter massivem internationalem Druck konnte sich die brasilianische Regierung dazu durchringen, das Land der Awá zu demarkieren. Doch damit änderte sich nichts. Alleine zwischen 2003 und 2010 fielen 450 von ihnen Mordanschlägen zum Opfer, wodurch dieses einst so zahlreiche Volk auf heute verschwindende 300 Überlebende reduziert wurde.
Als er im Mato Grosso auf die Bororo-Kultur traf, sei sie noch „weitgehend intakt gewesen bis auf den Einfluss der Missionare vom Orden der Salesianer“, schrieb der Ethnologe und Soziologe Claude Lévi-Strauss, der zusammen mit seiner ersten Frau Dina Dreyfus zwischen 1935 und 1939 in Brasilien zahlreiche Forschungsreisen unternahm, in seinem Reisebericht „Tristes Tropiques“. Zum einen verdanke man diesem Orden die besten ethnologischen Quellen über den Stamm, zum anderen aber hätten die Missionare versucht, „die Eingeborenenkultur systematisch auszurotten“. Trotzdem sei noch so viel von ihr vorhanden gewesen, dass sie „den Forscher aus der Fassung bringt“. Schon Claude Levy-Strauss bedauerte nicht nur den Verlust der Traditionen infolge der Eingriffe der Missionare sondern auch den „Rückgang der Stammesgrösse“. Heute sind die Bororos nahezu vollständig verschwunden.
Mehr Opfer des Fortschitts
Eigentlich gehört der Chaco den Ayoreo, ein Nomadenvolk, das hier bis vor wenigen Jahrzehnten noch weitgehend isoliert von der modernen Welt lebte. Sowohl die Verfassung als auch andere Gesetze Paraguays erkennen das Besitzrecht der Indianer auf ihren traditionellen Lebensraum an. Doch heute gehört das meiste Land neuen Landbesitzern, reichen paraguayischen und brasilianischen Rinderbaronen. Dort wo die Ayoreo seit Jahrhunderten Kürbisse, Bohnen und Melonen anpflanzten, ohne jemals den Wald zu gefährden, wo sie wilden Honig sammelten, Wildschweine und Schildkröten jagten und jedes Jahr einen Monat lang Asojna, den Ruf der Nachtschwalbe, mit Tänzen und Ritualen feierten, weil er die Regenzeit ankündigte, sollen bald ausgedehnte Rinderfarmen für den Fleischexport geschaffen werden. Darum fallen hier, im Nordosten Paraguays und Südwesten Brasiliens, die Bäume schneller als sonst irgendwo auf der Welt.
Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts waren diese Nomaden zum ersten Mal mit weissen Menschen in Kontakt gekommen, als Mennoniten auf ihrem Land siedelten. Die Ayoreos leisteten den Eindringlingen Widerstand. Es kam zu Zusammenstössen. Es gab Tote. In den siebziger und achtziger Jahren kamen amerikanische fundamentalistische Evangelikale der New Tribes Mission, deren 3300 Missionare Heiden in zwanzig Ländern – von Guinea bis Papua Neuguinea und von Brasilien bis in die Arktis – die christliche Heilslehre bringen, den bedrängten Christenbrüdern zu Hilfe und organisierten Menschenjagden, bei denen viele Ayoreo- Totobiegosode erlegt wurden. Andere erlagen später Krankheiten.
Von den diversen Untergruppen der Ayoreo gelten die Totobiegosode (Menschen vom Ort der wilden Schweine) als die isoliertesten. Zwar hielt sich noch eine unbekannte Zahl von ihnen im Regenwald versteckt, doch in weiteren Invasionen der Zivilisation, des Fortschritts und des jedem Amerikaner verbrieften Rechts auf das Streben nach Glück wurden die meisten Wilden inzwischen aus dem Wald vertrieben. Ohne ihr Land und beaufsichtigt von den frommen Männern der New Tribes Mission, mussten sie ihre heidnischen Rituale des Asojna aufgeben und es blieb ihnen kaum eine andere Wahl, als für ein paar Pesos auf den Rinderfarmen ihrer Jäger zu arbeiten.
Zwar konnten sie mit der Unterstützung einiger Hilfsorganisationen wie „Gente, Ambiente y Territorio” oder „Rettet den Regenwald” 63´000 Hektar Wald zurückkaufen und sich weitere 140´000 Hektar sichern. Doch inzwischen droht eine neue Gefahr. Eine Reihe von Angehörigen der Totobiegosode erlag in den letzten Jahren einer mysteriösen tuberkuloseähnlichen Atemwegserkrankung. Inzwischen warnt die US-Hilsorganisation „Survival International”, die sich für die Rechte indigener und „unberührter” Völker einsetzt: „Die tödliche Epidemie droht das Ayoreo-Volk auszulöschen, und einen tödlichen Präzedenzfall für ihre Verwandten zu schaffen, die sich immer noch in den Wäldern verborgen halten und die letzten unberührten Indiander ausserhalb des Amazonasgebiets sind.”
Opfer nicht nur in Lateinamerika
Als sie vor 150 Jahren erstmals mit weissen Menschen in Kontakt kamen, lebten auf den Andamanen im Indischen Ozean 5000 Grosse Andamanen, nach denen die Inselgruppe benannt ist. Die Ausbeutung und Gewalt, der sie durch die Kolonisatoren ausgesetzt waren, überlebten nicht mehr als fünfzig, ein Prozent der ursprünglichen Bevölkerung. Hundert „Perfekte Menschen“, wie sich die Onge nennen, leben auf einer anderen der 500 Inseln (von denen aber nur 27 bewohnt sind), die die Andamanen ausmachen. Nur die kriegerischen Sentinelesen auf der Nord-Sentinelinsel konnten sich Fortschritt und Zivilisation vom Leib halten und überlebten sogar Kolonialzeit und zwei Weltkriege weitgehend unbeschadet.
Die Regierung von Sarawak, eine der beiden Borneoprovinzen Malaysias, will bis heute die Landrechte der Penan, der letzten Nomaden (Jäger und Sammler) dieser drittgrössten Insel der Welt, nicht anerkennen. Infolge gross angelegter kommerzieller Abholzung in ganz Borneo verlieren sie zunehmend ihren Lebensraum und lassen sich in den Slums der neu wachsenden Siedlungen entlang der Flüsse nieder, wo sie langsam im Alkohol versinken, so wie die Batak auf der philippinischen Insel Palawan (nicht zu verwechseln mit den Batak Sumatras) oder die Chagos von Diego García (im Indischen Ozean), die 1966 den strategischen Interessen der Vereinigten Staaten weichen mussten und seither in den Slums von Port Louis auf Mauritius oder Victoria auf den Seychellen, in Alkohol und Drogen dahinsiechen.
Zwar finden sich in ihrer Bibel zahlreiche Aufforderungen, nicht zu morden: „Du sollst nicht töten.“ (Exodus 20:13 und Deuteronomium 5:17). Viel ist da die Rede von Nächstenliebe: „Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst.“ (Levitikus 19:33,34). Einige der frommen Begleiter der Eroberer und Kolonisatoren beklagten die Folgen der Jagd nach Gold und Reichtum auch. „In achtunddreissig oder vierzig Jahren haben die Spanier ungerechtfertigterweise über zwölf Millionen Eurer Untertanen umgebracht“ (Die Zahl gilt unter Historikern als übertrieben.), meldete der spanische Priester Bartolomé de Las Casas, der als „Defensor universal de los Indios“ in die Geschichte einging, seinem König. „Grausam durchschnitten sie ihnen die Kehlen ohne einen Unterschied von Geschlecht oder Alter… Die einzige und wahre Grundursache, warum die Christen eine so ungeheure Menge schuldloser Menschen ermordeten und zugrunde richteten, war bloss diese, dass sie ihr Gold in ihre Gewalt zu bekommen suchten.“ Und der Dominikaner Francisco de Vittoria mahnte schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts: „Die Indianer sind Menschen und keine Affen.“
Doch die Mehrheit der Goldsucher, Landräuber, Ölbohrer, Militärstrategen, Könige oder Präsidenten, die so gerne publikumswirksam beten und ihre christliche Leitkultur betonen, orientiert sich bis heute lieber an dem militanten Chefideologen des Völkermords, dem Zisterzienserabt Bernhard von Clairvaux, der den Nichtchristen nur „Ausrottung oder Bekehrung“ anzubieten und eifrig gleich für zwei Kreuzzüge die Werbetrommel gerührt hatte, einen gegen die Heiden im Orient und einen gegen die ebenfalls heidnischen Wenden zwischen Elbe und Oder, der zudem dem deutschen Drang nach Lebensraum entgegenkam.