Der unvollendete Krieg in Afghanistan ist seit 2003 nach und nach aus den Medien und damit dem öffentlichen Bewusstsein der USA und Europas verschwunden. Denn der Krieg im Irak nahm mit seiner unerwartetetn Eskalation nach der vorzeitigen Siegeserklärung Bushs fast alle Aufmerksamkeit der westlichen Bürger und ihrer Regierungen in Anspruch.
In dieser Zeit aber verschlechterte sich die Lage in Afghanistan entscheidend. Die geschlagenen Taliban kehrten zurück. Von 2010 an rückte der Krieg in Afghanistan wieder in den Vordergrund. Zudem hatte Obama beschlossen, Afghanistan zu "seinem" Krieg zu machen und den Krieg im Irak so schnell wie möglich zu beenden. Seither ist die öffentliche Aufmerksamkeit für den Irak schwächer geworden, ohne ganz zu erlahmen, denn es stehen dort immer noch amerikanische Truppen. Mit offiziellen Informationen sowie mit offiziösen Einschätzungen wird versucht, die Lage so darzustellen, als sei der dortige Krieg im Abklingen, wenn nicht bereits abgeschlossen - ähnlich wie sie das zuvor in Afghanistan getan hatten.
Im Irak gibt es keine Taliban, also können dorthin auch keine zurückkehren. Doch im Jahr 2007 war ein unterirdischer Bürgerkrieg im Irak entstanden und später gedämpft worden. Dass dieser wieder ausbricht, wenn die amerikanischen Soldaten gänzlich oder auch nur sehr weitgehend abziehen, ist die grosse Gefahr für das Land und - falls es passieren sollte - für den gesamten Mittleren Osten. Deshalb sollte man fragen: Wie steht es heute tatsächlich im Irak?
Politische Ungewissheiten
Es gibt eine politische und eine militärische Front. Zuerst das politische Ringen: Die als Triumph gefeierte "Demokratisierung" des Landes hat zur Zeit ledig das beklagenswerte Resultat ergeben, dass der Irak keine gewählte Regierung hat. Die Macht wird seit sechs Monaten von der Interimsregierung Maleki ausgeübt. Die Wahlen vom 6. März haben dazu geführt, dass das komplexe Gleichgewicht der Parteien und Kräfte bisher keinen Entscheid darüber erlaubte, wer zu regieren habe. Die beiden Politiker mit den meisten Stimmen, Nuri Maleki und Yiad Allawi, streiten sich hartnäckig darum, wer die kommende Regierung bilden dürfe.
Allawi erhielt mehr Stimmen, doch Maleki sitzt an der Regierung und will sich um keinen Preis aus ihr vertreiben lassen. Wahlen an sich bedeuten noch keine Demokratie. Die Lage im Irak ist ein drastisches Beispiel dafür. Es bräuchte auch eine demokratische Gesinnung, und die fehlt offenbar. Zu viele Akteure hoffen darauf, die Macht irgendwie und irgendwann weitgehend uneingeschränkt ausüben zu können.
Ende der Korruption, Elektizität und Wasser
Vielleicht wird es nach weiteren Wochen oder Monaten der bitteren Diskussionen doch noch zu einer legitimen, also auf den Wahlresultaten beruhenden Regierung kommen. Sicher ist das aber nicht. Ob es dieser Regierung dann besser als der vorausgehenden gelingt, die immer noch fortbestehenden Missstände abzubauen, ist ebenfalls höchst ungewiss.
Die irakische Bevölkerung möchte jetzt endlich eine genügende Versorgung mit Elektrizität und grössere persönliche Sicherheit erhalten. Des weiteren fehlen: ausreichend Arbeit, eine aktivere Verwaltung, die sich wirklich um die Anliegen der Iraker kümmert, und so fundamentale Dinge wieTrinkwasser. Nicht weniger dringend ist die Rückkehr der Millionen von Vertriebenen, die im Inland und im Ausland mehr vegetieren als leben. Von besomderem Übel ist die allgegenwärtigen Korruption, die eng mit der Schwäche der staatlichen Organe zusammenhängt, weil die staatlichen und die nicht-staatlichen Waffenträger und deren Oberhäupter ihre Macht für Erpressungs- und Bereicherungsmaneuver aller Arten nahezu unbehelligt ausspielen können.
Ungelöste konstitutionelle Grundfragen
Grundfragen des politischen Zusammenlebens der Iraker sind immer noch ungelöst und bleiben Zankäpfel zwischen den verschiedenen irakischen Gruppen und Interessen. Dazu gehört die konstitutionelle Regelung der Frage der Autonomien, die vor allem den Kurden am Herzen liegt. Bisher ist sie immer ausgespart worden, weil bei den Hauptbeteiligten sehr verschiedene Vorstellungen über eine gerechte Lösung dieser Grundfrage vorliegen. Die Kurden wollen möglichst viel Autonomie in möglichst weit ausgedehnten Gebieten kurdischer und teilweise kurdischer Besiedlung. Die Erdölstadt Kirkuk ist der wichtigste Reibungspunkt. Die Sunniten sind Vorkämpfer eines zentral gelenkten Staates. Die Schiiten haben unterschiedliche Ansichten. Die Verfassung lässt diese Streitfrage offen. Fristen, die sie zu einer definitiven Lösung angesetzt hatte, sind bereits mehrmals ohne Lösung abgelaufen. Bisher haben sich alle Seiten darauf verlassen, dass die Amerikaner in den umstrittenen Landesteilen den Frieden aufrecht erhielten.
Ein unvollendeter asymmetrischer Krieg
Die militärische Front: Nach wie vor gibt es einen asymmetrischen Krieg, den die Amerikaner auch oft, aber im Grunde verniedlichend, als einen "low intensity war" bezeichnen. Von geringer Intensität mag er für diejenigen sein, die ihn von den befestigten Basen oder ihren Kampfflugzeugen aus beobachten und erleben. Ihm fallen nur wenige der hochgerüsteten Soldaten ihm zum Opfer. Doch die "geringe Intensität" gibt es nicht für die Zivilbevölkerung. Im Gegenteil, der asymmetrische Krieg belastet sie auf die Dauer mehr als ein "symmetrischer" zwischen gleich hoch bewaffeten, disziplinierten und geübten offiziellen Armeen.
Denn in Wirklichkeit ist der sogenannte asymmetrische Krieg ein systematischer Bandenkrieg. Er zielt darauf ab, möglichst grosse Teile der Bevölkerung durch die Bedrohung von Leib und Leben zur Unterordnung unter die bewaffneten Banden zu zwingen. Wo dies den Banden gelingt, können sie von der Bevölkerung leben. Mit ihrer Taktik zerstören sie das gesamte überkommene Sozialgefüge.
Im Jahr 2007 wurden Bagdad und andere "gemischte" Gebiete von bewaffneten Banden aufgeteilt. Die schiitischen Banden konnten dabei einen Teil der Sunniten dauerhaft aus der Hauptstadt vertreiben. Später wurde mit Hilfe der Amerikaner und dank der sunnitischen Stämme, die sich von den Amerikanern bewaffnen und besolden liessen, die Rückkehr zu halbwegs geordneten Verhältnissen mit dem Gewaltmonopol der Regierung bewerkstelligt. Die sogenannten sahwa oder "awakening" Milizen, wie die sunnitischen Söldner auch genannt werden, kamen zeitweise auf eine Stärke von fast 100 000 Mann.
Doch das Gewaltmonopol bleibt prekär. Manche sunnitischen Banden versuchen noch immer, durch zahlreiche Bombenanschläge die staatliche Sicherheit soweit zu erschüttern, dass ein neuer Bürgerkrieg ausgelöst werden kann. Sie hoffen, wenn die amerikanische Macht abzieht, die Überhand über die neu ausgehobenen und in vielen Fällen korrupten Sicherheitskräfte der Regierung zu erlangen.
Der Irak als "failed state"?
Die Anschläge haben in den sechs Monaten der Interimsregierung unter Maleki deutlich zugenommen. Die bewaffneten Banden tun alles in ihrer Macht stehende, um die bestehende interimistische Regierungsmacht zu erschüttern, bevor noch eine endgültige und voll legitime Regierung zustande kommt. Obwohl sie theoretisch nicht mehr als Kampftruppen im Irak stehen, sondern primär der Ausbildung der irakischen Armee und Polizei dienen, mussten amerikanische Truppen mehrfach zur Unterstützung der irakischen Armee eingreifen. Die irakische Armee versuchte mehrmals, gegen sunnitische Rebellen vorzugehen und kam dabei soweit in Bedrängnis, dass sie Hilfe anfordern musste.
Bis zu den im November bevorstehenden Wahlen werden die Amerikaner jedenfalls ihren Kurs im Irak beibehalten. Dazu gehört auch, dass sie die dortige Lage möglichst optimistisch, wenn nicht gar verharmlosend darstellen. Ob es nach den Wahlen zu einer Revision der politisch-militärischen Linie kommt oder nicht, wird wohl primär davon abhängen, wie unsicher die Lage der irakischen Regierung in den kommenden Monaten werden wird. Eigentlich müsste es im Interesse der rebellischen Banden liegen, den Abzug der Amerikaner abzuwarten und dann erst zum Schlag gegen die Regierung auszuholen. Doch die Rebellen scheinen der Ansicht, dass sie den Druck auf die Regierung auch gegenwärtig aufrecht erhalten müssen. Dafür haben sie zwei Gründe: Sie laufen Gefahr, Anhänger zu verlieren, wenn sie sich nicht beständig aktiv zeigen, und sie glauben wohl nicht daran, dass die Amerikaner wirklich abziehen und den Irak sich selbst überlassen werden, solange Banden wie sie selbst direkt oder indirekt auf blosser Gewalt gegründete Macht ausüben.
Wenn es nicht zu einer Revision der amerikanischen Abzugspläne aus dem Irak kommt und die Lage so instabil wie jetzt bleibt - was leider mehr als wahrscheinlich ist - muss auf mittlere Frist damit gerechnet werden, dass der Irak ein Unruheherd bleibt mit der als real einzuschätzenden Gefahr eines weiteren Abstiegs in die gegenwärtig wachsenden Ränge der "failed states". Ein Begriff, den man mit "zusammengebrochene Staaten" zu übersetzen hätte.