In der Schweiz gibt es jüngere Menschen, die sind demokratieskeptisch, ja einige verstehen wohl Demokratie gar nicht mehr. Und es gibt ältere Jahrgänge, die verkaufen Nostalgie und «Sicherheit». Beide Trends verheissen nichts Gutes für die Zukunft der schweizerischen Demokratie. Diese basiert bekanntlich auf direktdemokratischen Strukturen, föderalistischer Aufgabenteilung und einem Milizsystem, in dem sich ein Viertel aller Schweizerinnen und Schweizer freiwillig engagiert.
Der Widerstand gegen die herkömmlichen politischen (Macht-) Strukturen ist nicht nur die Folge von Verständnisschwäche, sondern in zunehmendem Masse auch vom Einfluss des rechten Populismus. Selbstverständlich gibt es auch einen linken Populismus, doch hier geht es um den rechten.
Aufschwung der Rechtspopulisten
Der Autor Daniel Ziblatt («How Democracies Die»), Politikprofessor an der Harvard-Universität, ist seit Jahren eine Autorität auf dem Gebiet der Geschichte und Entwicklung von Demokratien. Seiner Ansicht nach ist die Infragestellung der liberalen Demokratien durch rechtspopulistische Parteien in Europa auch eine Folge davon, dass etablierte Politiker und Politikerinnen die Fähigkeit verloren haben, die zentralen Linien der politischen Debatte zu bestimmen. Auch wenn er dabei Europa oder die USA im Fokus hat, ist er grundsätzlich der Meinung, dass in der heutigen globalisierten Welt traditionelle Identitäten und Werte bedroht sind. Als Beispiel nennt er die politischen Probleme der Ungleichheit, der Umverteilung und der Migration.
Ungleichheit, Umverteilung, Migration: Da sind wir mitten in der Schweiz angekommen. Von links wird die Ungleichheit gegeisselt und in der Folge dringend Umverteilung (von oben nach unten) gefordert. Dies ist wohl auch hierzulande nicht zuletzt auf den Einfluss des Buches des Franzosen Thomas Piketty, «Das Kapital im 21. Jahrhundert», zurückzuführen. Der Ungleichheitsforscher behauptet darin, dass das reichste Prozent der Bevölkerung in den USA zwischen 1962 und 2019 seinen Anteil am Gesamteinkommen von 9 auf 19 Prozent mehr als verdoppelt habe. Anfang Januar 2024 haben die Autoren Gerald Auten und David Splinter mit ihrem Artikel im «Journal of Political Economy» dieses Narrativ gründlich entzaubert – gemäss ihrer Arbeit «ist in den USA die Schere zwischen Arm und Reich über die Jahre kaum aufgegangen» (NZZ).
Von rechts wird die Migrationsfrage als «Sein oder Nichtsein» propagiert (und werden damit Wahlen gewonnen). Und so dominieren auch bei uns mehr und mehr jene Kräfte das politische Tagesgeschehen, die nicht an der Stärkung unserer demokratischen Einrichtungen interessiert sind, sondern ihren parteiinternen (oder gar persönlichen) Steckenpferden frönen.
Ob sich im Jahr 2024 jene Politikerinnen und Politiker, die auf Ausgleich, Kooperation und wichtigste Aufgaben des Bundes fokussieren, in Bern Gehör schaffen können – im Getöse der ideologischen Störmanöver?
Die grossen Qualitäten unserer demokratischen Einrichtungen
Manchmal scheint es fast, als ob ein wachsender Teil unserer Bürgerinnen und Bürger Mühe hätte, die traditionellen Normen und Werte unseres Politsystems zu verstehen und zu schätzen. Fühlen sie sich bei den dominierenden Diskussionen im Bundeshaus zu wenig vertreten? Unabhängig davon, ob sie eher wohlhabend oder knapp bei Kasse sind, meinen sie, «quantité négligeable» in den Räten zu sein, für jene Damen und Herren, denen der Erfolg ihrer Partei zuoberst im Pflichtenheft steht – vor den eigentlichen Führungsaufgaben einer Demokratie. Die Konsequenz: Diese Kreise bewegen sich unaufhörlich nach rechts, von wo der Ruf der Bewahrung traditioneller Werte hallt, wo erfolgreich ein nostalgisches Bild der Gesellschaft gemalt wird. Dort, wo Sicherheit in unruhigen Zeiten versprochen wird.
Niemand behauptet, unsere schweizerische Demokratie sei perfekt. Nein, sie ist es nicht, sie ist herausfordernd, sie verlangt persönliches Engagement. Könnte das ein Grund sein, weshalb mehr und mehr Menschen sich abwenden vom politischen Tagesgeschehen in Gemeinden, im Kanton, im Bund? Gibt es einen Zusammenhang zwischen der internetmedialen Überflutung durch Belanglosigkeiten und Extremisten? Ist es gar der Schattenwurf eines immer stärker grassierenden persönlichen Egoismus?
Die Rolle der politischen Parteien
Spätestens seit der Wahl des neuen Bundesrates am 13. Dezember 2023 ist es offensichtlich, dass sich die politischen Parteien selbst viel zu wichtig nehmen. Statt – wie in der Bundesverfassung geschrieben – dem Parlament die Wahlfreiheit zu gewähren, hat sich die SP nicht geschämt, per Ticket den Anwesenden den Weg zu weisen, wie richtig abzustimmen sei.
Diese Entgleisung ist nichts Aussergewöhnliches. Da stellt sich manchem die Frage, wie zeitgemäss sie eigentlich noch sind, diese Parteien? Zu oft wollen sie nicht wahrhaben, dass sich Menschen heute nicht mehr in eine einzige politische Ecke zuordnen lassen. Sie sind sachbezogen, mal für berechtigte, linke Anliegen, ein anderes Mal befürworten sie liberale Anliegen, die nicht alle Herausforderungen zur Problemlösung dem Staat in die Schuhe schieben möchten.
Alle Macht den politischen Parteien? Nein. Deren Spielchen werden abgelehnt, sie können gar ein Grund für das steigende Desinteresse der Jungen am Politbetrieb sein. Wir sollten das nicht stoisch hinnehmen. Auch dieser Trend führt über kurz oder lang zu den rechtspopulistischen Märchenonkeln, die – ausgestattet mit viel Cash – ganze Zeitungen füllen mit «Zukunft in Freiheit».
Polarisierung im Schweizerland
Jene Kräfte im Land, die unaufhörlich darauf aus sind, gesellschaftlich zu polarisieren, um die Ernte einzufahren, sind mitschuldig an der offensichtlichen Verhärtung der parteipolitischen Fronten. Die Folge: Stillstand in den meisten wichtigen Dossiers in Bundesbern. Realisieren wir überhaupt, dass in den Schlüsseldepartements dringend notwendige Lösungen (Reformen) seit Jahren blockiert sind? Der Schaden ist offensichtlich, für jene, die ihn sehen wollen.
Polarisierend wirkt in der Schweiz vor allem die SVP. Noch bevor der Bundesrat im Dezember 2023 seine Verhandlungsstrategie mit der EU publizierte, war von rechts eine neue Initiative dagegen angekündigt worden. Die Schweizer Politologin Sarah Engler sagt in der «Zeit», dass sich in der Politwissenschaft folgende einheitliche Definition des Rechtspopulismus herausgebildet hat: «eine populistische Rhetorik geeint mit immigrationsfeindlichen und autoritären Positionen».
Das Unbehagen im Kleinstaat
Nun müssen wir aber zur Kenntnis nehmen, dass das «Unbehagen im Kleinstaat» (NZZ) nicht unbegründet ist. Es braucht keine «Nachhaltigkeitsinitiative» der SVP, um vor der 10-Millionen-Schweiz zu warnen. Wenn unser Land innert gut 20 Jahren von 7,2 auf 9 Millionen Menschen gewachsen ist, bereitet das vielen Leuten Kopfzerbrechen. Unverständlich ist für mich das Verhalten der übrigen Parteien, die mit einer gefährlichen Ignoranz einen weiten Bogen um die Thematik machen. Wer realisiert, dass die SVP die Zustände, vor denen sie warnt, selbst mitverursacht, müsste doch darauf hinweisen, dass die Asylsuchenden nur einen kleinen Teil der Zuwanderung ausmachen.
«Haben die Schweizer Parteien mehr Angst vor dem Migrationsthema als die Bevölkerung vor der Migration?», fragt die NZZ. Vielleicht. Doch was es jetzt braucht im Land, ist die politische Thematisierung des Themas Zuwanderung. Die grosse Tragweite ruft nach gemeinsamen, kooperativen Anstrengungen aller Parteien unter Berücksichtigung der Stimmung der Schweizer.
Die gute Nachricht
In den vergangenen Wochen demonstrierte in Deutschland annähernd eine Million engagierter Menschen auf den Strassen und hat dabei ein bleibendes Zeichen gesetzt: Bürgerinnen und Bürger «wandten sich schaudernd von der radikalen Rechten ab – um unsere demokratische, offene Gesellschaft zu verteidigen» (Die Zeit).