Ein Jahr vor dem Urnengang zum nächsten Bundestag haben Deutschlands Sozialdemokraten mit der überraschenden vorzeitigen Bekanntgabe ihres Spitzenkandidaten den Startschuss zum Wahlkampf abgefeuert. Nun soll also Peer Steinbrück, einst Finanzminister der Großen Koalition unter Angela Merkel, seine damalige „Chefin“ und deren schwarz/gelbes Regierungsbündnis vom Berliner Thron fegen, um seinerseits eine Allianz aus Sozialdemokraten und Grünen an die Macht zu bringen.
Kandidatenkür vor der Klärung des Programms
Der Zeitpunkt des Paukenschlages hat selbst die Genossen überrumpelt. Doch so erkennbar sich die Hoffnungen der Mitglieder an den kühlen und streitbaren Hanseaten jetzt klammern – unumstritten oder mehrheitlich gar beliebt ist Steinbrück in der SPD keineswegs.
Eigentlich hätte die Kandidatenkür erst am Ende dieses Jahres oder zu Beginn 2013 erfolgen sollen. Bis dahin wollte die SPD Führungs-Troika – bestehend aus dem Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel, dem Chef der Bundestagsfraktion, Frank-Walter Steinmeier und eben Peer Steinbrück – zunächst die brennendsten noch offenen inhaltlichen Fragen für das Wahlprogramm klären. Daraus ist nun nichts geworden. Genauer gesagt, der Plan hat sich genau ins Gegenteil umgekehrt.
Ein Beispiel: Die SPD möchte in den Mittelpunkt ihrer Wahlkampagne die Sozialpolitik im weitesten Sinne stellen. Das ist – vor dem Hintergrund und in der Tradition ihrer Geschichte – nicht nur verständlich, sondern ganz sicher richtig. Doch die Antworten auf die gerade im künftigen Sozialbereich steckenden Fragen sind gespickt mit politischen Sprengsätzen.
Armut und Renten
Nicht zuletzt der kürzlich von der Bundesregierung veröffentlichte neue Armuts- und Reichtumsbericht hat schonungslos ins öffentliche Bewusstsein gerückt, wie brisant sich die Situation in Deutschland in den kommenden 30 bis 40 Jahren allein schon aufgrund der demografischen Entwicklung der Gesellschaft gestalten wird. Anders ausgedrückt: Angesichts der rasanten Zunahme des Altensektors und der gleichzeitig drastisch gesunkenen (und weiter sinkenden) Geburtenraten lässt sich unschwer ausrechnen, dass schon sehr bald der Zeitpunkt erreicht sein wird, an dem das geltende Rentensystem nicht mehr aufrecht zu erhalten ist.
Ganz einfach, weil die wenigen Jungen die vielen Alten nicht mehr finanzieren werden können. Die sich daraus ergebenden einfachen Konsequenzen aber sind Pulverfässer für die SPD – Verlängerung der Lebensarbeitszeit und/oder Absenkung des Rentenniveaus.
In der Vergangenheit ein rotes Tuch
Beides soll zwar (sagt Gabriel) in Kürze so geklärt werden, dass sowohl der neue Spitzenkandidat (er muss noch von den SPD-Spitzengremien und danach vom Parteitag im November bestätigt werden) als auch die diversen Parteirichtungen „damit leben können“. Das gilt vor allem für den linken Flügel und die Gewerkschaften. Für diese Gruppierungen war Steinbrück in der Vergangenheit geradezu ein rotes Tuch. Bei zahllosen Auftritten und Reden, nicht zuletzt aber auch in seinem jüngsten Buch „Unterm Strich“, ließ der norddeutsch kühle, analytisch zweifellos brillante und rhetorisch hoch begabte Hamburger kaum mal eine Gelegenheit aus, den in seinen Augen vor sich hin träumenden „Sozialromantikern“ in der SPD die Gesetze des kleinen und des großen Einmaleins einzubläuen.
Darin (und nicht nur in diesem Punkt) ein gelehriger Schüler seines großen hanseatischen Vorbilds Helmut Schmidt. Was Steinbrück unter politischem Charme versteht, hat die Schweiz ja vor gar nicht so langer Zeit erleben dürfen, als er im Zuge des Steuerstreits mit Deutschland drohte, die Kavallerie in Marsch zu setzen…
Strategisch vorbereitet
Schon seit längerem war absehbar, dass die SPD-Spitze die wichtigste Personalentscheidung mit Blick auf die Wahl im kommenden Jahr nicht würde – wie geplant – bis zum Jahreswechsel hinausschieben können. Zu stark wurde der öffentliche Druck, zugleich aber auch der aus der Partei. Die Genossen erlebten voll Ingrimm das zum Teil katastrophale Erscheinungsbild des christdemokratisch-liberalen Berliner Regierungsbündnisses, ohne dass (wie die Umfragen ausweisen) die größte Oppositionspartei davon profitieren konnte.
Im Gegenteil – gerade die jüngsten Zahlen ließen CDU und CSU mit 38 Prozent auf einen neuen Höchststand klettern (die FDP hingegen liegt mit 4 Prozent weiter unter dem parlamentarischen Wiedereinzug). Und ganz oben in der Beliebtheits-Skala rangiert die Bundeskanzlerin Angela Merkel. Kein Wunder also, dass die Genossen immer massiver darauf drängten, die Figur genannt zu bekommen, hinter der sie sich zum Merkel-Sturz schließlich doch scharen sollen.
Ouvertüre mit Helmut Schmidt
Nun also Steinbrück. Angeblich stand innerhalb der „Troika“ schon seit ängerem fest, dass er gekürt werde. Gabriel (sagt er) habe bereits im Februar 2011 beschlossen, sein Zugriffsrecht als Parteivorsitzender nicht wahrzunehmen. Und Steinmeier – ohne Zweifel höchst seriös, aber mit 23 Prozent desaströser Verlierer der vergangenen Bundestagswahl – winkte vor ein paar Wochen ab. Blieb also nur noch Steinbrück übrig. Und der antwortete auf die Gabriel-Frage „Willst Du?“ ohne zu zögern „Klar“. Wobei das für aufmerksame Beobachter der deutschen Politszene wirklich nicht überraschend war.
Erinnert sei nur an die bühnenreife Inszenierung vor etwa einem halben Jahr mit Exkanzler Helmut Schmidt als Partner und der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ als Kulisse. Das Gespräch („Peer, finden Sie nicht…“, „Entschuldigen Sie, Helmut, wenn ich nuanciert anderer Meinung bin…“) wurde im Fernsehen übertragen und von der „Zeit“ (Mitherausgeber: H. Schmidt) veröffentlicht. Auch dass Steinbrück gerade jetzt für die SPD ein Konzept zur Politik gegenüber den Banken vorlegte, war alles andere als Zufall.
Interessant für die „Mitte“
Kann Peer Steinbrück die SPD aus ihrem Loch herausholen? Die Antwort: Wenn überhaupt einer, dann er. Der einstige (und aus jener Zeit von Angela Merkel hoch geschätzte) Bundesfinanzminister hat ohne Zweifel gute Chancen, auch in der Wähler-„Mitte“ – und das wäre natürlich bei CDU/CSU und FDP – Stimmen zu gewinnen. Die Gefahr: Dabei müsste er vor allem wirtschaftlich und sozialpolitisch Positionen vertreten, die in der SPD von mittelinks bis links teilweise massivst abgelehnt, ja bekämpft werden. Vom Typ her kommt der 65-jährige Hamburger in der breiten Öffentlichkeit durchaus gut an. Und zwar nicht zuletzt, weil sein Auftreten viele Deutsche eben an Helmut Schmidt erinnert.
Dieser war als Kanzler (anders als sein Vorgänger Willy Brandt) zwar nicht geliebt, wohl aber ob seiner Sprache und seines Führungsstils geachtet bis bewundert. Schmidt entsprach dem oft geäußerten Wunschbild der Deutschen von einer demokratisch-seriösen Persönlichkeit, die aber weiß „wo es lang geht“, und dies auch deutlich sagt. Und Steinbrück ist aus ähnlichem Holz.
Merkels Plan B
Kann er also Angela Merkel gefährlich werden? Vieles wird von der weiteren Entwicklung der europäischen Politik, vor allem selbstverständlich dem Management in der Finanzkrise abhängen. Im Moment ist dass Zutrauen der Deutschen in die Kanzlerin erstaunlich groß. Abgesehen davon, dass Steinbrück auf diesem Gebiet auch keine im Grundsatz anderen Positionen vertritt. Für die Regierungschefin ist ganz sicher das oberste Ziel bei den Wahlen, für sich und ihre Partei eine strategische Position zu gewinnen, dass ohne die Union keine Regierung gebildet werden kann.
Das bedeutet, zunächst einmal mit deutlichem Vorsprung Nummer 1 in Deutschland zu bleiben. Das heißt zweitens: Auch wenn sie einer Fortführung der jetzigen Koalition sicher den Vorzug gibt, muss sie innerlich bereits auf andere Konstellationen eingestellt sein für den Fall, dass die Freien Demokraten an der 5-Prozent-Hürde scheitern sollten. Und dieser „Plan B“ heißt für Merkel logischerweise: Große Koalition.
Spekulationen über den "Tag danach"
Aber mit wem an der Spitze. Wenn Peer Steinbrück nicht wortbrüchig würde, wäre ein solches Bündnis mit ihm nicht machbar. „Nie wieder als Juniorpartner unter Merkel!“. Immer und immer wieder war in den vergangenen Monaten dieses Glaubensbekenntnis von ihm zu hören. Genau das aber öffnet schon heute Tür und Tor für die abenteuerlichsten Spekulationen für den „Tag danach“ – also für den Fall, dass der unberechenbare Wähler am Ende doch nicht so entscheidet, wie es in den politischen Hinterstübchen ausgeklügelt wird.
Schlüge dann vielleicht doch noch einmal die Stunde des pragmatischen Frank-Walter Steinmeier als Kompromissperson um der Staatsräson willen? Oder gar des viel jüngeren und ohne Zweifel ehrgeizigen Sigmar Gabriel, der – zu seinem Leidwesen - bisher halt immer unter dem Ruf des Flatterhaften zu leiden hat?