Der Mann stieg über Mauer und Zaun eines Anwesens. Auf der fast menschenleeren Strasse angekommen, wurde er sofort von einem Beamten in Zivil gefasst und durch das streng bewachte Gartentor wieder ins Haus geführt. Der Mann hiess Saifuddin Soz, 83 Jahre alt. Ein Unbekannter hatte den Fluchtversuch in der Stadt Srinagar gefilmt.
Isolation
Fluchtversuch? Es war sein eigenes Haus, das der kaschmirische Kongresspolitiker verlassen wollte (und vermutlich hatte er auch die Videoaufnahme inszeniert). Er wollte der Welt beweisen, dass er unter Hausarrest stand, und dass die Behauptung der Regierung in Delhi, er sei frei, eine Lüge war.
Vor genau einem Jahr war Soz, zusammen mit über eintausend Lokalpolitikern, Aktivisten, Journalisten und Anwälten in Beugehaft genommen worden. Die einen verschwanden in ihren Häusern, deren Drahtlos- und Festnetzverbindungen ebenso abgeschnitten wurden wie der Zugang durch „unbefugte Dritte“. Zahlreiche andere landeten in Gefängnissen irgendwo in Indien.
In einem gewissen Sinn wurde der ganze Staat Jammu&Kaschmir unter Hausarrest gesetzt. Die Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum wurde auf bestimmte Orte und Stunden begrenzt. Kommen und Gehen über die Provinzgrenze, selbst zwischen den Regionen Kaschmirtal, Ladakh und Jammu, wurden strikt kontrolliert.
Warten
Der lokale und nationale Telefonverkehr wurde erst nach zwei Monaten allmählich wieder hergestellt. Die Internetverbindung wurde zugelassen – für ein paar Stunden im Tag. Sie funktioniert bis heute ohne 4G-Anbindung, was jedes Herunterladen einer E-Mail oder Internetseite zu einer stundenlangen Geduldsprobe macht.
Inzwischen ist die Mehrzahl der Festgenommenen wieder freigelassen worden. Prominente Politiker, darunter ehemalige Chefminister, die mit der Volkspartei BJP von Narendra Modi regionale Regierungskoalitionen eingegangen waren, haben die Legalität der Verhaftungswelle vor Gerichten angefochten, bleiben aber wie Saifuddin Soz weiterhin unter Hausarrest.
Einige konnten sogar eine Freilassung erwirken, wurden aber sofort danach wieder verhaftet, diesmal unter Berufung auf ein schärferes Gesetz, den „National Security Act“, der dem Staat weitgehenden Schutz vor juristischer Einmischung gibt.
Vielleicht hat die Furcht vor diesem Gesetz (oder dem noch rabiateren „Prevention of Unlawful Activities Act“) bewirkt, dass selbst aus dem Mund der freigelassenen Politiker nur eisiges Schweigen kommt.
Symbolfunktion
Das ist bestürzend, denn mit der Neutralisierung der Politiker hat Delhi alle Brückenbauer verloren, die früher Sezessionsgelüste an der Basis durch Aufrechterhalten eines autonomen Spielraums aufgefangen hatten. Nun sind diese Seile gerissen, und es bleibt nur noch der dumpfe Traum von Azadi – Unabhängigkeit. Viele junge Männer sind abgetaucht.
In der Zwischenzeit hat die Modi-Regierung die politische und juristische Architektur des Giedstaats weitgehend umgebaut. Zuerst kam die Suspension des Verfassungsartikels 370, dank Modis komfortabler Zweidrittelmehrheit im Unterhaus. Artikel 370 garantierte dem kaschmirischen Parlament weitgehende Autonomie gegenüber dem Zentralparlament.
Allerdings war diese über Jahrzehnte hinweg bereits ausgehöhlt worden. Denn Artikel 370 machte den Staatspräsidenten zum Schiedsrichter darüber, welche Kompetenzen der Provinz und welche dem Zentralstaat zustehen – und meist gewann der Letztere. Dennoch kam dem Verfassungsparagrafen eine wichtige politische Symbolfunktion zu.
Keine Wahlen
Drei Monate nach der Verfassungsänderung kamen der zweite und dritte Schlag. Die Region Ladakh wurde aus dem Bundesstaat Jammu&Kaschmir ausgegliedert, und aus den zwei Restregionen wurden Union Terrritories gemacht. Es ist der gleiche Status wie jener der Hauptstadt Delhi oder ehemaliger portugiesischer und französischer Kolonien wie Pondichery (Goa war bis 1987 ein „UT“, bevor es ein regulärer Bundesstaat wurde).
Union Territories sind eine verfassungsrechtliche Anomalie, denn sie verletzen den föderalen Grundsatz, gemäss dem jeder Bundesstaat ein eigenes Parlament hat, das eine eigene Regierung wählt und in zahlreichen Ressorts Gesetzeskompetenz hat, so etwa bei Recht&Ordnung, Erziehung, Landwirtschaft und Industrie.
Dagegen ist in einem UT der Gouverneur als Vertreter des Zentralstaats der Chief Executive Officer, der einer gewählten Provinzregierung Weisungen geben darf. Der Zentralregierung ist es freigestellt, zu bestimmen, welche Dossiers sie der Lokalverwaltung überlassen will. So hat etwa die gewählte Stadtregierung von Delhi weitgehende Autonomie, allerdings mit Ausnahme des gewichtigen Innenministeriums und damit der Polizei.
In Kaschmir sind bis heute noch nicht einmal Wahlen für das Provinzparlament angekündigt worden. Die Regierung wird vom Gouverneur gestellt, mit vier Beamten-Ministern, von denen keiner aus Kaschmir stammt. Mit einer weiteren Verfassungsänderung (Art. 35) machte Delhi den Weg frei, um Nicht-Kaschmirern Landbesitz zu ermöglichen.
Die politische Stille
Kaschmir ist der einzige der 29 indischen Bundesstaaten mit einer muslimischen Mehrheit. Die alte Regelung des exklusiven Landbesitzes für „permanent residents“ war für die Bevölkerungsmehrheit die einzige Garantie, eine demografische Umwälzung zu verhindern.
Die BJP dagegen machte in ihren Wahlmanifesten nie einen Hehl daraus, diese „Anomalie“ korrigieren zu wollen, der einem „Hindu-Staat“ natürlich schlecht ansteht. Sie folgt damit dem gleichen Kalkül wie China, das mit der Ansiedlung von Han-Chinesen in Xinjiang und Tibet das demografische Übergewicht der Tibeter und Uiguren kippen will. Ein Indiz dafür ist der Umstand, dass diese Verordnung nur für Kaschmir gilt, nicht aber für das benachbarte neue Union Territory von Ladakh.
Trotz dieser politischen Umwälzung bleibt es in Kaschmir still. Mit einer halben Million Soldaten in einem Gliedstaat von der Grösse der Schweiz glich J&K bereits in „normalen“ Zeiten einem Land im Belagerungszustand. Nun ist die Lähmung total – und damit, so scheint es, auch die emotionale Abwendung von Indien. Bisher ist es Delhi nicht gelungen, genügend gefügige Personen zu finden, die als „Unabhängige“ in Erscheinung treten oder bereit wären, eine Delhi-hörige Lokalpartei zu bilden. Der Versuch, Dorfwahlen durchzuführen, endete in einem Schlamassel.
Das Recht der Muslime
Die Lähmung ist auch deshalb so gross, weil Staat und Gesellschaft im übrigen Indien wenig tun, um diese Unterhöhlung der föderalen Demokratie zu bekämpfen. Dies gilt etwa für die Justiz, namentlich das richtungweisende Oberste Gericht. Es hat bisher den zahlreichen Petitionen über die zweifelhafte Verfassungsmässigkeit der Kaschmirpolitik Narendra Modis nicht einmal Gehör gewährt, geschweige denn ihnen stattgegeben.
Unter Lähmungserscheinungen leidet aber auch die politische Opposition des Landes. Angesichts des breiten anti-muslimischen Klimas wagt sie es nicht, aus der Deckung zu treten und mit einer Gegenstrategie auf Modis schleichende Aushebelung der säkularen und föderalen Pluralität zu reagieren. Verfassungsrechtler sind nämlich der Meinung, dass die eigenmächtige Aberkennung der staatlichen Autonomie Kaschmirs eine Präjudizwirkung ausüben könnte, falls es eine Zentralregierung gelüstet, einen Bundesstaat zu einem zweitrangigen Union Territory zu degradieren.
Lediglich in einigen Printmedien und Fernsehkanälen wird standhaft (und aus der Ferne) über den permanenten Lockdown Kaschmirs berichtet und über die Erosion von Indiens Staatsidee debattiert.
Nichts könnte die Arroganz der Modi-Regierung besser wiedergeben als die Art und Weise, wie sie das Datum des 5. August zu überspielen gedenkt. Am gleichen Tag, an dem sie vor einem Jahr mit dem Verfassungscoup eines ihrer beiden langjährigen Versprechen eingelöst hatte, will sie ein Jahr später das zweite umsetzen.
Heute legt der Premierminister in der Tempelstadt Ayodhya den Grundstein für einen prächtigen Tempel zu Ehren des Gottes Ram. Er soll, so will es der offizielle Mythos, genau an dieser Stelle geboren sein. Auch diese Forderung ist ein langjähriges Etappenziel auf dem Weg zu einem Hindu-Staat.
Pech für die Muslime, dass auf dieser Parzelle eine Moschee (im Weg) stand. 1992 war sie von einem aufgepeitschten Mob gestürmt worden. Und doppeltes Pech für sie, dass das Oberste Gericht vor einigen Monaten sein endgültiges Ayodhya-Urteil gefällt hat. Es lautet, dass die Muslime zwar einen gültigen Rechtsanspruch auf den Boden haben; dass aber die religiöse Überzeugung der Hindu-Mehrheit mehr Gewicht hat. Zu einem majoritären Staat gehört auch eine majoritäre Justiz