Es waren drei Tagen herzlicher Einfachheit, wie sie der Rumantschia zu eigen ist. Kulturminister Alain Berset eröffnete begeistert. Die Singspiel-Oper von Giovanni Netzer und Gion Antoni Derungs namens „Apocalypse“ hatte Premiere.
Fotos von Modellen, Computersimulationen haben ihn gezeigt, den Turm. Sein rascher Zusammenbau innert weniger Wochen auf 2300 Metern über Meer hat die auf Papier und online unfassbaren Dimensionen ahnen lassen. Die sichtbare, greifbare Wirklichkeit des dreissig Meter hohen falunroten Fünfecks, das in den blauen Himmel ragt, übertrifft alle Prognosen: Verwunderung darüber, was das Auge schaut, Ergriffenheit über den im Bergtal erdachten Holzbau, geschaffen und vollendet ebenda: ungläubiges Staunen, unbändige Freude erfassen einen, der Origen während der ersten zwölf Jahren begleitet hat.
Solche Gefühle sind an diesen Eröffnungstagen in den Gesichtern der Menschen zu lesen, werden von Einheimischen und Auswärtigen formuliert: von Bauern und Schreinern, von Hoteliers und Intellektuellen, jungen und alten Frauen.
Wahrzeichen der Schweiz
Um den neuen Turm herum gehend, hoch schauend, auf die Jahrmillionen alten Berge daneben, darüber, rundum: Es erfasst den da unten auf dieser Passweide Stehenden etwas zwischen Wunder und Wahn. Wie ist ein Werk dieser bisher unbekannten geistigen und baulichen Dimension möglich?
Es ist nicht einfach nur konsequent, dass ein pionierhaft schöpferischer Kopf wie der Origen-Gründer und Intendant Giovanni Netzer die Tat vollbringt, dass er sagt, nichts sei für die Ewigkeit, auch in diesen Bergen nicht, in denen Nachdenken über die Ewigkeit leichter falle als in Städten. Es ist das Wagnis eines enormen Risikos, das einzugehen ein Scheitern einschliessen könnte. Gegen die Vergänglichkeit alles Menschlichen geht Origen dieses Risiko ein. Ein Wahrzeichen der offenen Schweiz, ein Symbol für die Modernität dieses Landes.
Kaum einer kennt den Julier von Hunderten Querungen in allen Jahreszeiten so gut wie er, keiner sonst ausser ihm hat hier schon eine Theatertribüne erstellen lassen: Netzer weiss genau, wovon er spricht, und er handelt danach, ohne zu zaudern. Er holt die besten Leute, um aus seinen Modellen Ingenieurskunst und materielle Substanz entstehen zu lassen.
Und doch: Die Zeit ist abgezählt für den Turm. Alles wird gemäss komplizierten Verträgen mit 14 Ämtern „renaturiert“ werden, besser begrünt als es je war, seit Menschen da oben Tempel und Kioske bauen oder WM- und Olympia-Werbetafeln hinstellen. Was ist das Papier wert, auf dem solches geschrieben steht, im Windhauch von Endlichkeit und Dauer, diesem Wind, der auf Pässen erfrischt wie nirgendwo sonst. Im Tal sind schon die ersten Stimmen zu hören: „Der Turm bleibt, wir brauchen ihn!“ Von Hochkultur unbeleckte Sursetters begreifen plötzlich, was Origen für sie bedeuten kann: Nicht nur die Herkunft aus romanischen Wurzeln am Transitweg pflegen, wie bisher in der Burg Riom, jetzt auch auf dem Pass, nein da ist ebenso die neue Chance einer Zukunft mit wirtschaftlichen Perspektiven: „Wir müssen nicht immer nur auswandern, um zu überleben! Giovanni macht uns Mut, öffnet Perspektiven“, meint ein Alteingesessener.
Risiko, Identität, Offenheit
Gemeindepräsident Leo Thomann sagte es vor den Standesvertretern und vor dem Kulturminister aus Bern handfest: „Es werden Arbeitsplätze geschaffen. Die Origen-Kultur erbringt schon seit Jahren Leistungen, die dem Tourismus als wichtigstem Wirtschaftszweig Impulse geben. Der Theaterturm wird weiter dazu beitragen.“
Der Schweizer Kulturminister Alain Berset gab in seiner Rede auf der runden Schwebebühne persönlicher Freude Ausdruck, zum Teil freier Improvisation. Stumm wie ein Turm stehe er vor der „Erst-August-Rede namens Julierturm“, die Worte erübrigen sich angesichts seiner Kraft als Metapher für die Schweiz, die Schweiz mit ihrer Fähigkeit zum Austausch. Auf Französisch fuhr er fort: „Le message de cette incroyable oeuvre est une invitation aux confidences dans la richesse linguistique. La Suisse n'est pas seulement le pays des volontés (‚die Willensnation‘) mais aussi le pays des traducteurs, des facteurs entre les langues et les cultures.“
Der Turm wende sich an die ganze Schweiz, fuhr der Bundesrat fort. Er sei ein Bekenntnis des europäischsten Landes mitten in Europa: „Verflechtung und Abgrenzung sind unsere Identität, verflochten mit der Welt, reformfähig bleiben, nicht abschliessbar werden.“
Am zweiten Tag des Eröffnungsreigens, dem 1. August, fasste es der oberste Kapuzinerpater, Generalminister Mauro Jöhri, der selbst aus Bivio stammt, in die unübertrefflich klaren Worte: „Identität ist kein Gegensatz zu Offenheit. Wer weiss, woher er kommt und wer er ist, braucht keine Angst zu haben, sich selbst zu verlieren, wenn er offen ist.“
Bergwelt deutet Bühne
Die wichtige Welt der Sponsoren, die Politik, die Menschen des abgelegenen Bergtals Surses übergaben durch ihre Präsenz den neuen Turm Origen zu treuen Händen, auf dass Bühne und Welt eins werden. Oder wie Alain Berset mit Blick nach oben und ins Rund erkennt: „Es gibt keine Zuschauer mehr. Das Publikum wird zu Handelnden.“ Und, so möchte man beifügen: Die Künstler werden Zuschauer in diesem Fünfeck von Theaterraum zwischen zehn dreissig Meter hohen Türmen. Sie haben keine Seitenabgänge in die Kulisse – die Bretter der Bühne sind die Welt, die Bergwelt schaut auf die Bühne. Das Publikum schaut aus seinen Logen in den Abendhimmel. Die Landschaft ist gewollt im Bau drinnen. Alles deutet einander gegenseitig.
Reduktion aufs Wesentliche
Schliesslich die künstlerische Premiere. In markantem Unterschied zu den Guckkasten-Opernhäusern haben alle Besucherinnen und Besucher Logenplätze. Im Rücken hohe Bogenfenster, grösser wie in einer altrömischen Basilika. Die Fenster lassen Tageslicht oder Mondschein herein, bieten beim Hereinkommen Ausblick in die Weite, auf eine nahe Felswand oder auf den Juliersee, ebenso auf Strasse und Autos oder auf den Goldfinger, den letztjährigen Probeturm, jetzt mit Ausstellung.
Apokalypse: Weltuntergang, gewiss, nach dem fünfsprachigen Textbuch aus der Offenbarung des Johannes. Indes ist das Werk, vor zwölf Jahren für Origen als grosser Bogen komponiert und damals wie heute so wundervoll von herrlichen Stimmen gesungen, dass niemand Angst haben muss vor den letzten Dingen, schon gar nicht im Schutze des Julierturms. Gion Antoni Derungs hat die Singspiel-Oper auf Anregung Giovanni Netzers vor zwölf Jahren als allererstes Werk für Origen geschrieben. Dem bedeutenden Schöpfer geistlicher Musik dürfte die jetzige, unerwartete Rückkehr zur Schlichtheit der Uraufführungsinszenierung vor zwölf Jahren gefallen haben.
Im Programmbuch für die erste Spielzeit im Turm werden Kostüme von Martin Leuthold angekündigt. Diese barock-modernen Kreationen waren anprobiert, in Kälte und Hitze ausprobiert. Sie wurden wenige Nächte vor der Generalprobe vom Intendantenregisseur samt seiner szenisch-tänzerischen Gestaltung verworfen. Dies nach reiflicher Abwägung, in der Erkenntnis, dass die neue Bühne räumlich nicht für eine Grosszahl von 21 Sängern und Tänzern in bunten Kostümen geeignet ist.
Dieser Entscheid für schwarze Hemden, Blusen, Hosen sowie Bewegungslosigkeit der im Kreis Stehenden, 16 chorisch wie solistisch Singenden geht beinah hinter die liturgische Dramaturgie der Uraufführung vor zwölf Jahren in der Martinskirche Savognin zurück. Die Reduktion ist für die Besucher der drei Premieren eher zu goutieren als in allen späteren Performances: Sie haben eine je für Origen kreierte Wiener und Moskauer Choreografie genossen samt dem Welttanzstar Sergei Polunin. Nachvollziehbar ist Giovanni Netzers inszenatorische Wende als totale Reduktion auf das Wesentliche, die dem Bündner Künstler zutiefst eignet.
Das Wesen des Werks ist die Vielsprachigkeit, die Musik, der Gesang. Das kommt in hoher Vollendung herüber und herauf im Turm. Der Turm ist nicht nur Volumen, er strahlt aus, er lebt. Es ist der Raum, der in dieser ersten Hochsommer-Saison für entgangenes Schauspiel entschädigt. Spannung und Vorfreude auf die zweite Performance im September bleiben erhalten: Herodes von Netzer/Schostakowitsch mit exquisiten Sängern und Tänzern.
Eine Million fehlt
Zur Finanzierung fehlt nur noch eine Million Franken: ein Sechshundertstel dessen, was Deutschlands neues Wahrzeichen, die Hamburger Elbphilharmonie, mehr kostete als geplant. Die eine Million ist etwa ein Drittel der Gesamtkosten des Julierturms. Graubünden steht in der Pflicht: Der positive Wagemut eines Tüchtigen darf nicht bestraft werden, er ist endlich in Grandezza und mit Geld vermehrt öffentlich zu tragen, mit Bündner Stolz! Wenn man sich des Werks schon rühmt, dieses Turms auf der Passhöhe – des neuen Wahrzeichens der innovativen Schweiz.