Leid und Trost liegen sehr nah beisammen in diesem, eher einem Oratorium als einer Totenmesse verwandten, gewaltigen Werk für grossen Chor und Orchester sowie zwei Solisten. Der gläubige Lutheraner Brahms folgte dabei nicht dem Ablauf und den lateinischen Texten eines katholischen Requiems, sondern wählte, sehr sorgfältig und in jahrelanger, skrupulöser, eigener Zusammenstellung, Bibelworte aus der Lutherbibel und dem Neuen Testament.
Überlebende im Fokus
Tragender inhaltlicher Pfeiler ist der Ausgangspunkt, dass hier nicht die Toten, sondern die Überlebenden im Fokus stehen. Brahms selber schrieb, er habe mit seiner Trauermusik eine „Seligpreisung der Leidtragenden“ vollendet. Er begann mit dem 7-sätzigen Werk einige Jahre vor dem Tod seiner Mutter 1865 und vollendete es 1867. Die Uraufführung fand 1869 in Leipzig statt und wurde – vor allem in den Augen der Fachwelt – ein ungeschmälerter Erfolg. Das Werk ist vieldeutig und gewaltig in Anlage und Struktur, oszillierend zwischen musikalischen Strukturen der alten Meister und hochromantischer, harmonisch raffiniert verschlungener Linienführung ein Werk, das man am besten gleich mehrere Male hört, um es auch nur ansatzweise erfassen zu können.
Und genau hier können wir heutzutage dankbar sein für die hochentwickelten Telekommunikationsmöglichkeiten. Denn obwohl das Direkt-Streaming der Zürcher Oper mit dem 8. Februar abgelaufen ist, ist die Übertragung weiter bis zum 14. Februar auf arte tv im Replay zu sehen, ausserdem, für ganz Europa, in der Mediathek „arte concert“.
Dirigent mit Charisma
In Angriff genommen hat die Aufführung des Werks, das einen gewaltigen Apparat erfordert, der neue, designierte Generalmusikdirektor der Zürcher Oper, der im September dieses Jahres sein neues Amt in Zürich antreten wird.
Der heute 56-jährige italienische Dirigent und Pianist, schon mehrfach ausgezeichnet und seit 2017 Leiter des National Symphony Orchestra in Washington, DC, wagte sich mit nur 22 Jahren schon einmal an das grosse Werk und hat es sich seitdem ganz zu eigen gemacht.
Wenn er am Pult steht und mit weit ausholenden, feurigen Gesten den Apparat des gesamten Opernhaus-Innenraums zusammenhält, gleichzeitig aber auch kleinste Nuancen herausarbeitet, erinnert er in seiner hingegebenen Konzentriertheit sowohl an Nikolaus Harnoncourt als auch an Nosedas Vorbild, den unvergesslichen Carlos Kleiber.
Surreale Szenerie
Das Bild, das uns mit Blick von der Bühne in den Zuschauerraum überrascht, ist fast surreal und man glaubt sich in einem Magritte-Gemälde gefangen: Im sonst leeren Parkett positionieren sich mit vorgeschriebenen Abständen die Frauen, in den oberen Rängen die Männer des Zürcher Opernchores und Mitglieder der Zürcher Sing-Akademie, oben einzeln auf die Logen verteilt.
Auch die beiden grossartigen Solisten, die deutsche Sopranistin Lydia Teuscher und der udmurtisch/russische Bariton Konstantin Shushakov, mischen sich – bei gebührendem Abstand – unter die Choristinnen im Parkett.
Die sorgfältige Choreinstudierung lag in den Händen von Chorleiter Ernst Raffelsberger. Das grosse Orchester der Philharmonie Zürich ist, je nach Möglichkeiten des Instruments mit oder ohne Atemschutz, auf der gesamten Bühne verteilt, von wo aus der Dirigent auch dirigiert.
Und wenn der unfassbar klare Sopran Lydia Teuschers den langsamen fünften Satz beginnt mit „Ihr habt nun Traurigkeit“ und der Chor entgegnet „Ich will euch trösten“, bricht unser aller Wissen um die vielen zu beklagenden Opfer der Pandemie in jeden Raum, aber die Musik lässt uns im tröstlichen Wissen: „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.“
Die TV-Übertragung ist weiter bis zum 14. Februar auf arte tv im Replay zu sehen, ausserdem, für ganz Europa, in der Mediathek „arte concert“.