Avetrana ist ein 7‘000 Einwohner-Nest in Apulien. Vor zehn Monaten fielen dort Zeitungsreporter und Fernsehjournalisten ein. Seither lässt das Städtchen nahe dem ionischen Meer die Italiener nicht mehr los. Keine Woche vergeht, in der nicht Sonderberichterstatter das Publikum mit Neuigkeiten füttern.
Dort in Avetrana verschwindet am 26. August letzten Jahres die blonde Sarah. Ist sie ausgerissen? Ist ihr Avetrana zu eng geworden, dort, wo es ausser neolithischen Gräbern und normannischen Steinen nur wenig gibt? Tage vergehen, keine Spur von Sarah.
Eigentlich hätte sie an diesem 26. August ihre Cousine Sabrina abholen sollen. Sabrina ist sieben Jahre älter als Sarah. Die beiden hatten sich am Vortag gestritten, doch dann wieder versöhnt. Jetzt wollten sie gemeinsam an den Strand fahren. Doch Sarah kommt nicht.
Niemand weiss etwas, niemand hat etwas gesehen
Die Polizei sucht mit Hunden die Gegend ab. Die Familien von Sarah und Sabrina werden verhört. Dutzende Bewohner von Avetrana werden einvernommen. Niemand weiss etwas, niemand hat etwas gesehen, niemand etwas gehört.
Auch der Onkel von Sarah, Michele Misseri, sucht nach dem verschwundenen Mädchen. Der 56jährige Michele ist Landarbeiter, ein einfacher Mann mit stahlblauen Augen. In einer Wiese findet er ihr Handy, doch die SIM-Karte fehlt.
Dann die Wende. Am 6. Oktober gesteht Michele, er habe Sarah getötet, die Leiche vergewaltigt und sie in einen Brunnen geworfen. Er führt die Polizei zum Pozzo. Dort liegt sie, die nackte Sarah.
Misseri kommt ins Gefängnis. Seine 54jährige Frau Cosima will „das Monster“, wie sie sagt, nicht besuchen. Sie reicht die Scheidung ein. Auch Sabrina, die Tochter, lässt ihren Vater fallen.
Jetzt kommentiert ein Heer von Soziologen, Psychologen und andern gescheiten Kommentatoren die abscheuliche Tat. Michele Misseri, ein einsamer Mensch, sei von seiner resoluten Frau kurz gehalten worden. Da habe er beim Anblick der schönen Sarah durchgedreht, sie in der Garage erwürgt und vergewaltigt.
Doch so war es nicht.
Die Polizei ermittelt weiter. Erste Zweifel kommen auf. Kann der eher schwächliche Misseri ein 15jähriges Mädchen mit einem Gurt erwürgen? Die einen Spezialisten sagen Ja, die andern Nein.
Cherchez l’homme
Weshalb eigentlich haben sich Sarah und Sabrina gestritten? Jetzt wird ein junger Mann verhört: Ivano R. Er hatte mit Sabrina ein Verhältnis. Doch jetzt interessierte er sich für die viel hübschere Sarah. Auch sie interessierte sich für ihn. Stritten sich die beiden wegen dieses Mannes?
Wollte Sabrina ihre Nebenbuhlerin aus dem Weg schaffen? Sabrina, schwarzhaarig und etwas dicklich, wird verhört, immer wieder. Sie verwickelt sich in Ungereimtheiten. Schliesslich wird sie festgenommen. In den Wochen vor Sarahs Tod tauschten Sabrina und der junge Mann Tausende SMS aus. Michele, Sabrinas Vater, macht plötzlich widersprüchliche Aussagen. Sabrina wird des Mordes angeklagt, sie bestreitet.
Die Untersuchungen gehen weiter. Wieder werden Dutzende von Familienangehörige und Bewohner von Avetrana befragt. Keiner weiss etwas, keiner hat etwas gesehen, etwas gehört.
Doch. Die Polizei verhört den Blumenhändlers Giovanni B. Er will gesehen haben, wie Sabrina und ihre Mutter ein blondes Mädchen ins Auto gezerrt haben. Jetzt wird die Mutter festgenommen. Sie bestreitet. Und der Blumenhändler sagt plötzlich, er hätte alles nur geträumt, er habe in Wirklichkeit gar nichts gesehen.
“Sag, du hättest sie getötet und vergewaltigt“
Michele, der den Mord gestanden hatte, wird freigelassen. Er kehrt, wie die Boulevard-Medien schreiben, ins „Haus des Todes“ zurück. In Mönchengladbach wird Vanessa C. einvernommen, eine frühere Angestellte des Blumenhändlers. Sie bezeugt, ihr früherer Chef habe ihr gestanden, er habe die Geschichte mit dem Traum erfunden.
Vorletzte Woche der Paukenschlag. Die Staatsanwaltschaft erklärt sich überzeugt, dass Sabrina und ihre Mutter gemeinsam Sarah umgebracht haben. Die Beweislast sei erdrückend. Das Motiv sei Eifersucht und möglicherweise ein Erbstreit. Sabrinas Mutter habe Sarah seit jeher gehasst.
Nach dem Tod von Sarah haben Sabrina, ihre Mutter, ihr Vater, der Bruder des Vaters sowie sein Neffe gemeinsam die Leiche weggeschafft.
Micheles Frau habe ihren Mann aufgefordert die Tat und eine Vergewaltigung zu gestehen. „Sag, du hättest sie getötet und vergewaltigt“. Michele habe sich geweigert. Schliesslich sei er eingeknickt. „Wenn ihr wollt, so sage ich es“. Er tat es, um seine Familie zu schützen.
Die halbe Stadt wusste es
Was auf den ersten Blick wie eine Geschichte für die Yellow Press aussieht, ist weit mehr.
Inzwischen haben weitere Zeugen bekannt, dass sie alles gewusst haben. „Das halbe Städtchen kannte die Wahrheit“, erklärt die Staatsanwaltschaft. Und keiner sagte etwas, keiner wusste etwas, keiner hat etwas gesehen, etwas gehört. Einige von ihnen haben bewusst falsche Angaben gemacht, unter ihnen die zwei Anwälte von Sabrina und der Anwalt von Michele. 15 Personen werden jetzt von der Staatsanwaltschaft angeklagt.
Apulien ist nicht Sizilien, doch sizilianische Gepflogenheiten herrschen auch dort. „Omertà“, die Schweigepflicht, ist für jeden sizilianischen Mafioso heilig. Wer der Mafia beitritt, schwört feierlich, die Cosa Nostra, ihre Mitglieder und ihre Verbrechen nie zu verraten“. Wer es trotzdem tut, soll getötet werden. Diese Omertà hat längst auf Nicht-Mafia-Mitglieder übergegriffen. Wer etwas über die Mafia erfährt, fürchtet sich vor ihrer Rache und schweigt. Wie die drei japanischen Affen: nichts gesehen, nichts gehört, nichts gesagt.
“Audi, vide, tace, si tu vis vivere pace“
Die Omertà hat schon früh Sizilien verlassen und auf weite Teile Italiens übergegriffen. Sie ist zum Leitmotiv vieler geworden. „Audi, vide, tace, si tu vis vivere pace“ heisst ein mittelalterliches Sprichwort. Höre, sieh und schweige, wenn du in Frieden leben willst.
Selbst wenn man Zeuge von Verbrechen wird, arbeitet man nicht mit den Behörden zusammen. Man löst die Probleme unter sich. Staatliche Autorität gilt vor allem im Süden als etwas Böses, etwas Störendes. Die Omertà ist seit langem ein soziokulturelles Leitmotiv. Sie hat weite Teile der gesamten Gesellschaft erfasst. Sie ist längst nicht mehr nur ein Phänomen von Verbrechersyndikaten.
Der Prozess gegen Sabrina und ihre Mutter wird im nahen Taranto stattfinden. Der Vater und halb Avetrana werden als Zeugen vorgeladen. Und wenn dann alles wieder anders wäre?
Michele Misseri, der Vater mit den stahlblauen Augen, sagte inzwischen vor Journalisten: „Im Gefängnis sitzen zwei Unschuldige. Ich habe Sarah ermordet, ich allein, mit diesen Händen. Niemand glaubt mir, ich hoffe, die Richter werden mir glauben“. Später erklärt er: „Ich werde auf dem Grab von Sarah eine Rose niederlegen.“
Stoff, aus dem Filme werden.