In einigen Tagen wird auch in den deutschsprachigen Buchhandlungen Arundhati Roys neuer Roman „Das Ministerium des äussersten Glücks“ aufliegen, gleichzeitig mit Übersetzungen in den übrigen grossen Sprachräumen. In Grossbritannen und Amerika ist das englischsprachige Original schon zwei Monate auf dem Markt und ist dort auf grosses Interesse gestossen. Dieselbe Resonanz lässt sich nun für den kontinental-europäischen Raum voraussagen.
Die gespannte Erwartung hängt mit der langen Zeitdauer zusammen, die seit Erscheinen ihres ersten Buchs vergangen ist. Es sind zwanzig Jahre her, seit Roy mit dem „Gott der Kleinen Dinge“ einen sensationellen Erstlingserfolg verbucht hatte. Er brachte ihr den Booker-Preis ein sowie den Ertrag von acht Millionen Exemplaren in über vierzig Sprachen.
Im Gegensatz zum zweiten Roman war der Erstling überhaupt nicht erwartet worden. Wir kannten Roy damals recht gut. Die junge, unbekümmert gutaussehende Frau, studierte damals an der liberalen Nehru-Universität in Delhi eigentlich Architektur. Aber gleichzeitig schrieb sie für ihren Freund, den damaligen Filmemacher Pradeep Krishnan Drehbücher, spielte in Kleinfilmen selber mit, gab Yoga-Unterricht und schrieb freche Artikel.
Angriffiger, poetischer Journalismus
Diese journalistischen Versuche konnten alle möglichen öffentlichen Anliegen artikulieren, die damals, nach der wirtschaftlichen und politischen Öffnung des Landes, junge Leute in Mengen auf die Strasse trieben. Ein erster Fokus wurde ihr Einsatz für Phoolan Devi, die „Banditenkönigin". Selber Opfer von Kastengewalt, musste sich diese vor Gericht gegen ihre „Vermarktung“ durch den Filmemacher Shekhar Kapur wehren. Roy engagierte sich derart ungestüm für sie, dass sie praktisch zu deren Gerichtsklägerin avancierte.
Dann erschien plötzlich „The God of Small Things“, die Chronik einer Familie in einem Dorf von Kerala, die sofort ein internationaler Publikumserfolg wurde. Hinter Roys angriffigem Journalismus verbarg sich offensichtlich auch ein poetisches Talent. Sie verband den Staccato-Stil ihrer Filmskripts mit einer blühenden Metaphernwelt, die an den magischen Realismus von Marquez und Rushdie erinnerte, sich aber mit ihrer femininen Sensibilität und Verletzbarkeit von diesen abhob.
Arundhati erhielt den Booker-Preis und war plötzlich ein internationaler Medienstar. Doch sie liess sich auf der Welle einer literarischen Sensation nicht forttragen. Im Gegenteil, sie nutzte den Starkult, um mit dessen Medienwirkung und Tantièmen dem Kampf gegen die Verzerrungen der staatlichen Entwicklungspolitik eine breite Öffentlichkeit zu geben.
Menschenrechte, mit Stiefeln getreten
Ihr erster, und jahrelanger, Einsatz galt den Opfern des Narmada-Staudamms, der zwar Wasser in die Trockengebiete von Gujerat führen liess, gleichzeitig aber Tausende von Dorfbewohnern ins Elend städtischer Slums vertrieb.
Mit Roys ikonischer Ausstrahlung wuchsen auch die Herausforderungen, denen sie sich stellte. In ätzend scharfen Essays schrieb sie gegen die indische Atombewaffnung an, gegen die Politik der Verbrannten Erde, mit welcher der Staat Ureinwohner vertrieb, um Platz für Bergbaukonzerne zu machen. In den letzten Jahren engagierte sie sich zudem gegen die militärische Besetzung Kaschmirs, wo im Namen der nationalen Sicherheit grundlegende Menschenrechte unter die Stiefel geraten sind.
Bereits Der Gott der Kleinen Dinge war im weitesten Sinn politisch gewesen. Aber die Politik verbarg sich in der Kritik an der keralischen Machismo-Kultur und dem Zwangscharakter verkrusteter Familientraditionen. Doch nach zwanzig Jahren Kampf gegen die Auswüchse staatlicher Gewalt lässt sich für Roy dieses Biest nicht mehr hinter Milieuszenen gesellschaftlicher Verzerrungen verstecken. Im neuen Roman wird es zur dramatischen Hauptfigur.
Kaschmir, brutal offen erzählt
Nun ist nicht mehr das idyllische Ayemenem der Schauplatz, sondern Kaschmir, dessen Folterkammern, Friedhöfe und Sandsack-Ausgucke. In eine zärtlich-scheue Liebesgeschichte eingebettet – wie schon im ersten Roman mit autobiografischen Bezügen – beschreibt Roy den Bürgerkrieg aus der Sicht der Aktivistin Tilottama aus Kerala und drei ehemaligen Studienkollegen der Nehru-Universität. Die Männer, im erotischen Bannkreis von Tilottama, leben auch im Bannkreis von Kaschmir: Ein Promi-Journalist, ein Geheimdienst-Offizier und ein Kaschmirer, der ebenfalls Architektur studiert hatte und in den Untergrund geht.
Die unterschiedlichen Perspektiven dieser vier Protagonisten zwingen die Autorin, den Konflikt mit brutal offenen Augen zu erzählen. Es ist die Geschichte der völligen moralischen Zersetzung der staatlichen Autorität Indiens, der zynischen Ausbeutung des Konflikts durch Pakistan, aber auch einer Volksbewegung, die angesichts der Brutalität des Staats selbst vom Gewaltkult infiziert wird.
Hier gelingt es Roy, ihre ausufernde Sprachmacht zu kontrollieren, indem sie sie an die eigenen Beobachtungen und Erlebnisse vor Ort festmacht. Die schiere Gewalt braucht lediglich genau beschrieben zu werden, um eine unheimliche barocke Grösse zu erlangen. Die Schilderungen der Friedhöfe und namenlosen Gräber, der Begräbnisprozessionen unter den Gewehrläufen der Besatzungsmacht sind wie ein Requiem, furchterregend und schön zugleich.
Idyllisches Leben auf dem Friedhof
Allerdings ist dieser „Roman“ in einen zweiten eingebettet, der Geschichte von einer/m Hijra – so heissen Transgenders in Indien – und ihrem Zuhause auf einem Friedhof in Alt-Delhi. Anjum hat sich dort niedergelassen, nachdem sie von ihrer Hijra-Famile ausgeschlossen worden ist. Sie umgibt sich mit anderen Randgestalten – Hijras, Krüppeln, muslimischen Quacksalbern, einem Sufi, einem jungen Dalit und einem ausgesetzten Kind, das sie adoptiert hat. Dank dem Friedhof werden sie von der Gesellschaft alleingelassen und leben so das beinahe idyllische Leben der Ausgestossenen.
Es ist offensichtlich, dass sich Arundhati diesen aufdringlich metaphorischen Schauplatz geschaffen hat, um zu zeigen, dass die wahre Menschlichkeit im heutigen Indien beinahe nur noch an den Rändern der Gesellschaft und ihren Opfern anzutreffen ist. Das übrige Delhi – die übrige Welt – wird beinahe nur als Karikatur wahrnehmbar, in der Gestalt korrupter Politiker, scheinheiliger Gandhianer, Hindutva-Schlägern, gestylten und gelangweilten jungen Frauen.
Es ist symptomatisch, dass die einzige glaubhaft positive Figur der grossen schlechten Welt – die schweigsame Tilottama – eine Frauengestalt ist, die am Ende ebenfalls auf dem Friedhof landet, ebenfalls mit einem ausgesetzten Kind. Es ist dieses Kind, das in einem aufdringlich symbolischen Schlussbild zur Hoffnungsfigur einer Revolutionärin verklärt wird, eingehüllt ins (Morgen-)Rot der kommunistischen Flagge.
Dass Tilottama ihr Zuhause auf dem Friedhof einrichtet, hat natürlich auch die dramaturgische Funktion, die beiden Romanteile miteinander zu verbinden. Aber die Koppelung wirkt künstlich und erfolgt erst ganz am Ende. Bis dann hat der Leser die schwierige Aufgabe, sich in den verschiedenen Erzählblöcken zurechtzufinden. Dies ist umso kniffliger, als nicht der grossartig komponierte Kaschmir-Teil die Erzählung anführt; dieser ist vielmehr in die Geschichte Anjums eingebettet und beginnt erst nach dem ersten Drittel des Romans.
Dies schmälert nicht nur das Lese-Erlebnis. Der fantastisch-„fabelhafte“ Teil mit seinen traumhaften Verzerrungen – irgendwo fällt das Wort „Macondo“ – bagatellisiert die unerbittliche Tragik von Gewaltverstrickung der Kaschmir-Kapitel. Alleingenommen hätten sie uns einen grossen Roman geschenkt. Nichts illustriert dies drastischer als der Titel des Buchs mit seiner nichtssagenden Ironie, hinter dessen Wortzauber sich ein politischer Keulenschlag verbirgt.
Arundhati Roys Roman „Das Ministerium des äussersten Glücks“ erscheint am 10. August im Verlag S.Fischer.