Der Spinner wird gern als eine Person charakterisiert, die der wissenschaftlichen Rationalität abschwört. Aber was ist wissenschaftliche Rationalität? Darüber herrscht alles andere als Einigkeit. Eins aber ist sicher: Wer sie als Keule verwendet, um auf den irrationalen Spinner einzuprügeln, verhält sich mindestens ebenso irrational. Der Spinner verdient eine verständnisvollere, deshalb aber nicht unbedingt legitimierende Betrachtung.
Die Grenzlinie zum Nichtwissen wächst
Der Spinner personifiziert ein erkenntnistheoretisches Problem, das uns im Fake-Zeitalter spürbar aufsitzt. Nach einem weitverbreiteten Selbstverständnis leben wir im Westen in einer „aufgeklärten“, säkularen, wissenschaftsdominierten Welt. Vorbei die Zeiten, in denen wir an Hexen, Dämonen, Einhörner, an astrale Einflüsse, Schutzgeister, Wundermittel und bösen Zauber glaubten. Wissenschaftliches Erklären hat mit solchem Aberglauben Aufwasch gemacht. So etwa lautet die Kurzform der offiziellen Wissenschaftsgeschichte. Aber es gibt eine Subgeschichte, in welcher der Aberglauben nicht überwunden, sondern verdrängt worden ist. Und Verdrängtes lebt bekanntlich hartnäckig weiter.
Das bedarf einer Erläuterung. Der wissenschaftliche Fortschritt ist ein ambivalenter Prozess. Er erweiterte in den letzten drei Jahrhunderten unseren Wissenskreis in einem gewaltigen Ausmass. Bekanntlich vergrössert sich aber mit dem Radius des Kreises auch sein Umfang, also die Grenzlinie zum Nichtwissen, zu Phänomenen, die wir (noch) nicht erklären können. Je mehr wir erklären, desto mehr erzeugen wir auch Erklärungs-Vakua. Und korrespondierend wächst das Bedürfnis nach dem Zusammenhang all dessen, was wir wissen. Daraus entsteht eine kognitive Dissonanz, die für nicht wenige Menschen kaum zu ertragen ist – selbst für Wissenschafter nicht.
Das schwarze Schaf der Aufklärung
Sie ist Symptom eines tiefen Paradoxes. Die Wissenschaft brüstet sich mit Erklärungspotenz, aber sie kämpft mit einem Sinndefizit. „Je mehr wir vom Universum verstehen, desto sinnloser erscheint es uns“, beschrieb Stephen Weinberg, eine der Koryphäen der Teilchenphysik, dieses Paradox. Ich deute den Satz so: Wenn man einen Sinn des Universums innerhalb des disziplinierten wissenschaftlichen Erklärungshorizontes sucht, findet man ihn nicht oder ist man zumindest nicht befriedigt von ihm.
Das gilt allgemein: Wissenschaft beantwortet nicht Sinnfragen. In diese Sinnleere springt der Spinner mit seinen wilden Erklärungen. Er ist sozusagen das schwarze Schaf der Aufklärung. Er interpretiert ihr Motto „Sapere aude!“ – „Wage es, deinen Verstand zu gebrauchen!“ – wörtlich. Er gebraucht seinen eigenen Verstand, auf eigensinnige Weise, und er schert sich nicht um Kants Vorschriften der „reinen“ Vernunft. Er pflegt seine „unreine“, von Idiosynkrasien durchsetzte Vernunft.
Parasit des Wissenschaftsfortschritts
Spinner sind Parasiten des wissenschaftlichen Fortschritts. Ihre Theorien gedeihen vermehrt im 19. Jahrhundert, mit dem Siegeszug der wissenschaftlich „disziplinierten“ Erklärweisen. Häufig handelt es sich durchaus um Akademiker, die sich allerdings in fremde Gebiete vorwagen. Sie suchen ihren oft wilden Spekulationen ein seriöses Gepräge zu geben, indem sie aus dem wissenschaftlichen Fundus das herausklauben, was sie gerade benötigen.
Dieses Von-Däniken-Syndrom lässt sich schon im 19. Jahrhundert beobachten. Zum Beispiel bei Ignatius Donnelly, dem amerikanischen Juristen und Autor des Buchs „Atlantis: eine vorsintflutliche Welt“ (1882). Eine Klitterung aus archäologischen, anthropologischen, geologischen, evolutionären Fakten und mythologischen Fabeln. Und ein überaus populärer Bestseller.
Der Paria der Wissenschaft
Dem Spinner eignet etwas Populistisches. Er gibt gern den Paria der Wissenschaft, den Gegner ihres Establishments, ihrer Eliten. Das kann an seiner Biographie liegen. Vielleicht vermochte er sich in einer Disziplin mit seinen Ideen nicht durchzusetzen und sucht nun aus Frustration Wege ausserhalb.
Vielleicht interessieren ihn Phänomene, für welche die „normale“ Wissenschaft kein Verständnis aufbringt. Das führt nicht selten durch ziemlich abgelegenes Terrain, im Unerklärten, Kryptischen, Paranormalen. Vielleicht hat der Spinner aber auch einen „holistischen“ Sinn- und Erkennnisanspruch, den die moderne disziplinierte Forschung nicht erfüllen kann – im Gegensatz etwa zur Religion, die ja immer beiden Ansprüchen gerecht wurde.
Der Wille zum Glauben
Weil die Religion aber heute, zumindest in technisch avancierten Gesellschaften, nicht mehr diese Erklär- und Sinnautorität ist, kann sich der Spinner quasi als ihr säkularer Nachlassverwalter definieren. Und er kommt damit einem „vor-aufgeklärten“ Bedürfnis der meisten Menschen entgegen, nämlich dem Willen zum Glauben.
Der amerikanische Philosoph William James schrieb in seinem Aufsatz „Der Wille zum Glauben“: „Objektive Evidenz und Gewissheit sind sicherlich schöne Ideale, mit denen es sich spielen lässt; aber wo sind sie zu finden auf diesem mondbeschienenen, von Träumen heimgesuchten Planeten?“ Die Wissenschaften mögen uns von tiefverwurzelten Überzeugungen und Aberglauben abbringen, aber es wird ihnen nie völlig gelingen. Menschen sind und bleiben Glaubenwoller.
Wiederverzauberung der Welt und Paranoia
Ein aktuelles Symptom dieses Glaubenwollens können wir in der schon fast seriellen Produktion von Büchern über die „Wiederverzauberung der Welt“ sehen: sozusagen eine Gegenbewegung zur rational-wissenschaftlichen Entzauberung. Wiederverzauberung ist allerdings problematisch. Erstens lässt sich ein erreichtes Wissensniveau nicht einfach rückgängig machen durch „gewollte“ Ignoranz. Und zweitens gleitet man leicht ab in Obskurantismus, Esoterik oder Pseudowissenschaft.
„Sinnsuche“ kann auch „Zuviel-Sinnsuche“ bedeuten. Sie geht dann stetig über in Paranoia und Apophänie, also in das Wahrnehmen von trügerischen Phänomenen wie etwa Gesichtern auf der Marsoberfläche, geheimen Botschaften in den Medien oder Konspirationen. Die Technologie des Trugs hat im Zeitalter des Internets ein beispiellos raffiniertes „verzauberndes“ Niveau erreicht, und der Verdacht ist nicht so abwegig, dass sie paranoiden Tendenzen Vorschub leistet.
Die Neigung zu Konspirationstheorien
Womit wir bei der Neigung des Spinners zu konspirativen Theorien sind. Man kann Theorien einteilen in solche mit ausgeprägtem Weltbezug und in solche mit ausgeprägtem Ich-Bezug. Spinner-Theorien schlagen in die zweite Sorte. Weil die Welt das ist, was dem Weltbild des Spinners entspricht, kann er den alllfälligen Widerspruch zu Tatsachen nicht durch falschen Weltbezug erklären, sondern nur durch andere Menschen, die sein Weltbild – letztlich sein Ich – stören. Infolgedessen spaltet sich für ihn die Menschheit nur in zwei Lager: Gefolgschaft und Verschwörer.
Eine gängige Rechtfertigung des Spinners greift zurück auf einen entsprechenden Typus in der Wissenschaft: den genialen Aussenseiter und Querdenker. Aber der wissenschaftliche Spinner sucht eine andere Sicht auf die Welt, abweichend von der gerade vorherrschenden. Und er weiss, dass „die“ Welt ihn korrigieren und widerlegen kann. Der hier skizzierte Typus des Spinners kennt dagegen keine andere Sicht. Sein subjektives Weltbild definiert „die“ objektive Welt.
Spinner und Bullshitter
In der Gleichsetzung von Welt und Weltbild treffen sich Spinner und Bullshitter, wobei sie sich in einem wesentlichen Punkt unterscheiden. Während der Bullshitter sich nicht um den Wahrheitsgehalt seiner Behauptungen schert, glaubt der Spinner unbeirrt an das, was er behauptet. Man muss ihn also nicht zum tausendsten Mal widerlegen wollen, denn jede Widerlegung ist für ihn ein Beweis, dass er recht hat. Man muss ihn deswegen auch nicht gleich pathologisieren.
Man muss sich den sozialen und kulturellen Bedingungen zuwenden, unter denen dieses intellektuelle Schattengewächs gedeiht. Und eine solche kritische Sicht nimmt auch die Wissenschaft und ihre Vernunft genauer ins Visier. Dafür müssen wir dem Spinner sogar dankbar sein.