Der sogenannte «Islamische Staat» hat in seiner jüngsten Online-Publikation «an-Naba᾽» Ratschläge zur Bewältigung der Corona-Krise gegeben. Auf einem Plakat (Faksimile in al-Arab 14.3.2020, S. 7) wird in sieben Punkte Auskunft gegeben, wie die Covid-19-Erkrankung zu verstehen und zu bestehen ist.
Es gibt keine Ansteckungskrankheiten
Ausgangspunkt ist die Zusicherung, dass es keine Ansteckungskrankheiten gibt, sondern dass der Mensch allein durch Gottes Willen krank werde. Daher gelte es, Gottvertrauen zu zeigen und sich – ergänzend zu Gottes Vorherbestimmung – einiger sinnvoller Verhaltensweisen zu bedienen: Beim Gähnen und Niesen den Mund zu bedecken, sich die Hände zu waschen, bevor man das Essgeschirr berührt, Töpfe und Wasserhähne bedecken und vor allem: Gesunde sollten nicht in ein Land der Epidemie ausreisen und nicht als Erkrankte wieder ausreisen.
Wie üblich unterlegt der «IS» diese Empfehlungen mit Zitaten aus der Prophetentradition. Zugleich führt der «IS» in seiner Wochenzeitung «an-Naba᾽» (elokab.site) unverdrossen Listen, auf denen ähnlich wie bei den Opferzahllisten zur Corona-Epidemie, die Toten gezählt werden, die die Opfer der Anschläge des «IS» in den jeweiligen «Provinzen des islamischen Staats» waren.
Kein kollektives Freitagsgebet mehr
Das Virus fordert die Religionen heraus, vor allem jene Religionen, die einen starken rituellen oder sozialen Bezug haben. Die kleine islamische Pilgerfahrt (umra), die jederzeit an der Kaaba in Mekka durchgeführt werden kann, wurde ausgesetzt. Schiitischen Pilgern wird das Pilgern zu den Schreinen der Imame und anderer Heiligen und das Berühren der Gräber und Grabkuppeln verboten. Das kollektive Freitagsgebet findet meist nicht mehr statt. Der «Ausschuss der grossen Gelehrten», das höchste autoritative islamische Gremium in Saudi-Arabien, hat die Moscheen bis auf die grosse Moschee in Mekka geschlossen. Der Gebetsruf solle die Gläubigen mahnen, zuhause zu beten. Auch Iran sagt die Freitagsgebete ab, und die Muslime in Singapur werden aufgefordert, eigene Matten in die Moscheen zu bringen.
Der Shutdown der Religionen betrifft auch den Islam, der sich in die Privatwohnungen zurückgezogen hat. Anordnungen zur Eindämmung der Ansteckungsgefahr im islamischen, religiösen Feld beruhen fast immer auf staatlichen Direktiven. Der Staat gewinnt so die Autorität über den Islam zurück, die er in den letzten Jahrzehnten verloren hat. Der Islam hatte sich in der Moderne im Wesentlichen als öffentliche Religion etabliert. Ihre Institutionen kontrollierten zugleich auch die Gestaltungen des Islam, die jenseits des öffentlichen Raums praktiziert wurden, etwa im Rahmen der frommen Verehrung von Heiligen und Mystikern an deren Grabstätten.
Die Sicht der puritanischen Tradition
Der Islam als Religionsgemeinschaft mit einem starken kongregationalistischen Charakter betont die Bedeutung der engen sozialen Interaktion für das Gelingen der Gemeinschaft. Puritaner wie die Wahhabiten oder die Taliban sehen die Gemeinschaft sogar als Teil der religiösen Heilsvermittlung. Der Einzelne könne sein persönliches Heil nur in einer Gemeinschaft gesichert sehen, sofern diese sich den moralisch-rechtlichen Ordnungen verpflichtet, die die Puritaner aus der islamischen Texttradition herleiten.
Die Gemeinschaftlichkeit drückt sich auch in körperlichem Kontakt aus, etwa beim Aufstellen zum Gebet oder beim Händeschütteln zum Beginn und Abschluss des Freitagsgebets. In der schiitischen und sufischen Frömmigkeit wird die Verehrung der Imame und Heiligen ebenfalls kongregationalistisch aufgefasst: die individuelle Verehrung vollziehe sich in der Gemeinschaft; ein ähnliches Ideal liegt auch den Hadsch-Ritualen zugrunde.
Der Kongregationalismus hat nicht nur durch die puritanischen islamischen Traditionen an Bedeutung gewonnen, sondern auch durch die Ausgestaltung des Islam als öffentliche Religion, als deren Vertreter sich zahllose islamische Organisationen, darunter auch die Muslimbrüder, sehen. Autoritative Auskunft darüber, ob und, wenn ja, wie dieser kongregationalistische Charakter der islamischen Frömmigkeit verändert oder eingeschränkt, ja unter Umständen sogar ganz aufgehoben werden könne, reklamieren auf der einen Seite die Muftis, auf der anderen Seite eben jene Organisationen und Verbände des «öffentlichen Islam».
Der Staat als Gewinner
Jetzt aber erfolgen Einschränkungen der islamischen Gemeinschaftsordnung nicht durch eine innerislamische Auslegung, sondern durch die Rationalität staatlichen Handelns. Hier droht – ähnlich wie in der jüdischen Tradition – der islamischen Autoritätsordnung ein massiver Bedeutungsverlust. Sie muss sich darauf beschränken, in den essentiellen Bereichen der islamischen Religion, nämlich im Kult, die Direktiven des Staats nachzuvollziehen.
Der Staat tritt damit an die Stelle der religiösen Institutionen, die bislang allein das Recht hatten, die Kultordnung zu bestimmen. Verschärft wird das Problem dadurch, dass die Räson staatlichen Handelns auf den Schutz des Lebens ausgerichtet ist. Damit steht ein Staatszweck über dem Kultgebot. Orthodoxe Muslime hingegen sind davon überzeugt, dass es eine Religionsräson gebe: der Schutz des Lebens sei Zweck der Religion und werde durch den Kult gewährleistet.
Doch waren es eben nicht die religiösen Institutionen, die die Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie vorgeschlagen und durchgesetzt haben, sondern der Staat. Und nicht selten widersprachen die religiösen Institutionen zunächst den staatlichen Direktiven. So unternahmen schiitische Institutionen nichts, als Zehntausende Pilger an den Heiligen Schrein in der Imam-Ali-Moschee in Nedschef pilgerten oder ihre Toten auf dem Wadi as-Salam-Friedhof bestatteten. In Saudi-Arabien konnten die Verantwortlichen die Schliessung der Heiligtümer in Mekka und Medina anfangs noch verhindern, doch inzwischen ist alles heruntergefahren, in Mekka gibt es nur noch einen «Notbetrieb».
Die Taliban und Corona
Die Taliban als ultraorthodoxe Puritaner haben hier einen entscheidenden Vorteil: da sie in ihren Machtbereichen religiöse Autorität und Herrschaftsgewalt gleichsetzen, können sie die Hoheit ihrer religiösen autoritativen Institutionen (u. a. Richter, Lehrer, Gelehrte) über die islamische Kult- und Gemeindeordnung aufrechterhalten und brauchen die Konkurrenz des Staats nicht zu fürchten.
Nach ihrem Dogma ist die Gemeinschaft nicht blosser Teil einer «afghanischen Nation», sondern vorrangig der Ort, an dem sich die religiöse Heilserwartung der Einzelnen verwirkliche. Damit die Einzelnen das Heil erlangen können, müsse sich die Gemeinschaft als Ganzes der (von den Taliban puritanisch definierten) religiösen Ordnung unterstellen (Rechtsauskunft zum Umgang mit dem Coronavirus im März 2020). Es sei die Bestimmung der Gemeinschaft, Gott feindlich gesonnene Handlungen zu verhindern, ansonsten drohten göttliche Strafen, die auch die Gottesfürchtigen treffen würden.
„Beispielhafte Lektion und mahnende Drangsal“
Die Covid-19-Erkrankung sei eine solche Strafe. So wie das Coronavirus ein Unglück und eine Plage sei, so sehr sei es auch «eine beispielhafte Lektion und eine mahnende Drangsal» für die Vergänglichkeit der Menschen und für die göttliche Aufforderung, zu ihrer angeborenen Natur zurückkehren und als verantwortliche Geschöpfe Gottes in den von ihm vorgeschriebenen Grenzen zu leben. Zugleich betonen die Taliban ihre Aufgabe, die Pandemie in Afghanistan, soweit es geht, zu begrenzen. Sie seien bereit, die Sicherheit internationaler Hilfsorganisationen zu garantieren, um «Nothilfe und medizinische Versorgung für mindestens 2 Millionen Menschen» sicherzustellen, wie es in einer anderen Erklärung der Taliban vom 30. März heisst (http://shahamat1.com).
Das Scheitern des politischen Islam
Anders als die Taliban werden die Organisationen des öffentlichen Islam und vor allem die islamistischen Diskurse wohl zu den Verlierern der Coronakrise zählen. Der saudi-arabische Journalist Abdallah Ibn Bijad al-Utaybi vermerkte jüngst in der Zeitung «asch-Scharq al-Awsat» mit Bezug auf die zahlreichen Rechtsgutachten (Fatwas), die von autoritativen Stellen zur Corona-Krise herausgegeben wurden: «Wie aufregend und überraschend ist der Wandel, der über die in einer Anzahl von arabischen Ländern von amtlicher Seite ausgestellten Fatwas hereingebrochen ist, in denen es um die Konfrontation mit dem gefährlichen Virus ging, handelt es sich doch um einen Diskurs, der bislang aus zahlreichen Gründen völlig unbekannt gewesen ist.»
Al-Utaybi, der sich für eine radikale Entpolitisierung der islamischen Institutionen in Saudi-Arabien stark macht und der ganz auf der Linie des Kronprinzen Muhammad Bin Salman ein vehementer Kritiker der Muslimbrüder und des politischen Islam ist, betonte, dass sich die offiziellen religiösen Institutionen mit bestimmten Ausnahmen vordem der Macht des Diskurses der Gemeinschaften des politischen Islam und ihren Symbolen in der einen oder anderen Weise unterworfen hätten. Doch nun müssten sie sich der Staatsräson unterwerfen, da der Staat allein den Schutz des Lebens garantieren könne.
Al-ʿUtaybī fügt hinzu: «Der Schutz des Lebens ist eines der wichtigsten Ziele der Scharia, wie zahllose Belege aus den ursprünglichen Quellen des Islam bestätigen. Daher ist alles, was das Leben der Menschen, ihre Gesundheit und ihre Genesung schützt, vorrangig gegenüber allem anderen. Zusammen mit anderen Regeln der Rechtsprechung und den Grundsätzen der Religion lässt dies keinen Raum für Zweifel, dass alles, was den Menschen schützt, über anderem steht.»
Die Corona-Krise als Säkularisierungsschub
Manche Islamisten versuchen, Gegensteuer zu geben, um die Diskurshoheit und eine gewisse Autonomie zu wahren. Sie reklamieren die Legitimität der Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie mit dem Hinweis darauf, dass die Massnahmen letzten Endes einschlägigen Empfehlungen des Propheten Muhammad entsprächen. Zudem seien viele der vorgegebenen Gesundheitsrichtlinien für Muslime normale Praxis.
Bisweilen flüchten sich einige Islamisten in verschrobene Verschwörungstheorien. Beides aber kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Corona-Krise die Gewichte in den islamischen Diskursen verschoben hat. Der alte Spruch der 1970er und 1980er Jahre «Der Islam, er ist die Lösung» beziehungsweise in seiner Langform «Es gibt nichts, was im Leben eines Muslims passiert, ausser dass seine Religion eine Lösung dafür hat» greift nicht mehr.
Der Staat hat an Autorität gewonnen, offen bleibt allerdings die Frage, ob er dem Erwartungsdruck standhalten kann. Die Corona-Krise verstärkt in der islamischen Welt den Säkularisierungsprozess, vor dem allenfalls noch orthodoxe Puritaner und ultraislamische Sekten gefeit zu sein scheinen.