Journal21: Sie haben unlängst ihren Botschafterposten in Berlin an eine Nachfolgerin übergeben und sind in Pension gegangen. Was hat Sie motiviert, sich für ein SP-Nationalratsmandat im Kanton Zürich zu bewerben?
Tim Guldimann: Ich bin noch arbeitsfähig und arbeitswillig. Ich habe meine diplomatische Arbeit immer als eine politische verstanden. So könnte ich mein politisches Engagement im Parlament fortsetzen. Ich bin überzeugt, dass der Blick von aussen, den ich in die politische Diskussion hineintragen könnte, wichtig ist für ein Land, das unter der Schizophrenie leidet zwischen der immensen Verflechtung mit der internationalen Umwelt und einer politischen Kultur, die allein auf die innenpolitische Perspektive fixiert ist.
Sie bleiben mit Ihrer Familie in Berlin und kandidieren als „Internationalrat“. Verstehen Sie sich mehr als Vertreter der Auslandschweizer oder als Vertreter des Kantons Zürich?
Beides. Ich bin einerseits Schweizer Bürger, der im Ausland lebt. Aber ich bin als Auslandzürcher auch meinem Heimatkanton verpflichtet. Ich bin in Zürich geboren, aufgewachsen und hier zur Schule gegangen. Ich bin auch nicht Quereinsteiger, sondern seit 33 Jahren Mitglied der sozialdemokratischen Partei. Ich habe während 10 Jahren Basisarbeit für die SP gemacht in Bern.
Für welche aussenpolitischen Ziele würden Sie sich im Nationalrat in erster Linie einsetzen?
Wichtig ist mir unser Verhältnis zu Europa. Es geht darum, aus der Sackgasse herauszukommen, in die uns die SVP mit der Masseneinfwanderungs-Initiative hineinmanövriert hat. Aber daran trägt teilweise auch die Regierung die Schuld, weil sie die Betroffenheit in der Bevölkerung über die Zuwanderung nicht ernst genommen hat.
Sie waren 2014 auch Berater von Aussenminister Burkhalter im Zusammenhang mit den schweizerischen Vermittlungsbemühungen im Ukraine-Konflikt. Ist dieses Berater-Mandat inzwischen beendet?
Ja, das war verbunden mit dem Schweizer Vorsitz der OSZE 2014 und ist inzwischen beendet.
Was hat die Schweiz mit ihrer Vermittlerrolle in diesem Konflikt erreichen können?
Die Schweiz kann eine sehr aktive und positive Rolle spielen, wenn sie das innerhalb einer internationalen Organisation tut. Damit nehme ich auch Stellung gegen die Illusion, die Schweiz könne allein auftreten als Vermittler und alle freuen sich, dass wir kommen. Die Schweiz spielt auch eine bedeutende Rolle in der Uno, was bei uns zu wenig wahrgenommen wird. Es war für unsere Rolle als OSZE-Vorsitzland im Ukraine-Konflikt gegenüber Moskau von Vorteil, dass wir nicht Mitglied der EU und der Nato sind. In dieser Rolle hat Aussenminister Burkhalter, der damals zusätzlich noch Bundespräsident war, am 7. Mai 2014 beim Gespräch mit Präsident Putin – ich war dort dabei – tatsächlich einen bedeutenden Erfolg erreicht. Putin hat bei diesem Treffen angekündigt, die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine anzuerkennen – und damit dann auch die Wahl des neuen ukrainischen Präsidenten Poroschenko. Das war zuvor nicht klar. Zumindest hat Putin den Besuch von Burkhalter zum Anlass genommen, diese Kehrtwende zu vollziehen.
Sie sind ein Kenner Russlands. Waren Sie überrascht über Putins militärische Interventionen in der Ukraine?
Ich habe sicher nicht damit gerechnet. Aber im Rückblick ist man immer schlauer. Ich sehe auch Fehler des Westens, Russland nach dem Ende des Kalten Krieges zu wenig zu respektieren und zu wenig in die Neuordnung Europas einzubeziehen. Das betrifft die neue Rolle der Nato, das betrifft Kosovo. Ja, Russland hat mit der Intervention in der Ukraine das Völkerrecht und den zentralen Grundsatz der europäischen Friedensordnung, nämlich die Unverletzlichkeit von Staatsgrenzen, gebrochen. Man muss also beide Elemente sehen. Das erste hätte man besser machen können. Das zweite ist die Völkerrechtsverletzung einer ehemaligen Supermacht. Vielleicht hätte man mit einer umsichtigeren Politik auf westlicher Seite das zweite verhindern können.
Zurück zu den Nationalratswahlen. Sie haben im Wahlkampf mehrmals die Klingen mit dem SVP-Kandidaten Roger Köppel gekreuzt. Glauben Sie, dass diese Auftritte ihre Wahlchancen erhöht haben?
Ich glaube ja. Im politischen Geschäft, im Wahlkampf geht es ja auch um Bekanntheit und meine Bekanntheit konnte ich damit bei den Wählern erhöhen. Es ging natürlich auch um den Inhalt. Man spricht ja in der Schweiz immer von der Konkordanz in der Demokratie, es heisst, man finde immer Kompromisse. Mich beunruhigt aber die Tatsache, dass das Schweiz-Projekt der SVP und das Schweiz-Projekt der SP viel weiter auseinanderliegen als das Deutschland-Projekt aller grossen Parteien in Deutschland. Die SVP will sich abschotten von Europa und stellt das Völkerrecht in Frage. Darüber können wir keinen Kompromiss finden.
Sie beobachten die Entwicklung in Deutschland zur Flüchtlingsfrage ganz aus der Nähe. Bundeskanzlerin Merkel hat soeben erklärt, dass sie weiterhin an ihrer Politik der offenen Tür festhalten will und die Festsetzung einer Obergrenze für die Zahl der Migranten ablehnt. Kann sie das politisch durchhalten?
Ich habe mir ihren Fernsehauftritt bei Anne Will angesehen. Sie hat gesagt: Machen wir uns doch nichts vor. Eine Obergrenze einhalten könnte man ja nur, wenn Deutschland die Grenzen schliesst. Das geht nicht. Das ist das eine. Das zweite ist: Sie hat mit ihrer Erklärung Anfang September, dass alle Flüchtlinge aus Syrien in Deutschland willkommen sind, den Zustrom noch verstärkt. Ich habe diese Erklärung zwar als humanitär konsequent und löblich empfunden. Ich fand sie aber auch gefährlich, weil Merkel sie nicht mit der klaren Ansage verknüpft hat, dass es sich um eine vorübergehende Ausnahmesituation handelt und sie hätte hinzufügen sollen: Wir müssend das ganze Flüchtlingsdispositiv von der Türkei und andern Nachbarstaaten Syriens aus so angehen, dass wir die Flüchtlingsströme wieder in geordnete Bahnen lenken können. Dass dieser Zusatz fehlte, ist gefährlich. Merkel sagte bisher immer, dass sie die Probleme vom Ende her denkt. Aber irgendwie befürchte ich, dass sie das dieses Mal nicht getan hat.
Was unterscheidet die Flüchtlingspolitik der Schweiz von derjenigen Deutschlands?
Zum Glück sind wir zur Zeit noch von derart massiven Zuströmen, wie sie Deutschland im Moment erlebt, verschont. Das zweite ist, dass wir die Länder im Westbalkan – Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien - als sichere Herkunftsländer bezeichnen. Damit unterscheiden wir uns von Deutschland, wo die Politik gegenüber diesen Ländern erst langsam korrigiert wird. Dadurch werden die deutschen Behörden mit zusätzlichen Asylverfahren belastet. Darüberhinaus sind unsere Verfahren über Asylentscheide allgemein schneller als in Deutschland. In Deutschland gibt es mehr Rekursmöglichkeiten.
Was sollte Europa als Ganzes tun, um die jetzigen Flüchtlingsströme einzudämmen. Gibt es dafür Rezepte?
Es ist sehr beunruhigend, dass sich jetzt auf den Winter hin die Lage in den Flüchtlingslagern der Region verschlechtert hat. Es gibt mehr Flüchtlinge und weniger Geld für die Hilfe. Jeder investierte Franken für diese Hilfe vor Ort lindert mehr Leiden als der Franken, den man für die Asyl- und Betreuungsverfahren bei uns ausgeben muss. Mit den Ländern der Region, insbesondere mit der Türkei müssen Absprachen im grösseren europäischen Rahmen getroffen werden. Die Türkei hat zurzeit zwei Millionen Flüchtlinge. Dabei gilt es Aufnahmefähigkeit und Aufnahmebereitschaft der Türkei zu stärken. Solche Schritte will sich der türkische Präsident Erdogan politisch und wirtschaftlich teuer bezahlen lassen. Deshalb ist eine Einigung mit ihm noch nicht zustande gekommen.
Was sind die dringendsten Probleme Verhältnis Schweiz - EU?
Wir spüren noch kaum die Auswirkungen der Annahme der Masseneinwanderungsinititive. Die bilaterealen Verträge garantieren uns ja immer noch den Zutritt zum EU-Markt. Wenn wir die Bestimmungen des neuen Verfassungsartikels buchstabengetreu umsetzen, ist dieser Zutritt gefährdet, weil wir damit die Personenfreizügigkeit aufheben und das diesbezügliche bilaterale Abkommen brechen. Die EU könnte vertragskonform mit der Guillotineklausel andere wichtige bilaterale Verträge kündigen. Das wird sie zwar wohl nicht konsequent tun, wahrscheinlich aber das eine oder andere Abkommen suspendieren, vor allem die Forschungszusammenarbeit. Auf jeden Fall wären aber die Beziehungen zur EU generell blockiert. Die EU verweigert Verhandlungen über die Personenfreizügigkeit. Wir kämen dann auch nicht in allen andern Bereichen gegenüber Brüssel weilter. Das betrifft die institutionellen Fragen und die angestrebten sektoriellen Abkommen , dazu gehören das Stromabkommen, die Finanzienstleistungen, den Chemiegüterhandel, die Landwirtschaft etc.
Sind sie, um aus dieser Sackgasse zu kommen, für eine neue Volksabstimmung über die Zuwanderung?
Es gibt drei Möglichkeiten: Erstens, wir führen den Befehl des Volkes in Sachen Zuwanderungsinitiative wortgetreu aus. Dann haben wir die Blockade mit der EU. Das würde zu eine massiven Verunsicherung für den Schweizer Produktionsstandort führen, weil dann absolut unklar ist, ob und inwieweit der Zutritt von der Schweiz aus zum EU-Markt offen bleibt. Dies hätte zur Folge, dass Arbeitsplätze aus der Schweiz abgezogen und kaum mehr neue Investitionen aus dem Ausland bei uns getätigt würden.
Zweite Möglichkeit: Der Bundesrat könnte, und diese Idee geistert in Bern herum, vorschlagen: Wir setzen die Zuwanderungsinitative für alle Drittstaaten um, während wir ihre Bestimmungen für alle EU- und Efta-Staaten vorläufig aussetzen, bis wir mit der EU eine Lösung ausgehandelt haben. Aber darüber will ja die EU nicht verhandeln.
Hätte die Regierung überhaupt die Kompetenz zu einem solchen Vorgehen?
Das wäre verfassungsrechtlich höchst problematisch. Selbst wenn das Parlament einem solchen Weg zustimmen würde, würde ich, wenn ich die SVP wäre, dagegen nicht das Referendum ergreifen. Eine solche „Lösung“ bietet der SVP die beste Steilvorlage, um jahrelang die Position zu bewirtschaften: „Bundesrat und Parlament betrügen das Volk!“.
Deshalb bin ich für die dritte Lösung. Die sogenannte Rasa-Initiative, die den Zuwanderungsartikel streichen will, sollte möglichst bald zur Abstimmung gebracht werden. Das könnte gut in der ersten Hälfte 2017 geschehen. Dabei sollte der Bundesrat einen Gegenvorschlag machen und einen provisorischen Verfassungsartikel unterbreiten, der besagt: Der Bundesrat wird eine umfassende bilaterale Lösung mit der EU aushandeln und dabei auch die anstehende Frage der Personenfreizügigkeit berücksichtigen. Mit diesem Artikel wäre der heutige Zuwanderungsartikel 121a zu ersetzen. Für die Annahme wäre, weil es sich um einen Verfassungsartikel handelt, auch ein Ständemehr erforderlich. Damit das politisch funktioniert, muss der Bundesrat aber gleichzeitig überzeugende Massenahmen für eine bessere Mobilisierung der inländischen Arbeitskräfte erlassen und die flankierenden Massnahmen verstärken, um das verlorene Vertrauen in der Zuwanderungsfrage wieder herzustellen.
So könnte man, falls ein solcher Artikel von Volk und Ständen angenommen wird, aus der Sackgasse herauskommen. Die EU ist ja nicht bereit, über das Freizügigkeitsabkommen zu verhandeln. Sie hat aber bereits einen Rahmenvertrag für alle Aspekte der bilateralen Beziehungen in die Diskussion gebracht.
Was machen Sie, wenn Sie am 18. Oktober nicht gewählt werden?
Ich habe zwar zwei vage Ideen im internationalen Bereich. Aber ich würde mich unmittelbar in Berlin in der Flüchtlingshilfe engagieren. Dort werden dringend Übersetzer gebraucht - für Arabisch, vielleicht auch für Russisch und, wenn ich mein Persisch auffrische, auch für das Dari der Afghanen. Die Flüchtlingsfrage ist derart brennend und komplex und geht uns Europäer alle an. Sie wird unsere Gesellschaften verändern. Hier interessiert mich die Praxiserfahrung.