Am 7. März 2021 stimmte die schweizerische Bevölkerung mit einer Mehrheit von 51.4% der Initiative zu, in die Bundesverfassung einen Artikel zum Verbot der Gesichtsverhüllung einzufügen. In der Abstimmung ging es um mehr als um die Möglichkeit, sich das Gesicht zu verschleiern. Hintergründig ging es um die Zukunft der säkularen Ordnung in der Schweiz.
Der neue Artikel 10a in der Verfassung, der das Verhüllen des eigenen Gesichts im öffentlichen Raum und an Orten, die öffentlich zugänglich sind oder an denen grundsätzlich von jedermann beanspruchbare Dienstleistungen angeboten werden, verbietet, wird als Ausnahmeartikel zum Art. 10, der das Recht auf Leben und auf persönliche Freiheit garantiert, verstanden.
Explizit wird bestimmt, dass niemand eine Person zwingen darf, ihr Gesicht aufgrund ihres Geschlechts zu verhüllen. Die Ausnahmen betreffen Orte, hier Sakralstätten, und Motive, hier «ausschliesslich Gründe der Gesundheit, der Sicherheit, der klimatischen Bedingungen und des einheimischen Brauchtums». Obwohl in der vorgängigen Debatte der Tatbestand, dass sich das Verbot vornehmlich auf jene Frauen bezieht, die sich nach einer von diesen als islamisch definierten Sitte das Gesicht in der Öffentlichkeit verschleiern, herausgestellt wurde, hat der Verfassungsartikel selbst keinen eindeutigen Bezug zum Feld der Religion. Lediglich durch die Setzung, dass «Sakralorte» von der Regelung ausgenommen seien, deutet den Religionsbezug an.
In der Debatte wurde hinlänglich klargemacht, dass das Verbot auf den Islam zielt. Dabei wurde geltend gemacht, dass die Gesichtsverhüllung das Symbol der Ideologie eines misogynen Islamismus sei, dass diese Ideologie ihre Einstellung mit dem Schleier ausdrücke, dass sie die Frauen hierdurch aus dem öffentlichen Raum ausgrenzten und dass ein Verbot der Gesichtsverschleierung muslimischen Frauen neue Freiräume öffnete. Zugleich würde es dem Islamismus eines seiner Propagandawerkzeuge entziehen und ihn damit politisch schwächen.
Die Umsetzung dieses neuen Verfassungsartikels dürfte den Behörden und Gerichten noch manches Kopfzerbrechen bereiten. Schon gibt es Befürworterinnen des Gesichtsschleiers, die argumentieren, dass der Islam zwischenzeitlich in der Schweiz heimisch geworden sei und dass für einige Musliminnen und Muslime der Gesichtsschleier nun Teil eines hiesigen religiösen Brauchtums sei. Zudem wird darauf hingewiesen, dass wie in Frankreich auch in der Schweiz Frauen den Gesichtsschleier zu einer identitätspolitischen Kategorie machen und nun den Schleier, neu das Tragen des Gesichtsschleiers, als Identitätsaussage neu semantisieren.
Die Zustimmung
Die Rate der Zustimmung unterschied sich nach geographischen und sozialen Gegebenheiten und macht deutlich, dass für die Zustimmung nicht ein bestimmtes Motiv ausschlaggebend war. Ja gesagt haben vor allem die frankophone und italienische Schweiz (mit Ausnahme der Stadt Genf), der ländliche Raum im schweizerischen Mittelland und jene Berggebiete, in denen es keinen grösseren Tourismus gibt. In den Metropolen und den Tourismusgebieten aber verweigerte die Bevölkerung mehrheitlich die Zustimmung.
Anders als bei der Abstimmung am 29.11.2009 über das Verbot, Minarette zu errichten, bedeutete das Ja zum Verhüllungsverbot keinen Sieg eines bestimmten Motivs. Die Abstimmung von 2009, an der 57.5% der Stimmenden Ja gesagt hatten, war eng mit einem fremdenfeindlichen, antiislamischen Motiv verbunden gewesen. Elf Jahre später versuchten die Initianten, die der rechtspopulistischen SVP angehören beziehungsweise nahestehen, an diese Stimmung anzuknüpfen. Dies aber misslang. Das Ergebnis fiel sehr knapp aus, und in den Kantonen, die 2009 und 2021 mehrheitlich für die Vorlagen stimmten, sank der Anteil der Ja-Stimmenden um durchschnittlich 8% (im Kanton Glarus sogar um 15.3%). Nur im eher linksliberal ausgerichteten Kanton Jura stieg der Anteil der Ja-Stimmen um fast 10%.
Säkularismus beruht auf einer Unterscheidung von Gesellschaft und Religion, wobei der Staat als neutraler Schiedsrichter agiert; er interveniert nur, wenn religiöse Akteure die Gewalt-, Rechts-, Steuerhoheit und andere Regalien des Staats in Frage stellen.
Der Laizismus hingegen stellt Religion in Opposition zum Staat, der den Ort der Religion in der Gesellschaft durch religionspolitische Massnahmen bestimmt sowie per Gesetz regelt und der die Religionen weitestgehend aus politischen und öffentlichen Institutionen fernzuhalten versucht.
Es waren also vornehmlich zwei Milieus, die sich für die Annahme der Initiative ausgesprochen haben: zum einen das wertkonservative Milieu ländlicher und kleinstädtischer Gemeinden im verdichteten Raum des Mittellands sowie jener Berggebiete, in denen der Tourismus eine untergeordnete Rolle spielt; und das linksliberale, laizistisch ausgerichtete Milieu in der Frankophonie. Da sich im Kanton Genf der Anteil der Ja-Stimmenden gegenüber der Abstimmung von 2009 um fast 9% vergrössert hat, darf dieser Befund auf die gesamte Frankophonie übertragen werden.
Natürlich trennen das laizistische Milieu im Westen und das wertkonservative Milieu in der Zentralschweiz Welten. Und doch erscheint es so, als gäbe es eine Allianz zwischen linksliberaler Verteidigung des Laizismus und wertkonservativer Exklusionseinstellung. Beide Seiten treffen sich dort, wo es darum geht, den Staat als Institution zur Durchsetzung religionspolitischer Massnahmen in Stellung zu bringen.
Weiterhin fällt auf, dass es eine Präferenz für die Vorlage der Initiative in mehrheitlich katholischen Gemeinden gegeben hat. Die statistische Korrelation zwischen Ja-Stimmenden und vorherrschendem katholischen Milieu deutet einen solchen Zusammenhang an. Einen sehr ähnlichen Korrelationswert ergibt sich für die Beziehung zwischen Ja-Stimmenden und dem Anteil einer sich als konfessionslos bezeichnenden Bevölkerung. Dies erlaubt die Hypothese, dass die Ja-Stimmenden mehrheitlich, aber keineswegs nur einem wertkonservativen, katholischen nichturbanen Milieu der Deutschschweiz und des Tessin und einem laizistischen Milieu der französischen Schweiz entstammten.
Das Bündnis des Laizismus mit dem Wertkonservativismus
Die Laizisten erachteten es als zwingend, dass der Staat rechtliche Regelungen gegen den Islamismus, für den symbolisch der Gesichtsschleier stehe, ergreife. Sie deuteten den Islamismus als eine geschlossene ideologische Vorstellung, die darauf ausgerichtet sei, die säkulare Ordnung der Schweiz zu untergraben. Immer wieder wurde behauptet, dass diese Ideologie von einer transnationalen Organisation des «politischen Islam» kontrolliert werde, die ihrerseits ein Netz von Islamisten steuere. Das Steuerungszentrum würden die Muslimbrüder bilden, die in Allianz mit den arabischen Golfstaaten und den Regierungsparteien in der Türkei Hegemonie über die islamischen Gemeinden in Europa zu erlangen suchten. Mit der Verteidigung der laizistischen (oder säkularen) Ordnung ging der Anspruch einher, mit dem Verbot der Gesichtsverschleierung einen Beitrag zur Bekämpfung sexueller Gewalt gegen Frauen und der Sexualisierung der Frau durch die patriarchalische Macht einer islamischen Religionsordnung zu leisten. Dieser Diskurs argumentiert betont universalistisch und erachtet den Islamismus als eine dem Universalismus der Aufklärung grundsätzlich widersprechende «Ideologie».
Die Wertkonservativen knüpften direkt an die Argumentation an, die 2009 zur Durchsetzung des Verbots, Minarette zu bauen, geführt hatte. Der Islam dürfe nicht den Anspruch erheben, in der Öffentlichkeit präsent zu sein. Jedwede Manifestation eines «politischen Islam» sei zu unterbinden. Die Gesichtsverschleierung habe als Symbol dieses politischen Islam, der wesensmässig radikal und extremistisch sei, zu gelten.
Hingegen gebiete es die Freiheit, dass sich Menschen direkt ins Gesicht sehen können. «Freiheit» wird hier durch den Bezug auf eine christlich-jüdische Tradition als Eigentümlichkeit, Ursprünglichkeit und Wesen des Volks «fundamentalisiert». Der Islam wird analog fundamentalisiert, indem er auf eine ihm eigentümliche Ursprünglichkeit reduziert wird. Diese repräsentiere sich im Koran und der Prophetentradition, die normativ bestimmen würden, dass der Islam in der Gegenwart die Antithese zur Freiheit sei. Dieser Diskurs argumentiert betont partikularistisch und stellt dem Islam die «eigene Identität» des Abendlandes respektive der Schweiz gegenüber.
Beide Diskurse nehmen gleichermassen den Staat in Anspruch, um ihr Problem zu lösen. Er wird aber nicht als Schiedsrichter in einem innergesellschaftlichen Konflikt angerufen, sondern als Exekutive eines Willens, den die Mehrheit der Bevölkerung teilt. Für die Laizisten ist dies weniger problematisch, da sie gemäss ihrer Ordnungsvorstellung den Staat als religionspolitische Institution begreifen, die dafür Sorge zu tragen hat, dass sich eine Religion nicht öffentlich-politisch betätigt.
Wie den Konflikt verorten?
Eine solche laizistische Position vertreten die Wertkonservativen nicht. Da aber auch sie den Staat in die Pflicht nehmen und ihn per Gesetz dazu zwingen wollen, eine religionspolitische Massnahme durchzusetzen und Zuwiderhandlungen zu sanktionieren, vertreten sie keine klassische säkularistische Haltung. Säkularismus hiesse hier, den Staat nicht zu einer Partei in einem Konflikt zwischen Religion und Gesellschaft werden zu lassen, sondern ihm die Rolle eines Schiedsrichters zuzuweisen. Was er in einem Konfliktfall zu tun habe, bestünde darin, Instrumente zur Konfliktregelung zur Verfügung zu stellen. Wenn also die Gesellschaft es als störend empfindet, dass gewisse islamische orthodoxe Gemeinschaften den Frauen teils durch massiven sozialen Druck nahelegen, einen Gesichtsschleier zu tragen, dann müsste der Staat der islamischen Religionsgemeinschaft dabei helfen, selbst diesen Konflikt zu debattieren und Lösungen vorzuschlagen. Erst wenn sich die islamische Religionsgemeinschaft einer solchen Debatte verweigerte und wenn das Ergebnis der Debatte eine trotzige Affirmation des Gesichtsschleiers wäre, müsste der Staat zu einem Runden Tisch einladen und versuchen, hier das Problem zu lösen.
Das ist natürlich umständlicher, als einfach ein Gesetz in die Verfassung zu schreiben; hingegen ist ein solches Vorgehen nachhaltig, da es die islamische Religionsgemeinschaft als zivilgesellschaftlichen Akteur anerkennt und in den Entscheidungsprozess einbindet. Und es entspricht dem säkularen Selbstverständnis, da erstens der Konflikt nicht als Konflikt zwischen Staat und Religion, sondern als Konflikt zwischen Gesellschaft und Religion definiert ist und da zweitens dem Staat so tatsächlich die Rolle eines Mediators zukommt.
Die Abstimmung über das Verhüllungsverbot ist daher gleichbedeutend mit einer Kritik an der säkularen Ordnung. Dieser wird misstraut, da es ihr nicht gelungen sei, die islamischen Gemeinschaften passend zu den Vorstellungswelten der Laizisten oder den der Wertkonservativen zu integrieren. Diese Haltung ist allerdings nicht postsäkular im Sinne von Jürgen Habermas, da sie sich nicht als selbstreflexive Distanzierung zeigt; vielmehr ist sie apologetisch, da sie den Staat als das eigentliche Gegenüber der Religion begreift. Daher wundert es nicht, dass dem Staat ein «politischer Islam» alias «Islamismus» gegenübergestellt wird. Es handele sich dabei um eine Ideologie, die Herrschaft anstrebe, also letztlich den Staat usurpieren wolle. Daher müsse der «politische Islam» respektive der «Islamismus» symbolisch und faktisch ausgeschaltet werden.
Islamismus als gemeinsamer Gegner
Die wertkonservative Haltung machte es sich leicht. Der Chefredaktor der NZZ, Eric Gujer, argumentierte (NZZ 19.02.2021): «Der Islamismus ist keine abstrakte, sondern eine reale Gefahr. In seinem Namen werden Menschen ermordet und drangsaliert. Sein Symbol ist die Vollverschleierung, die deshalb keinen Platz in einer freiheitlichen Gesellschaft hat.» Burka und Nikab seien «die Wahrzeichen einer totalitären Ideologie». An keiner Stelle erklärt Gujer, was es mit dem Islamismus auf sich habe, wer ihn vertrete und welche Politik gemeint ist. Der Ausdruck «Islamismus» funktioniert wie ein sich selbst erklärender Gattungsbegriff, ähnlich wie im 19. Jahrhundert das Wort «Semitismus».
Differenzierung war hier fehl am Platz. Alle Versuche, darauf hinzuweisen, dass ein solcher Gattungsbegriff unsinnig ist, mussten scheitern, da nur dann eine Gefahr beschworen werden konnte, wenn ein solcher Gattungsbegriff vorausgesetzt wird. So war es für manche plausibel anzunehmen, dass sich hinter dem Gesichtsschleier ein Terror verberge, der jeden im Land treffen könnte.
Den Verfechtern einer laizistischen Ordnung ging es weniger um eine verborgene Gefahr als um die Apologie der Freiheit, der Aufklärung und der Universalität von Werten. Das Verhüllungsverbot deuteten sie als symbolische Niederschlagung patriarchaler Strukturen, als Sieg über einen religiösen Radikalismus und als Prävention von religiöser Gewalt. Entscheidend war für sie das Argument, dass der Schleier die Würde der Frauen herabsetze, dass Frauen, die behaupteten, den Schleier freiwillig zu tragen, beargwöhnt werden müssten, dass der Sexualisierung der Frau durch den Schleier Einhalt geboten werden müsste und dass der körperliche physische Ausschluss der Frau aus der Öffentlichkeit, den der Gesichtsschleier repräsentiere, bekämpft werden müsste.
Dabei hatten die Laizisten ein moralisches Argument auf ihrer Seite: Fast genau 50 Jahre war es her, dass in der Schweiz auf Bundesebene das Stimmrecht für Frauen eingeführt worden war und dass die Abstimmung über das Verhüllungsverbot just einen Tag vor dem Weltfrauentag stattfand. Diesmal, so hiess es, sollte die Schweiz zeigen, dass sie eine Vorreiterin der Frauenbefreiung sei.
Säkularismus
In der Minderheit blieben jene, die eher aus einer postsäkularen Perspektive Gleichheit, Freiheit und solidarische Gerechtigkeit einforderten. Sie beharrten darauf, dass es «eine weltanschaulich neutralisierte und in diesem Sinne säkulare Ebene der Verständigung» geben müsse, auf der die Bedeutung der Religionen als ein Gegenüber der Gesellschaft anerkannt wird, auf der Religionen als Interpretationsgemeinschaften geschätzt werden und wo die Tatsache eine Rolle spielt, dass viele Menschen, die in die westlichen Gesellschaften eingewandert sind, Religionen als positives Bezugssystem pflegen. Sie argumentierten im Rahmen eines anderen Denkstils, der liberalisierend «Wirklichkeiten in Möglichkeiten übersetzt, Handlungsgrenzen in Handlungsoptionen, Substanzen und Wesenheiten in Funktionen, absolute Werte in Präferenzen».
An dieser Verständigung sollten auch die muslimischen Gemeinschaften teilhaben; sie sollten eingeladen werden, ihrerseits von dem Fundamentalisieren ihrer Zugehörigkeitsordnung Abstand zu nehmen und gleichfalls eine postsäkulare Distanzierung vorzunehmen. Kaum jemand betrachtete das «Nein» als Tolerierung oder gar Bejahung der Gesichtsverhüllung. Das «Nein» war ein säkularistisches Nein. Es blieb der Grundauffassung des Säkularismus treu, dass sich der Staat jedweder religionspolitischen Intervention zu enthalten habe, es sei denn, religiöse Institutionen oder Gemeinschaften verstiessen gegen das innergesellschaftliche Friedensgebot oder agierten gegen den Staat. Sachverhalte wie das Tragen eines Gesichtsschleiers bei islamisch-orthodoxen Puritanern sollten daher als partikulares Problem einer islamischen Religionsgemeinschaft bestimmt werden.
Die Gesellschaft, die mit dieser Gesichtsverhüllung mehrheitlich nicht einverstanden ist, darf zurecht von der Religionsgemeinschaft erwarten, dass diese sich mit dem Problem der Gesichtsverschleierung auseinandersetzt und verträgliche Lösungen für die Gesellschaft anbietet. Analog dürfte von der katholischen Kirche erwartet werden, dass sie das Problem des Zölibats und des Ausschlusses von Frauen aus dem Lehr- und Priesteramt ernsthaft debattiert und Lösungen hierfür anbietet. Im Gegenzug garantiert die Gesellschaft den Religionsgemeinschaften ihre innere Autonomie, ihre Partizipation an zivilgesellschaftlichen Belangen und einen Schutz vor etwaiger staatlicher Willkür.
Identitätspolitische Kritik
Allerdings mischten sich in die Argumente der Nein-Sager auch Geltungsansprüche einer identitätspolitisch ausgerichteten Einstellung. Dieser geht es weniger um die Sicherstellung eines säkularen Gleichgewichts von Gesellschaft und Religion, als um die Kritik der Macht, die sich in der Verbotsordnung zeige und die die Möglichkeit einer identitätspolitischen Selbstverortung von Frauen, die einen Gesichtsschleier tragen, verhindert.
Die Kampagne für ein Verhüllungsverbot wurde als Ausdruck einer machtpolitischen Beschneidung partikularer Identität bewertet. Der Gesichtsschleier wurde als symbolischer Ausdruck einer neuen identitätsbezogenen Bewusstheit semantisiert. Da die Identitätspolitik die Selbstbestimmung nach partikularer Identität gelten lässt, die gleichrangig auf religiöse, soziale, ethnische, generationelle wie geschlechtliche Marker beruhe, hebt sie die Grenze zwischen Gesellschaft und Religion auf.
Besonders präsent waren Vertreterinnen und Vertreter einer identitätspolitischen Verneinung des Verhüllungsverbots nicht. Sehr viel häufiger wurde den Neinsagern von den Jasagern der Vorwurf gemacht, eine identitätspolitische Haltung zu vertreten. Zudem würden sie sich nicht zugestehen, wie sehr sie von den Agenturen des Islamismus als "Handlanger» benutzt würden.
Anders als in Frankreich oder Grossbritannien war der Vorwurf der Islamophobie in der schweizerischen Debatte eher selten. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass im Unterschied zur Auseinandersetzung um das Verbot des Baus von Minaretten der Islam als Religionsgemeinschaft deutlicher von dem Konstrukt "Islamismus» abgekoppelt wurde. Zwar wurde diese Unterscheidung inhaltlich kaum eingehalten und wurden wie üblich Koran, Prophetentradition und islamische Geschichte als Argumente gegen die Vollverschleierung angeführt, doch gelang es den Befürwortern, den Eindruck zu erwecken, dass sie nichts gegen den Islam hätten. Zudem trugen prominente Befürworter islamisch klingende Namen, sodass die Öffentlichkeit vermuten durfte, die Ablehnung des Islamismus und seiner Symbole würde vor allem von Muslimen getragen. Mithin sah sich die Öffentlichkeit als Verteidigerin eines genuin islamischen Interesses. Unter diesen Umständen konnte der Vorwurf der Islamophobie nicht punkten.
Der Konflikt zwischen Laizismus und Säkularismus
Der Abstimmung über das Verhüllungsverbot unterlag ein bislang nicht gelöster Konflikt zwischen Laizismus und Säkularismus. Ähnlich wie in Frankreich zeichnete sich auch in der Schweiz eine temporäre, strategische Allianz zwischen Laizisten und wertkonservativen Verfechtern eines helvetischen Populismus ab. Letztere inszenierten die Auseinandersetzung als einen Kampf zwischen Staat und Islamismus, den sie als eine menschenfeindliche, ja faschistische Ideologie bewerteten. Einig waren sich beide Seiten in dieser Bewertung des Islamismus.
Zugleich gab es eine sachbezogene Allianz zwischen Säkularisten und Anhängern eines neuen, identitätspolitischen Kulturalismus. Es kann erwartet werden, dass Religion in diesem Streit eine zunehmend wichtige Rolle spielen wird, und da der Islam zurzeit als die offensichtlichste Erscheinungsform des Religiösen gilt, kann erwartet werden, dass die Abstimmung über das Verhüllungsverbot nicht die letzte Abstimmung zum Thema Islam gewesen ist.
Das Erstaunliche an dem Abstimmungsergebnis war, dass sich in den städtischen Agglomerationen der Deutschschweiz eine doch deutliche Mehrheit gegen die Initiative ausgesprochen und damit eine Lanze für eine säkulare Ordnung gebrochen hat.
Da die Religionspolitik allein der Souveränität der Kantone untersteht, ändert sich durch die Einfügung des neuen Artikels in die Bundesverfassung nichts. Die Kantone der französischen Schweiz werden weiter eine laizistische Politik pflegen, während vor allem die ehemaligen reformierten Kantone weiter dem säkularistischen Modell folgen werden.
Die katholisch ausgerichteten Kantone der Zentralschweiz und das Tessin werden die Abstimmung als Bestätigung einer spezifischen Partnerschaft der christlichen Religionsgemeinschaften mit dem Staat werten. Insofern ändert die Abstimmung nichts an den komplexen Beziehungen zwischen Gesellschaft, Staat und Religion.