Zwei Zugangsstrassen führen von der Route du Vin ins mittelalterliche Städtchen. Die eine ist knapp einen Kilometer lang, die zweite anderthalb. Ein paar schmale Strassen schlängeln sich zudem von Riquewihr in die Rebhänge hinauf; eine davon wird als Panoramaweg für den weissen Touristen-Tatzelzug genutzt. (Im Rücken stehen die bewaldeten Vogesen – jedes Jahr ein bisschen weiter hinauf abgeholzt und zu Rebbergen umfunktioniert. Dies, obwohl alle Winzer klagen, es gäbe zu viel Elsässer-Wein.)
Samstag, 11. Dezember, 10 Uhr: Es rollt. Politessen weisen den Cars eine Reb-Strasse zu, den Wohnwagen die „Zone Industriel“; wer im eigenen Auto anreist, sehe zu, wo er es abstellen kann. Die offiziellen Parkplätze sind bereits um elf rappelvoll.
Riquewihrs Hauptstrasse, die Rue Général de Gaulle, ist gut 300 Meter lang. Zehn Personen können im unteren Teil bequem nebeneinander gehen. Im oberen Teil wird es zu fünft eng. Denn mindestens 120 Verkaufsbuden sind hier, in einer kurzen Seitenstrasse und bei den ehemaligen Remparts aufgebaut.
16 Uhr: Wieviel Platz braucht der Mensch? 35 Cars reihen sich zur Parkschlange, Autos säumen die Zufahrtsstrassen dicht an dicht bis hinunter zur Route du Vin. Auch der Panoramaweg ist zugeparkt bis zum Wald hinauf. In jedem Auto sassen zwei bis drei Leute. In jedem Car zweifellos an die 25. Dazu noch die Camper. Rechne!
Selbstversuch. Einstieg ins Gewühl bei den Remparts, in der Nähe des untern Stadttors, über dem sich das Rathaus befindet. Erste Erkenntnis: Wehe, man flaniert gegen den Strom. Der fliesst zwar träge, aber gnadenlos dicht. An den Verkaufsständen Plüschviecher jeder Art und Couleur, Glitzerschmuck, Vin Chaud, Filzhüte (fait à main), Spitzen-Deckchen, Buschtrommeln und Kinderspielzeug. Dazu Lard paysan und Würste. Ich entdecke die hässlichsten Kerzen, die ich je gesehen habe: aus Wachs wild und grossblättrig geformte Blumen, knallviolett, pink oder hellgrün gefärbt. Zwei Schritte weiter sitzt in einer Bude eine lächelnde Frau aus Peru oder Ecuador. Sie strickt. Vor ihr dicke, farbige Kindermützen, Mäntelchen, Jacken, Handschuhe.
Ich biege ein in die Rue du Général, alle Häuser hier bezeugen unverwüstliches Mittelalter. Doch „normale“ Geschäfte findet man nicht mehr. Geschenkboutique reiht sich an Geschenkboutique, an Weinhandlung, an Souvenirladen, an Restaurant, an Winstub. Davor stehen jetzt die überreich verzierten cabanons. Das Angebot in den Holzhüttchen bleibt das gleiche wie auf den Remparts. Oder doch nicht ganz. Hier gibt’s Nougat artisanal – von pflugrädergrossen Brocken abzuschneiden - das Kilo à € 59.90. (Die geräuchten Wädli nebenan kosten pro Stück nur vier.) Oder diverse Sorten Pain d’Epice. Und natürlich Bredla – Weihnachtsguetzli - in allen Farben und Formen. Und Austern. Und Röstkartoffeln mit Wurstscheiben. Glühwein. Flammekueche.
Glück gehabt. Weder tropft der geschmolzene Käse vom Brot meines Nebenmannes auf meinen Mantelarm, noch trifft mich die heisse Brühe aus dem Pappbecher der Frau vor mir. Halbschritt um Halbschritt werde ich in die 5-Personen-Zone geschoben. Und muss fliehen. Ellbögle mich durch zur einzigen hier vorhandenen Seitenstrasse. Da ist Luft. Noch drei, vier Zuckerhäuschen am Rand, ganz hinten steht vor einem uralten, vergammelten Ziehbrunnen ein aufgeblasenes Plastikschloss. Für zwei Euro pro 15 Minuten dürfen Kinder hier hüpfen und toben. Vorausgesetzt, sie ziehen die Schuhe aus. Die Hintergassen sind nahezu menschenleer. Beim ehemaligen Zenthof der Strassburger Bischöfe, der mit der Gründung der Stadt Reichenweiher 1324 eingerichtet wurde, schiessen ein paar Touristen Fotos. Das havarierte, aber hochherrschaftliche Gebäude stammt aus der Renaissance. Pikantes Detail: Die Stadt gehörte über Generationen den Herzögen von Württemberg. Ebenso die umliegenden Weinberge. Diese allerdings waren zeitweise an den (auch nur zeitweise) wohlhabenden Aufklärer und Schriftsteller Voltaire verpfändet, der er einem der letzten Souveräne 500'000 Livres gepumpt hatte.
Schleichweg links, Schleichweg rechts, ich entkomme der Krone aller Weihnachtsmärkte und ihren Herrlichkeiten. Nur unten bei den Remparts kaufe ich doch noch ein Souvenir. Esperantines de Marseille - tief schwarze Schokolade mit Marzipan und Olivenöl. Sehr speziell. Und ganz und gar nicht weihnächtlich. Nur gut.