Etwas mehr als zwei Jahre im Amt, wird Chinas Partei- und Staatschef Xi Jinping von Diplomaten, China-Experten, Old China Hands, Pekinger Auslandkorrespondenten und assortierten Pundits bereits grundlegend neu eingeschätzt. So schnell verändern sich im digital Nachrichten-rauschenden Zeitalter die Zeiten.
Vor dem Parteitag im Herbst 2012 tönte es noch ganz anders als heute. Vor dem entscheidenden Partei-Powow, wo alle zehn Jahre die oberste Führung – der siebenköpfige Ständige Ausschuss des Politbüros – ausgewechselt und neu gewählt wird, wurde Xi im Westen zwar mit Fragezeichen dennoch aber hoffnungsvoll bereits als möglicher „Gorbatschow Chinas“ apostrophiert. Wirklichkeitsfernes, ideologisches Wunschdenken.
Mann des Aufbruchs
Nach den beiden Vorgängern, dem eher farblosen Hu Jintao (2002-2012) und dem konservativen Jiang Zemin (1989-2002) wurde Xi im internen Machtkampf aber auch ausserhalb Chinas als Mann der Zukunft, des Aufbruchs gehandelt. Nicht von ungefähr, denn China stand und steht nach 35 Jahren an der Schwelle eines neuen Reformzeitalters. Es gilt einen Übergang vom quantitativen zum qualitativen Wachstum zu finden, also vom Export- und Investitionsgetriebenen Wachstum zu mehr Binnennachfrage, mehr Konsum und vor allem zu mehr Innovation. Der wichtigste Grund jedoch für die schräge westliche Einschätzung Xi Jinpings: die persönliche und politische Vita des „roten Prinzen“.
Xi Jinping stammt aus einer der einflussreichsten Familien der Volksrepublik. Xis Vater, Xi Zhongxun, war ein vertrauter Kampfgefährte Mao Desedongs während des Guerillakrieges und dem antijapanischen Kampf in den 1930er und 1940er Jahren. Nach der Gründung der Volksrepublik 1949 stieg Xi Senior bis zum Vizeministerpräsidenten auf. Während der Grossen Proletarischen Kulturrevolution freilich liess Mao den erprobten Kampfgefährten ähnlich wie Staatspräsident Liu Shaoqi oder Generalsekretär Deng Xiaoping als „Kapitalisten“ fallen.
Lehre im Schweinekoben
Über ein Jahrzehnt lebte Xi Zhongxun unter Hausarrest. Xi Junior wurde wie so viele junge Chinesinnen und Chinesen damals „aufs Land hinunter“ geschickt, um von den Bauernmassen zu lernen. Der einst im revolutionären Pekinger Luxus lebende junge Xi fand sich in einer fernen Provinz im Schweinekoben wieder und lernte fürs Leben. Xi Senior wurde nach der Kulturrevolution 1978 rehabilitiert, arbeitete an der Seite des grossen Revolutionärs und Reformers Deng Xiaoping und wird heute zu den Acht Unsterblichen der KP gezählt. Xi Junior, so noch vor kurzem die westliche Lesart, hat daraus Schlüsse gezogen, die China eher hin zu westlichen Werten wie etwa Transparenz, wenn nicht gar Demokratie, und Rechtsstaat führen werden. Eine Rolle, wie sie kurz vor der Wende 1989/91 Michail Gorbatschow in der Sowjetunion gespielt hatte, trauten viele westliche Auguren Xi Jinping zu.
Doch kaum zwei Jahre nach Machtantritt wird Xi Jinping im Westen nicht mehr als „neuer Gorbatschow“ wahrgenommen. Die Einschätzung war historisch unkritisch. Zur Korrektur wird jetzt ebenso unkritisch ins entgegengesetzte Extrem gewechselt. Es sieht im westlichen Urteil mittlerweile fast so aus, als ob China wie einst unter Mao wieder rot wird. „Rotchina“, die antiquierte Bezeichnung aus den Zeiten des Kalten Krieges, wird – behält man nicht einen kühlen Analytiker-Kopf – bald wieder Courant normal.
Beim Volk beliebt
Partei-Supremo Xi Jinping hat sich in den letzten zwei Jahren nicht etwa verändert, sondern allenfalls weiterentwickelt. Bis jetzt hat er die Herausforderungen des nötig gewordenen Paradigmenwechsel der Wirtschaft erfolgreich angenommen. Der Reformstau löst sich, wenn auch langsam, auf, und das gegen mächtige, innerparteiliche Interessen von Privilegierten und konservativen Reformern. Xi hat offensichtlich das Politbüro und Zentralkomitee der allmächtigen Kommunistischen Partei überzeugt und hat nun von den konservativen Linken bis zu marktwirtschaftlichen Kräften breiten Sukkurs. Selbst mit dem abgeflachten, „qualitativen“ Wachstum – dem „Neuen Normalen“ – hat die Partei den wachsenden Mittelstand von rund 300 Millionen und die Wanderarbeiter von nochmals 250 Millionen als Rückgrat der chinesischen Volkswirtschaft hinter sich.
Beim Volk ist deshalb Xi Jinping so angesehen, gar beliebt wie zuvor nur Mao, Deng Xiaoping oder die populären Premiers Zhou Enlai und Zhu Rongji. Der „rote Prinz“ gilt als volksnah und einfach. Er hat sich bei den breiten Massen durch seinen Anti-Korruptionskampf gegen „Tiger und Fliegen“, also hohe, höchste und niedere Beamte einen Namen gemacht und damit, nicht zu vergessen, innerparteiliche Opposition im Machtkampf politisch kaltgestellt. Xi profiliert sich auch als der Mann des Aufbruchs. Mit seinem „Chinesischen Traum“ zur Erstarkung der Nation hat er sich im Inland klar gepunktet. Mit seinem „Traum von der Seidenstrasse zu Wasser und zu Land“ wiederum gewann er international politisches und wirtschaftliches Profil.
Erster unter Gleichen
Doch Parteichef Xi ist nicht mehr wie seine zwei Vorgänger Hu und Jiang im obersten Machtorgan Chinas, dem Ständigen Ausschuss des Politbüros, Erster unter Gleichen. Er ist wie zuvor in der Reformära nur Deng Xiaoping der unbestrittene Chef. Das verdankt er seinem pragmatischen Sinn für Macht. Mit Samthandschuhen hat er in den letzten zwei Jahren gewiss nichts angefasst, um seinem Ziel – ein mächtiges China, eine „Verjüngung“, gar eine „Wiedergeburt“ der chinesischen Nation, ein Volk in bescheidenem Wohlstand – zu erreichen. Im Gegenteil. Er hat unmittelbar nach dem entscheidenden Parteitag vom Herbst 2012 die Schraube angezogen.
In Kampagnen, die an Mao-Zeiten erinnern, versucht Xi das Volk hinter die Partei zu scharen. Im vergangenen Oktober zum Beispiel hielt er eine Kultur-Rede, die verdächtig ähnlich jener war, die Mao vor 70 Jahren während des antijapanischen Krieges in Yan’an gehalten hatte. Xi forderte die Künstler auf, den Sozialismus zu fördern anstatt „Sklaven des Marktes“ zu sein und sich Ruhm mit „vulgären“ Werken zu erlangen. Diese Einstellung wird gut auch im Werbealltag sichtbar. Neben Anzeigeposters für mobile Telefone, Fernseher, Filme und allerlei anderes sind immer mehr gut gestaltete, grosse offizielle Reklameflächen zu bestaunen. „Die Kommunistische Partei ist gut – das Volk ist glücklich“ heisst es etwa. Oder durchaus auch als praktische Anleitung gedacht: „Fahre weniger Auto – benutze das Fahrrad“ und weitere nützliche Dinge zum gesunden, friedlichen Zusammenleben mehr.
Politisch korrekter Schmalz
Auch in der Unterhaltung wird mit aufbauenden, oft spannenden und gut gefertigten Fernsehserien dem neuen Kunsttrend nachgelebt. Nicht zu vergessen auch parteikonformer Schmalz-Pop und Rock mit politisch korrekten Texten. Gemeinsames Absingen von Mao-Liedern ist zudem landesweit wieder gross im Kommen. Hier bedient die Partei nostalgische Rückbesinnung an „bessere Zeiten“, die – wie Xi Jinping aus eigener Erfahrung wohl weiss – nicht besser sondern schlimmer waren.
Für Intellektuelle, Forscher, Anwälte und Journalisten sind wieder härtere Zeiten angebrochen. Die Deutungshoheit der Partei mit ihrem Informationsmonopol wird seit Xis Amtsantritt rigider als zuvor durchgesetzt. Ebenso versucht die Partei mit neuester Technologie, die Offenheit des Internets in den Griff zu bekommen. Universitätsstudenten müssen erneut Marx, Engels, Lenin, Mao Dsedong und Deng Xiaoping büffeln. Die seit zwei Jahrzehnten weltoffener gewordenen Universitäten sollen mit ideologischen Gleichschaltungsversuchen wieder mehr auf die Parteilinie eingeschworen werden. Etwas zu liberale, d.h. kritische Universitätslehrer und Anwälte werden eingeschüchtert oder per Gericht mundtot gemacht.
Dokument Nr. 9
In vielen Kommentaren der Parteipresse werden „feindliche Kräfte aus dem Ausland mit versteckter Agenda“ angeschwärzt. „Westliche Gedanken und Bräuche“ heisst es immer wieder, hätten in China nichts zu suchen. „Patriotismus“ sei jetzt gefragt. Bereits im April 2013, keine sechs Monate nach Xis Amtsantritt, veröffentlichte die Partei das Dokument Nr.9 gegen die „universellen Werte des Westens“. Die Fortsetzung in Dokumenbt Nr.30 wendet sich gegen „liberale westliche Ideen“ und die „westlich inspirierte Auffassung der Pressefreiheit“. Dass auch Marx und Engels westlich sind und das chinesische Wirtschaftswunder nur dank westlicher Technik möglich geworden ist, wird selbstverständlich nirgends in China kritisch aufgearbeitet.
Der Rückgriff auf rote Mao-Zeiten sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Xi und das Politbüro die Zeichen der modernen Zeit im 21. Jahrhundert wohl gedeutet haben. Der Aufbruch ist für den Parteichef, obwohl nach etwas mehr als zwei Jahren im Amt schon ziemlich sattelfest, parteipolitisch indes noch nicht ausgestanden. Doch er hat die Initiative, so scheint es, fest in der Hand. Xi Jinping wird weder der „Gorbatschow Chinas“ noch der „neue Mao“. Er wird allenfalls der „neue Xi“. Die „Wiedergeburt Chinas“ liegt dem geschichtsbewussten Parteichef am Herzen, nicht aber die misslungenen Utopien des Gründervaters des modernen China Mao Dsedong.
Dialektischer Prinzling
Ebenso und womöglich noch mehr ist Xi und Genossen an der Fortdauer der roten Dynastie, beziehungsweise der Parteimacht gelegen. Ein Mitkämpfer von Xis Vater, Dengs Wirtschaftszar Chen Yun, hat es bereits in den 1980er Jahren abschliessend formuliert: „Das Land unter dem Himmel sollte eines Tages den kleinen Prinzen übergeben werden. Den Prinzlings können wir vertrauen, dass sie nicht das Grab für die Partei schaufeln werden“. Der „rote Prinz“ Xi wird es richten. Dialektisch, wie die offizielle Bezeichnung der chinesischen Volkswirtschaft so schön sagt: die „sozialistische Marktwirtschaft mit chinesischen Besonderheiten“.