‘Eine Person mag noch nie einen Tempel betreten haben, oder eine Moschee, eine Synagoge oder Kirche; er hat vielleicht noch nie eine religiöse Zeremonie absolviert. Doch wenn er Gott in sich spürt, steht er über den Verlockungen der Welt. Jeder Versuch, die Menschheit auf dieselbe Spiritualität festzulegen, ist aussichtslos. Was immer die Religionszugehörigkeit – wir sind alle Kinder Gottes, unsterbliche spirituelle Wesen’.
In meiner Buchhandlung in Bombay steht seit kurzem ein Büchertisch, übervoll mit Werken von und über Narendra Modi. Die meisten sind Biografien, auf den Titelblättern prangt der neue Avatar in Form einer mythischen Kampfgottheit – der Blick in die Ferne gerichtet, die Arme emphatisch ausgestreckt, anstelle von Helm oder Krone ein prächtiger Turban auf dem Kopf.
“Niemand ist unser Feind”
Unter den Büchern fand ich auch eines mit dem Titel ‘Die Idee einer einzigen Religion’. Aus dessen Vorwort stammt obiges Zitat. Sein Verfasser: Narendra Modi. Sogar eine Gedichtsammlung entdecke ich, mit Versen wie: ‘Keine Schranke zwischen/Hoch und Tief/Schaffen wir Tempel in unseren Herzen/Strahlen wir Licht aus!/ Niemand ist unser Feind/ Das ist unsere Eigenart/ Vermeiden wir Zwist/Schaffen wir Dialog!’ Der Titel des Gedichts: ‘Das Lied eines Hindu’. Sein Verfasser: Narendra Modi.
Inzwischen reibt man sich nicht einmal mehr die Augen bei diesen kleinen Trouvailles. Seit bald zehn Jahren werden wir mit Modi-Botschaften bombardiert, die widersprüchlicher nicht sein könnten. Einen ‘Händler des Todes’ nannte ihn Sonia Gandhi, einen ‘modernen Nero’ der Schriftsteller William Dalrymple, Beide bezugnehmend auf die muslimfeindlichen Ausschreitungen, die im Februar 2002 unter den Augen des neugebackenen Regierungschefs von Gujerat wüteten. Für die Einen ein sorgfältig geplantes Pogrom, war es für Modi ein naturgesetzliches Ereignis, denn: “Jede Aktion löst eine Reaktion aus”.
Er tut Gutes und spricht davon
Ein Jahr lang noch gebärdete sich Modi damals als Muslimfresser, doch dann verschwand die Hassrhetorik. Er wurde zum gerechten, hart arbeitenden Landesvater und machte aus Gujerat einen Vorzeige-Staat. Die Landwirtschaft, im übrigen Indien ein Auslaufmodell, wuchs jährlich um neun Prozent, ein Netz geteerter Strassen verband entlegene Dörfer, ebenso wie neue Stromleitungen, Industrie-Investitionen flossen. Modi tat Gutes – und sprach davon. Er wurde zu einem Meister-Kommunikator, der jede Leistung, real oder erhofft, sofort multimedial streuen liess. Selbst die Totenstille aus den Reihen der eingeschüchterten Muslim-Minderheit wurde zum PR-Event: Seht her, hier herrscht Religionsfrieden!
Gujerat wurde das Trainingscamp für Modis Griff nach der Macht im ganzen Land. Er machte sich die Entmutigung und Führungsschwäche seiner Partei, nach zwei aufeinanderfolgenden Wahlniederlagen, zunutze, und bot sich als deren Retter an. Er organisierte mithilfe seiner Gujerat-Kader und einer rasch wachsenden Armee von Gefolgsleuten aus dem in- und Ausland seinen eigenen Wahlkampf, warf die rückwärtsgerichtete nationalistische Autarkiepolitik der BJP aus dem Fenster. Sein wichtigster Wahlhelfer wurde die regierende Kongresspartei. Deren Kopflosigkeit und Korruption waren die Kontrastfolie, von der sich der Messias von ‘Minimum Government, Maximum Governance’ markant abhob.
Junggeselle?
Inzwischen gibt es zahlreiche Versuche, auch die private Persönlichkeit aufzuschlüsseln. Es ist gar nicht einfach. Modi lebt allein, isst immer allein, pflegt sein Junggesellen-Image. Dazu gehört sein Äusseres: Er hat einen eigenen Kleidungsstil entwickelt, der auf ‘ethnic chic’ zielt, er arbeitet täglich an seinen Geräten. Modi ist ein Achtzehnstunden-Arbeiter, seine ersten Telefonanrufe beginnen um 5:30. Er ist ein Internet-Junkie, der über die sozialen Medien auch seine politische ‘Brand’ pflegt.
Mit seinem Einsiedler-Status knüpft er an eine alternative Tradition zur beherrschenden Familienbindung an. Mutter und Geschwister hat er seit Jahrzehnten nicht gesehen. Frauengeschichten tauchen – selten – auf, und werden sofort durch Polizeimassnahmen und Gerichtsverfügungen erstickt. Im April überraschte er selbst seine Parteigenossen, als er bei der Anmeldung seiner Abgeordneten-Kandidatur angab, verheiratet zu sein.
Nach der Heirat verschwindet er
Was zeigt uns Modis Biografie? Sie stärkt eher das Image des harten Nationalisten als jene des toleranten Hindu. Im Jahr 1950 in eine achtköpfige arme Familie aus der relativ tiefen Kaste der Ölpresser geboren, wird er mit vier Jahren bereits mit Jashodaben verlobt, arbeitet als Junge im fliegenden Tee-Laden seines Onkels auf dem Bahnhof von Vadnagar im Norden von Gujerat. Er absolviert die Primar- und Sekundarschule, wo er ein Ein-Mann-Stück inszeniert, in dem er das Schicksal einer Dalit-Frau zeigt.
Sein Eigenwille kommt früh zum Ausdruck. Zwar fügt er sich seinen Eltern und heiratet, achtzehnjährig, Jashodaben. Am Tag danach verschwindet er, ohne seine Frau, eine spätere Dorflehrerin, je wiederzusehen. Er begibt sich auf eine dreimonatige Pilgerreise in den Himalaya und landet nach seiner Rückkehr auf dem Bahnhof von Ahmedabad, wo er wiederum einen Tee-Ausschank betreibt.
RSS
Dort kommt er mit dem RSS in Berührung, dem ‘Nationalen Freiwilligenbund’. Der RSS ist der Kaderverband der Ultranationalisten, die Hindu-Alternative zum inklusiven, säkularen Gesllschaftsmodell von Gandhi und Nehru. Diese dominieren den Kampf um die Unabhängigkeit, und sie bestimmen die Ideologie des neuen Staats. Der RSS bleibt in der Defensive; die Mörder Mahatma Gandhis kommen aus dem RSS-Umfeld. Er wird verboten und entwickelt im Untergrund nicht nur Gewaltbereitschaft und Verschlagenheit, sondern auch ein Netz von legalen Organisationen, das alle gesellschaftlichen Lebensbereiche abdeckt, darunter die Politik, mit der BJP.
Das Ideal einer Hindu-Gesellschaft, anstelle der säkularen Verleugnung der Religion, die Verschmelzung persönlicher Ziele mit denen einer verschworenen Gemeinschaft, die Disziplin, die der halblegale Status dem Einzelnen abfordert – dies alles muss den jungen ‘Narendrabhai’ angezogen haben. Dass der Sozialdienst ursprünglich vorherrschte, kann darin gesehen werden, dass er dem Ramakrishna-Orden seines Idols Vivekananda beitreten wollte; da er keinen College-Abschluss hatte, wurde er abgewiesen. Der RSS hiess ihn willkommen.
Blutiger Bannerzug
Modi zeigte bald seine organisatorischen Fähigkeiten. Der RSS stellte ihn der BJP zur Verfügung, um diese in Gujerat ans Ruder zu bringen. Als BJP-Präsident L.K.Advani 1990 mit einer mehrmonatigen ‘Pilgerfahrt’ nach Ayodhya die Rückeroberung des Geburtsstätte des Gottes Ram einleiten wollte (eine Moschee stand darüber), begann der blutige Bannerzug in Gujerat, und Narendra Modi war der Chef-Organisator.
Die ‘Hindutva’-Welle spült drei Jahre nach dem Fall der Ayodhya-Moschee auch in Gujerat die BJP an die Macht, Modi wird Chef der Lokalpartei. Doch der alten Garde wird er lästig, er wird nach Delhi ins Partei-Exil verbannt. Dort intrigiert er weiter, und im Oktober 2001 ernennt ihn die Partei zum Chefminister des Staats. Vier Monate später bricht in einem Zug, der Pilger aus Ayodhya zurückbringt, ein Feuer aus. 58 Menschen verlieren das Leben. Es ist der Augenblick (fünf Monate nach 9/11!), den Modi nutzt, um die kastenfragmentierte Hindu-Mehrheit zusammen zu schweissen – mit dem einigenden Band des verhassten Muslims.
Umgekehrtes Damaskus-Erlebnis?
Nun ist Modi Premierminister Indiens, mit einem überwältigenden Mandat im Rücken. Nach einem Wahlkampf auf der Plattform von wirtschaftlicher Entwicklung und sauberer Regierungsführung sind kritische Fragen verpönt, wenn nicht geradezu beleidigend. Und tatsächlich: Man muss sein Urteil aussetzen, man muss den Verdacht der Verschlagenheit als Bestandteil der Hindutva-Agenda unterdrücken. Waren die Pogrome von 2002 vielleicht so etwas wie ein umgekehrtes Damaskus-Erlebnis gewesen, eine Epiphanie der Gewalt, die auch die Botschaft enthielt, dass ihre Fortsetzung schliesslich den eigenen Boden unter den Füssen zerstören würde? Oder in den Worten des weisen N.M.: “Der Hinduismus lehrt uns, dass es nur eine Wahrheit gibt. Aber er sagt auch, dass jeder Gläubige Gott auf seine Weise wahrnimmt”.