Bereits zu Beginn dieses Jahres huldigte Blocher im Berner Seeland drei grossen Bernern: Ulrich Ochsenbein, Bundesrat der ersten Stunde, dem einst populären Bauernpolitiker Ruedi Minger (BGB) und seinem Lieblingsmaler Albert Anker. Am kommenden Bärzelistag ist Anker erneut an der Reihe, dazu der Pfarrer und Schriftsteller Jeremias Gotthelf sowie F.T. Wahlen. Mit grossen Inseraten in der Tagespresse mobilisiert Blocher, der sich zunehmend als Historiker, Kunstkritiker und Kulturphilosoph vernehmen lässt, für seinen Auftritt. Mobilmachungsort: Die Turnhalle in Wynigen, wo den Zuhörerinnen und Zuhörern nach der Lektion auch ein ordentlicher Imbiss offeriert wird.
Vereinnahmungen
Vielleicht ist ja Blocher ein luzider Kunstinterpret, vielleicht eignet ihm die Gabe analytischer Textkritik. Nur, Blocher ist vor allem Missionar, und seine Mission ist die von ihm ausgerufene „konservative Revolution“. Alles, was dieser nützt, stellt er in ihren Dienst: Geld, Bilder (in der Wyniger Turnhalle dürfen die Zuhörer auch drei echte Anker betrachten) und geschichtliche Figuren. Historisches Personal eignet sich besonders gut, da von ihm kein Widerspruch kommt.
Dem Missionar dient es als Baumaterial für einen Patriotismus, den er nach SVP-Rezeptur formen und möglichst breitflächig verankern will. In gewissem Sinne kopiert er den französischen Rechtsextremisten Jean-Marie Le Pen, der ebenfalls gerne in der Geschichte herumgeistert und auf Personen zurückgreift, deren Wirken er für seine Zwecke ummünzt. Jeanne d’Arc etwa, legendäre Kämpferin gegen die englischen Invasoren im 100jährigen Krieg, hat der Chef des Front National geradezu monopolisiert.
Blocher holt nun also F. T. Wahlen (1899-1985) aus der Geschichte zurück, jenen Professor für Agronomie und Chefbeamten im Kriegsernährungsamt, der mit seinem Mehranbau-Plan grosse Verdienste um das Land erworben hat. Wahlen dient ihm als Beweis, dass auch ein Kleinstaat seinen eigenen Weg gehen und ausländischem Druck widerstehen kann. Vor allem aber dient er ihm als Vergleich zum heutigen Bundesrat, dem, wie er gegenüber der "Berner Zeitung" sagte, Widerstandswille gegen Anmassungen von aussen fehle. Und zur Botschaft Blochers gehört natürlich auch, dass Wahlen ein Mann „von uns“, der SVP, ist.
Wahlen war offen für die Welt
Wäre Wahlen wirklich einer von ihnen, wenn er noch lebte? Betrachten wir die andere „Hälfte“ dieses Mannes, jene, die in Wynigen kaum jemanden interessieren dürfte.
Mit Wahlen schickte die BGB (Bauern- Gewerbe- und Bürgerpartei) 1958 einen Vertreter in den Bundesrat, der die Welt bereist, lange im Ausland (Kanada, USA, Rom) gearbeitet und nicht nur geographisch, sondern auch intellektuell einen weiten Horizont hatte. Wahlen war das, was man „wertkonservativ“ nennt. Als Aussenminister der Neutralität verpflichtet, verstand er diese Maxime aber nie als Abschottung von der Welt. Als Innenpolitiker setzte er sich für Ausgleich und Respekt ein.
Nachfolgend ein paar Stichworte zu seinen Positionen und zu jenen der heutigen SVP:
- Entwicklungshilfe. Als ehemaliger Funktionär der FAO hatte Wahlen in Asien und Afrika zahlreiche Länder bereist. Für ihn stand ausser Zweifel, dass der Westen – und auch die Schweiz – die aus dem Kolonialstatus entlassenen jungen Staaten unterstützten musste. Wahlen engagierte sich stark für die Entwicklungshilfe, die er als Friedenspolitik auffasste. Als im Ständerat bei der Behandlung eines Kredits von 90 Millionen Franken für technische Zusammenarbeit Vorbehalte wegen steigender Erwartungen seitens dieser Länder laut wurden, replizierte Wahlen: „Aber haben wir, von einem ganz anderen Niveau aus gesehen, diese „revolution of rising expectations“ nicht auch bei uns? Ein jeder will mehr haben und so rasch als möglich mehr haben. So kommt es, dass daraus natürlich ein Konflikt entstehen muss, der sich gelegentlich etwa in der Äusserung kundtut: „Ja, für die Neger hat der Bund Geld, für uns hat er kein Geld.“ Ich brauche Ihnen keine Vergleichszahlen zu unterbreiten, was dieser Kredit im Verhältnis zu dem, was für das Inland getan wird, bedeutet.“ (22.9.1964) – Die heutige SVP versucht systematisch, solche Kredite zu schmälern.
- Europarat. Gegen zahlreiche Widerstände auch aus den eigenen Reihen setzte sich Wahlen für den Beitritt der Schweiz (1963) zum Europarat ein. Erst nach seinem Rücktritt ratifizierte die Schweiz auch die Europäische Menschenrechtskonvention. - Die heutige SVP tut sich noch immer schwer mit übernationalem Recht und den Urteilen des Europäischen Gerichtshofes.
- Uno/ausländische Truppeneinsätze. Wahlen plädierte zu seiner Zeit nicht für einen Uno-Beitritt, aber für aktive Mitarbeit in ihren Spezialorganisationen. In die Zukunft blickend, erklärte er am 7. Oktober 1965 vor dem Nationalrat: „Sollte es den Vereinten Nationen gelingen, nach Überwindung ihrer gegenwärtigen Krise klare Grundlagen für friedenserhaltende Aktionen zu schaffen, so könnte die Frage an uns herantreten, ob wir ähnlich wie Schweden und Österreich solche Unternehmen mit Truppenkontingenten unterstützen sollten, da die Mitwirkung neutraler Kleinstaaten in solchen Fällen besonders wertvoll ist und im konkreten Fall auch das Gewicht der Argumente gegen unsere Nichtmitgliedschaft verringern würde.“ – Die SVP ist, obwohl die Schweiz heute Uno-Mitglied ist, gegen Truppeneinsätze im Ausland.
- Völkerrecht/Pro Helvetia. In der gleichen Rede unterstrich Wahlen die schweizerische Mitwirkung an internationalen Konferenzen zur Kodifikation bzw. zum Ausbau des Völkerrechts und bezeichnete die Aufstockung der Beiträge für die Pro Helvetia als „ausserordentlich zu begrüssenden Schritt“. - Die heutige SVP fühlt sich über Völkerrecht erhaben. Die Pro Helvetia will sie an die kurze Leine nehmen.
- Ausländer. In seiner Neujahrsansprache als Bundespräsident würdigte Wahlen 1961 die günstige wirtschaftliche Entwicklung. Er sagte: „Ich möchte jedem Einzelnen, der an seinem Posten in Treue und Gewissenhaftigkeit zu dieser Entwicklung beitrug, sei er nun Schweizer oder einer unserer zahlreichen fremden Helfer, den herzlichen Dank aussprechen.“ - Von Vertretern der heutigen SVP sind solche Worte des Dankes nicht zu hören.
- Sozialpolitik. Wahlen lehnte einen forcierten Ausbau des Sozialstaats ab. Umgekehrt forderte er, „einen grösstmöglichen Wirtschaftserfolg in gerechter Weise einer grösstmöglichen Zahl von freien Menschen zugute kommen zu lassen.“ (Referat vor der NHG, 23.9.1956). - Über „gerechte“ Verteilung des Wirtschaftserfolgs hört man von der heutigen SVP nichts.
- Ausnahmeartikel. Zur Sicherung des religiösen Friedens im Land engagierte sich Wahlen für die Aufhebung der sog. Ausnahmeartikel (Jesuiten- und Klosterverbot, 1973 aus BV entfernt). – Die heutige SVP hat mit ihrem Minarett-Verbot für einen neuen Ausnahmeartikel gesorgt.
- Intellektuelle. Vor dem Parteitag der BGB erklärte Wahlen am 28. Januar 1961 in einem Referat über „Gefährdete Demokratie“: „Mein besonderer Ruf für das Ernstnehmen der bürgerlichen Verantwortlichkeit geht an die geistige Elite. Das Schicksal der Weimarer Republik ist ein schlagendes Beispiel für die Folgen eines politischen Schneckenhaus-Daseins der Intellektuellen.“ - Die Exponenten der heutigen SVP haben für Intellektuelle in der Regel nur Spott und Hohn übrig.
- Abstimmungskampagnen. In demselben Referat setzte sich der BGB-Bundesrat auch kritisch mit „wirtschaftlicher Macht“ in Abstimmungskampagnen auseinander: „ Es ist nicht das dem Verfassungsgeber vorschwebende Referendumsrecht, wenn die Durchführung von Kampagnen gegen entsprechende Honorierung von Reklame- oder Werbefirmen durchgeführt wird, gemäss dem Stil, der bei der Einführung eines neuen Schlagerartikels auf dem Verbrauchsgütermarkt entwickelt wurde.“ – Die heutige SVP und namentlich ihr Chefstratege investieren Riesensummen, um mit zweifelhaften Kampagnen ihren „Schlagerartikeln“ zum Erfolg zu verhelfen.
Das tönende Erz
In andern Reden äusserte sich Wahlen zu Fragen des Materialismus und des Humanismus. Und, als Mann des Glaubens, zum Christentum. In Stil, Niveau und Inhalten sind seine Reflexionen um Welten von den hochfahrenden Gesten heutiger SVP-Gewaltiger entfernt, die dauernd irgendwelche Sündenbücke vor sich her treiben und für Andersdenkende nur noch Häme und Verachtung übrig haben.
Angenommen, Wahlen sässe am Bärzelistag in der Wyniger Turnhalle und verfolgte den Auftritt des reichen Mannes aus Zürich. Würde er sich geehrt fühlen? Würde er sich von dessen Rhetorik angewidert abwenden?
Eine Antwort ist vielleicht in der Rede zu finden, die der einstige BGB-Bundesrat am evangelischen Kirchentag in Basel am 5. Oktober 1963 hielt. Er setzte sich mit der Bergpredigt als mögliche Richtschnur öffentlichen Handelns auseinander, verwies auch auf Korinther I, 13, wo es heisst: Wenn ich mit Menschen- und Engelszungen rede, aber keine Liebe habe, so bin ich ein tönendes Erz, eine lärmende Zimbel…“