In Saudi-Arabien wurden am vergangenen Wochenende elf „Prinzen“, Mitglieder der Königsfamilie, vier Minister und Dutzende von ehemaligen Ministern verhaftet. Dies geschah auf Veranlassung einer Anti-Korruptionskommission. Ihr Vorsitz hat Kronprinz Muhammed bin Salman (im Nahen Osten wird er MBS genannt). Er hat auch die Vollmacht, Leute zu verhaften. Diese Kommission war von König Salman unmittelbar vor den Festnahmen eingesetzt worden. Durch königliches Dekret wurden auch neue Oberbefehlshaber der Kriegsmarine und der sogenannten Nationalgarde ernannt.
Der wichtigste der Verhafteten ist ohne Zweifel Prinz Mutaib bin Abdullah. Er ist ein Sohn des früheren Königs Abdullah und kommandierte die Nationalgarde. Sie, die früher die „Weisse Armee“ genannt wurde, ist eine militärisch ausgerüstete Sicherheitstruppe, die für die innere Sicherheit der weiten Wüstenhalbinsel verantwortlich ist. Sie besteht traditionsgemäss aus Söhnen der einheimischen Stämme und dient seit der Gründerzeit unter Abdulaziz Ibn Saud (1875–1953) dem Herrscherhaus. Abdullah, der spätere König, hatte diese Garde 44 Jahre lang kommandiert. Doch nach einem Schlaganfall von König Fahd im Jahr 1996 wurde Abdullah Stellvertreter des kranken Königs und De-facto-Herrscher. Er hatte nun keine Zeit mehr für die Nationalgarde. Deshalb vertrat ihn sein Sohn Mutaib als Kommandant der Garde. Doch erst 2010 wurde Mutaib offiziell zu deren Oberkommandiertem ernannt.
Vertraute des füheren Königs Abdullah
Zusammen mit Prinz Mutaib wurde auch sein Bruder, Prinz Turki, verhaftet, ebenso ein Enkel des früheren Königs Abdullah, Prinz al-Waleed bin Tallal bin Abdullah. Er gilt als einer der reichsten Männer der Welt.
Die Anti-Korruptionskommission unter dem Vorsitz des Kronprinzen hat neben der Kompetenz, Verhaftungen anzuordnen, auch die Vollmacht, Vermögen zu beschlagnahmen und Ausreiseverbote zu erteilen. Zu den jetzt Festgenommenen zählen auch die Miiliardäre Salah Kamel und Waleed al-Ibrahimi. Zu den entlassenen Ministern gehört jener für Wirtschaft und Planung.
Korruptionsbekämpfung als Begründung
Der Eindruck herrscht vor, dass die Anti-Korruptionskommission in einigen Fällen tatsächlich wegen Korruptionsverdacht einschritt. Dass sie dies allerdings mit Verhaftungen kombinierte, hat machtpolitische Gründe. Die Absetzung des Kommandanten der Nationalgarde entfernt einen letzten der engeren Gefolgsleute des früheren Königs Abdullah. Er hätte möglicherweise den Kronprinzen und seinen Vater, den gegenwärtigen Herrscher, herausfordern können.
Ähnliche Beweggründe dürften auch hinter der Absetzung des bisherigen Flottenkommandanten stehen. Beide wurden durch Angehörige der jüngeren Generation ersetzt. Sie stehen dem Kronprinzen nahe, der mit seinen 32 Jahren selbst zur jüngeren Generation gehört.
Operation zur Konsolidierung der Macht
Die Ankündigung der Verhaftungen und der Entlassungen stellt für Saudi-Arabien einen unerhört abrupten Vorgang dar. Als Begründung wurde die Korruptionsbekämpfung in den Vordergrund gestellt. In dem Dekret zur Errichtung der Kommission hiess es, diese sei notwendig geworden, „wegen der Neigung gewisser Personen, ihre eigenen Interessen jenen der Öffentlichkeit voranzustellen und öffentliche Gelder zu stehlen“. Die neue Behörde werde „der Korruption auf allen Ebenen nachspüren und sie bekämpfen.“
Die Listen mit den Namen jener Personen, die verhaftet oder entlassen werden sollten, standen offenbar bereits fest, bevor die Kommission offiziell gebildet wurde. Dabei wurde offensichtlich dafür gesorgt, dass neben Personen, die machtpolitisch gefährlich werden könnten, auch tatsächlich solche aufgeführt sind, die der Korruption bezichtigt werden. Die Beobachter sind sich einig in der Einschätzung, dass die Entfernung der Prinzen und Minister sowohl ein Anti-Korruptionsfeldzug ist als auch eine Operation zur Konsolidierung der Macht zugunsten des Kronprinzen und seines Vaters, des Königs.
Verhaftung von Geistlichen
Schon zwei Wochen vorher hatten die Behörden eine grössere Zahl von Geistlichen verhaften lassen. Sie stehen den Neuerungen, die der 32-jährige Prinz Salman angeordnet hatte, kritisch gegenüber. Dazu gehört die Möglichkeit, dass Frauen ab dem kommenden Jahr Auto fahren können.
Kritisiert wird von Geistlichen auch die Errichtung eines „Shari'a-freien“-Entwicklungsgebietes für saudische und ausländische Unternehmer. Dieses soll nahe der jordanischen Grenze errichtet werden. Auch der Plan eines riesigen Tourismus- und Feriengebietes an der Rotmeerküste stösst einigen Geistlichen sauer auf. In diesem Feriengebiet soll die Schari'a nur beschränkt gelten. Kleiderordnung und Geschlechtertrennung soll es dort nicht geben.
Sofortige Abschaffung des „radikalen Islams“
Gleichzeitig mit den Ankündigungen dieser Pläne erklärte der Kronprinz einer Versammlung von potentiellen ausländischen Investoren, der „radikale Islam“ sei in Saudi-Arabien zu Ende, und zwar „ab sofort“. Das Königreich gehe zurück „zu unserem toleranten und moderaten Islam, der offen ist gegenüber der Welt und den anderen Religionen“. Dieser „moderate Islam“, so sagte der Kronprinz, habe in den Jahren vor 1979 im Königreich vorgeherrscht. MBS endete seine Ausführungen mit den Sätzen: „Ich glaube, dass wir den restlichen Extremismus bald ausrotten werden. Ich bin überzeugt, dass dies keine wirkliche Herausforderung für uns ist, denn wir stehen für die moderaten Lehren und Prinzipien des Islams.“
Die Aussagen des allmächtigen Kronprinzen wirkten sensationell. Sie waren es auch angesichts der weltpolitischen Bedeutung, welche die Doktrinen des Wahhabismus und deren noch radikaleren Spielarten im heutigen Islam gewonnen haben. Doch man musste sich fragen: Waren sie ernst gemeint?
Das entscheidende Jahr 1979
Das Jahr 1979, das MBS erwähnte, ist von doppelter Bedeutung für das Königreich. Es war das Jahr des Durchbruchs der iranischen Revolution unter Ajatollah Khomeiny. Im gleichen Jahr fand der Angriff wahhabitischer Extremisten auf die Pilgermoschee von Mekka statt. Sie ist das heiligste der islamischen Heiligtümer und steht unter dem Schutz des saudischen Königs. Die Moschee-Besetzer konnten sich zwei Wochen lang in den Kellern des Heiligtums halten. Dank dem Einsatz französischer Spezialisten, die Gas in die Kellergewölbe pumpten, konnten sie vertrieben werden.
Von diesem Datum an erhielten die wahhabitischen Gottesgelehrten immer mehr Mitspracherechte im Königreich. Sie nahmen immer mehr Einfluss auf die Bevölkerung. Gleichzeitig erhielten die wahhabitischen Gottesgelehrten viel Geld, das sie im Ausland für Moscheebau und die Ausbreitung ihrer Lehre einsetzten. Als Folge davon breitete sich die fundamentalistische und intolerante Tendenz des Wahhabismus auf der Arabischen Halbinsel stark aus. Doch nicht nur auf der Arabischen Halbinsel, sondern auch in der gesamten arabischen und islamischen Umwelt.
Iranisch-saudischer Zwist
Der Sieg der schiitischen islamischen Revolution in Iran im Jahr 1979 führte schon bald – erstmals bei der Pilgerfahrt von 1982 – zu Zusammenstössen zwischen iranischen Pilgern und saudischen Sicherheitsbehörden. Khomeiny und seine Gefolgsleute wollten die Pilgerfahrt dazu benutzen, um andere Haj-Teilnehmer von den Vorteilen der schiitischen Religionsrevolution zu überzuegen.
Diese Agitation und die Versuche, sie einzuschränken, eskalierten während der folgenden Jahre. Sie gipfelten im grossen Massaker von 1987. Damals starben 400 meist iranische Pilger, Tausende wurden verletzt. Für die Iraner wurde die Pilgerfahrt dann verboten.
Dies war die erste Phase der Konfrontation zwischen dem Königreich Saudi-Arabien und Iran. Heute geht es nicht mehr um die Pilgerfahrt, heute geht es um den Versuch der iranischen Revolutionsgarden, ihre Macht in der arabischen Welt auszudehnen. Die iranischen Schiiten versuchen, mit den schiitischen Minderheiten in Saudi-Arabien zu kollaborieren. Anderseits treten die Saudis als Vorkämpfer des Sunnismus im arabischen und gesamten islamischen Raum auf. MBS gehört zu den energischen Gegenspielern des iranischen „Hegemoniestrebens“.
Ein „toleranter Islam“ vor 1979?
Weil er das Jahr 1979 erwähnte, kann man vermuten, dass der „tolerante und gemässigte Islam“, den er zu verwirklichen hofft, jenem entspricht, der vor 1979 in Saudi-Arabien vorherrschte. Doch war dieser Islam vor 1979 so tolerant und gemässigt?
Zweifellos hatte es 1979 eine Radikalisierung der wahhabistischen Geistlichen gegeben. Doch die wahhabistische Lehre gab es schon lange zuvor. Sie war stets ein tragender Bestandteil der drei saudischen Königreiche gewesen, die es seit 1743 auf der Arabischen Halbinsel gab und gibt. 1743 war das Jahr, in dem der fundamentalistische Religionsreformer, Muhammed Ibn Abdul Wahhab, mit dem ersten saudischen Lokalherrscher im Najd-Hochland einen Vertrag schloss. Ibn Abdul Wahhab war auf der Flucht wegen seiner damals unorthodox geltenden islamischen Doktrin. Im Vertrag mit dem „Emir“ (Befehlshaber) Mohammed Ibn Saud, erhielt Wahhab die Aufsicht über das Religionswesen – und Ibn Saud erhielt die Herrschaft über das Gebiet.
Das Gegenteil von „tolerantem Islam“
Beide haben Glaubenskriege gegen andersdenkende Muslime, Schiiten und sogar andere Sunniten geführt. Seither ist „Takfir“, die Beschuldigung, dass jemand ungläubig sei, und die Bestrafung dafür, ein wichtiger Bestandteil der Doktrin und der Praxis des Wahhabismus. Selbst Andersgläubige können beschuldigt und bestraft werden.
Dies alles ist also genau das Gegenteil von „tolerantem Islam“. Ob MBS sich dieser tieferen Wurzeln des Wahhabismus bewusst ist, und ob er auch sie „auszurotten“ gedenkt, geht aus seinen Ausführungen nicht hervor. Doch seine Erwähnung des Jahres 1979 legt die Vermutung nahe, dass er die früheren Zeiten und mit ihnen den wahhabitischen Kern der saudischen Herrschaft in einem allzu rosigen Licht sieht – oder sehen möchte. Dies würde heissen, dass er den althergebrachten, wahhabitisch gefärbten und verstandenen Islam des Königreiches nicht wirklich „auszurotten“ und von Grund auf zu verändern gedenkt.