Der Jahrestag des fehlgeschlagenen Armeecoups in der Türkei wurde hyperbolisch gefeiert. Erdogan stand im Zentrum der Feierlichkeiten. Er flog hin und her zwischen Istanbul und Ankara, hielt in beiden Städten Reden, jene von Ankara im Parlament zu genau jener Stunde, in der das Parlament ein Jahr zuvor bombardiert worden war: um 23 Uhr lokaler Zeit.
Dann wurde in der Nacht zum Sonntag ein Volksfest inszeniert, das die ganze Nacht und den ganzen Sonntag lang dauerte. Es stand ganz im Zeichen der „geretteten Demokratie“. Die Oppositionskreise, die ausdrücklich den Feierlichkeiten fernblieben, sehen allerdings das Jahr, das dem fehlgeschlagenen Putsch folgte, als „einen zweiten Putsch“, welcher der türkischen Demokratie ein Ende bereitete.
Die Absicht der Regierung ist unverkennbar, aus diesem Tag, der zum Nationalfeiertag erklärt wurde, ein Geschehen zu machen, das als Gründungsmythos für eine „neue Türkei“ dienen soll. Dies soll eine Türkei werden, in der trotz demokratischer Inszenierung Erdogan alle Macht innehat und aktiv ausübt.
Was geschah am 15. Juli 2016?
Die Niederlage der Putschisten wurde gefeiert, obwohl es weiterhin Fragen über das Geschehen vom 15. Juli 2016 gibt. Waren es wirklich nur Gülen und seine Anhänger, die den Coup auslösten und durchzuführen begannen, oder spielten noch andere Kräfte mit? Wenn ja, welche und wie hingen sie mit der Gülen-Gruppe zusammen? Und wie gelangten die Gülen-Leute in die Lage, die ihnen erlaubte, den Putsch aufzuziehen?
Es gibt auch Fragen über den Ablauf des Putsches, vor allem in seinen Vorstufen und seinem Beginn. Nach einer schriftlichen Aussage des Sicherheitschefs der Türkei, Hakan Fidan, kam ein Major, dessen Namen nur mit den Anfangsbuchstaben O. K. angegeben ist, am 15. Juli gegen 15.30 Uhr nachmittags auf des Büro des türkischen Geheimdienstes und teilte den dortigen Beamten mit, er sei dazu bestimmt worden, bei der Festnahme und Entführung des Geheimdienstchefs mitzuwirken. Er soll auch erklärt haben, dies könne Teil eines geplanten Staatsstreiches sein. Die Geheimdienstbeamten informierten Hakan Fidan telefonisch. Auch der Generalstabschef der Armee, General Hulusi Akar, wurde davon in Kenntnis gesetzt. Der Geheimdienstchef versuchte um 19.30 Uhr die Präsidentschaft zu benachrichtigen – also vier Stunden nach dieser Warnung. Doch er sprach nicht mit dem Präsidenten, und er erklärte dessen Beamten nicht, was genau zu befürchten sei.
Erdogan in den Ferien?
Präsident Erdogan hat seinerseits erklärt, er habe zuerst von seinem Schwager über ungewöhnliche militärische Aktivitäten um 16.30 Uhr gehört. Er habe gegen 17.00 Uhr versucht, Fidan, den Geheimdienstchef, und Akar, den Generalstabschef, zu kontaktieren, konnte aber beide nicht erreichen. Erdogan befand sich damals in den Ferien in Marmaris. Er brach seinen Urlaub sofort ab.
Kurz danach traf eine Gruppe von Soldaten ein, die die Aufgabe hatten, ihn gefangen zu nehmen oder gar ihn zu ermorden. Anschliessend flog Erdogan nach Istanbul. Laut verschiedenen Berichten wäre er während des Fluges beinahe von einem Kampfflugzeug der Putschisten abgeschossen worden. Der Flughafen von Istanbul war von einer kleinen Gruppe von Putschisten besetzt. Diese mussten zunächst von Armee-Einheiten, die zum Präsidenten hielten, vertrieben werden. Deshalb konnte Erdogan erst 20 Minuten nach Mitternacht in Istanbul landen.
Ein Putsch am frühen Abend
Der Aufstand auf den Strassen der Stadt begann um 19.30 Uhr, also zu einer Zeit, in der die meisten Strassen Istanbuls und Ankaras sehr belebt sind. Die Putschisten besetzten zunächst die Studios des staatlichen türkischen Radio- und Fernsehsenders TRT. Von dort aus verkündeten sie um 21.15 Uhr, sie hätten die Macht übernommen und für die Türkei beginne eine neue Epoche.
Doch Ministerpräsident Yildirim widersprach dem sofort via Twitter. Eine Viertelstunde später meldete sich Erdogan via Handy beim türkischen Privatsender „CNN Turk“. Er forderte die Bevölkerung auf, massenweise auf die Strasse zu gehen und gegen die Putschisten zu protestieren. Auch über die Lautsprecher der Moscheen wurde zum Widerstand aufgerufen. Regimetreue Polizei- und Armeeinheiten konnten mobilisiert werden, und schon zehn Minuten nach der Landung Erdogans in Istanbul, um 0.30 Uhr, erklärte der türkische Innenminister, der Coup sei niedergeschlagen.
In Ankara war das Parlament um 22.00 Uhr von Panzern umstellt und eine Stunde später aus der Luft bombardiert worden. Doch um 0.45 Uhr ergaben sich die letzten Einheiten der Putschisten in Istanbul auf dem Taksim-Platz, und damit war der Coup endgültig gescheitert.
Was geschah in den kritischen Stunden?
Dass die Geheimdienste Fehler gemacht hätten, hat Erdogan selbst nach dem Putschversuch eingeräumt. Er hat aber auch erklärt, der Putsch sei „eine Gabe Gottes“ gewesen. Womit er den Umstand ansprach, dass der Aufstand ihm Gelegenheit bot, gegen all seine Feinde und vermuteten Widersacher vorzugehen. Auch konnte er so den Ausnahmezustand ausrufen, der noch heute in Kraft ist und verlängert werden soll, bis alle „Terroristen“, wie sie genannt werden, unschädlich gemacht worden seien.
Das türkische Parlament ernannte in der Folge eine parlamentarische Untersuchungskommission, die Aufklärung über die Vorgänge schaffen sollte. Doch die beiden wichtigsten Figuren, die Erklärungen hätten geben können, der Generalstabschef Hulusi Akar und der Geheimdienstchef Hakan Fidan, erschienen nicht vor der Kommission. Sie gaben einzig eine schriftliche Darstellung der Ereignisse ab. Die Kommission, in der mehrheitlich Vertreter der Regierungspartei sassen, begnügte sich damit und bestand nicht auf einer Befragung der beiden. So blieb im Dunkeln, was in den kritischen vier Stunden zwischen der Meldung des Majors O. K. und der effektiven Auslösung des Staatsstreichs geschehen war.
Es ist denkbar, dass die Verschworenen den Coup zu früh auslösten. Wäre er mitten in der Nacht erfolgt, wäre er vielleicht anders verlaufen. Möglicherweise ahnten die Putschisten, dass ihr Vorhaben durchgesickert war, deshalb schritten sie zur Tat. Doch dies sind Gedankenspiele. Die lange Reaktionsfrist bleibt unerklärt, und es ist nicht erstaunlich, dass sie zu allerhand Verdächtigungen Anlass gibt. Könnte es sein, dass die Regierungskräfte absichtlich zusahen, wie sich der Coup entwickelte, um eine solide Grundlage für die Repression zu erhalten, die aus ihm hervorgehen sollte?
„Kontrollierter Staatstreich“?
In einer Parlamentssitzung am 15. Juli hat der Chef der grössten Oppositionspartei, Kemal Kiliçdaroglu, die Frage der unvollkommenen Aufklärung des Geschehens aufgegriffen. Er beschwerte sich darüber, dass die parlamentarische Aufklärungskommission nur schriftlich informierte und niemand Gelegenheit erhielt, Fragen zu stellen. Er kritisierte die Kommission selbst, indem er ausführte: „Die Kommission bemühte sich, einer Untersuchung auszuweichen. Diese Bemühungen zeigen, dass der politische Hintergrund absichtlich verborgen gehalten wird.“
Kiliçdaroglu hat den Putsch auch einen „kontrollierten Staatstreich“ genannt und damit auf die Verdächtigungen angespielt, nach denen die Regierung den Staatsstreich nicht sofort im Keim erstickt habe, um politisch von seiner Niederschlagung zu profitieren.
Erdogan zeigt sich empört
Erdogan reagierte sofort. Die Rede von einem „kontrollierten Putsch“, so sagte er im Parlament, „ist eine Schande, das ist Immoralität. Dies ist respektlos und eine Beleidigung für unser Volk.“
Er griff auch Kiliçdaroglu direkt an. Das Haupt der grössten Oppositionspartei, so sagte er ebenfalls im Parlament, „sass daheim und schaute sich den Putsch am Fernsehen an. Wenn ich das damals gewusst hätte, hätte ich ihn nicht nach dem Putsch zur Zusammenkunft der Parteien eingeladen.“ Dies war ein Treffen direkt nach dem Putschversuch, zu dem alle Parteichefs kamen und den Putschversuch verurteilten. Nicht eingeladen wurde die kurdische Partei, obwohl auch sie den Putschversuch verurteilt hatte. Zehn der kurdischen Abgeordneten sitzen heute ohne Gerichtsurteil in Untersuchungshaft, die schon fast ein Jahr andauert.
„Das 9/11 der Türkei“
Bei den Grossveranstaltungen zum ersten Jahrestag des gescheiterten Putsches stand Erdogan stets im Zentrum. Zuerst sprach der Staatschef auf der Brücke über den Bosporus, wo ein Jahr zuvor die Panzer von der Bevölkerung und von loyalen Truppen der Polizei und der Armee aufgehalten wurden. Sie heisst nun die „Brücke vom 15. Juli“. Ein Denkmal, das an die 32 Menschen erinnert, die dort starben, wurde von Erdogan selbst eingeweiht. Erdogan nannte die Getöteten „unsere Märtyrer“. Er sagte: „Die Putschisten haben die Brücke versperrt, weil sie zeigen wollten, dass sie die Lage beherrschen. Jedoch Millionen gingen auf die Strassen, um in jener Nacht die Demokratie zu verteidigen. Die Leute hatten Fahnen, keine Gewehre, aber wichtiger noch, sie hatten ihren Glauben!“
Erdogan erwähnte in seiner Rede auch einmal mehr die Todesstrafe und erhielt zustimmende Rufe aus der Masse der Zuhörer. Er spielte auf ein Vorkommnis vor Gericht an, bei dem einer der angeklagten Militärs vor Gericht mit einem Leibchen erschien, auf dem die Aufschrift „Hero“ stand. Er weigerte sich, es auszuziehen. Es gab einen Aufruhr, und die Verhandlung wurde vertagt. Erdogan sagte nun seinen Zuhörern, er habe mit dem Ministerpräsidenten gesprochen und angeregt, dass „unsere Angeklagten in orangen Gefängniskleider erscheinen, wie in Guantanamo“. Dass der Putschversuch „das 9/11 der Türkei“ abgegeben habe, ist eines der Propagandathemen der türkischen Regierungspresse.
Zerstörtes Rechtswesen
Ministerpräsident Binali Yildirim führte einen Zug von Teilnehmern aus einem der entfernteren Quartiere zur Brücke. Auch er fand markige Worte wie: „Der 15. Juli war ein zweiter Tag der Unabhängigkeit. Es ist genau ein Jahr, dass die dunkelste und die längste Nacht der Türkei in einen hellen Tag verwandelt wurde. Eine Feindesbesetzung wurde in eine nationale Legende verwandelt.“
Nach der Zeremonie in Istanbul flog Erdogan, begleitet von Kampfflugzeugen, zurück nach Ankara, um dort vor dem Parlament zu sprechen. Über den gegenwärtigen Zustand des türkischen Parlamentes fand Oppositionschef Kiliçdaroglu seine markigen Worte. „Dieses Parlament“, so sagte er, „das den Bombardierungen Widerstand geleistet hatte, ist obsolet gemacht worden. Es hat seine Autorität verloren. Über das vergangene Jahr hin ist das Rechtswesen zerstört worden, und statt einer raschen Rückkehr zur Normalität wurde der Ausnahmezustand verhängt.“
Gerechtigkeit, Grundthema der Opposition
Der Zusammenbruch des Rechtswesens in der Türkei ist zum Thema geworden. Es erlaubt dem Oppositionsführer, über die Parteigrenzen hinweg Widerstand gegen den Staatschef und seine Partei zu mobilisieren. Dieser Widerstand beschränkt sich nicht auf die Atatürk-Anhänger, die den Kern der Oppositionspartei bilden. Die Atatürk-Anhänger waren von 1921 bis 2002 beinahe permanent an der Macht. Sie wurden dabei von den Armeeoffizieren gestützt.
Unvermeidlicherweise entwickelten sie sich in dieser langen Zeit von nationalistischen Revolutionären zu Machthabern und – in den unteren Schichten – zu Bürokraten mit geringer Initiative und Beweglichkeit. Dieses Stigma haftet der CHP (der Republikanischen Volkspartei, wie sie ihren Namen von Atatürk erhielt) bis heute an. Es verschafft ihren Anhängern das Bild von Vertretern der alt gewordenen früheren Führung und Bürokratie. Es fällt deshalb der Partei schwer, neue Mitglieder und Wählerstimmen zu gewinnen. Der Bestand der Partei umfasst rund ein Viertel der Stimmbürger. Jener der AKP Erdogans knapp die Hälfte des Wählerpotentials.
Waffen für die syrischen Rebellen
Das Thema von der verlorenen Gerechtigkeit ist Kiliçdaroglu und seiner Partei in den Schoss gefallen, als ein Abgeordneter der CHP, Enis Berberoglu, gefangengenommen und zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Er wurde als „Spion“ verurteilt, weil er angeklagt war, Fotografien von einem Waffentransport des türkischen Geheimdienstes nach Syrien an die Zeitung der CHP, „Cumhuriet“, weitergegeben zu haben, die sie veröffentlichte und kommentierte. Die Waffen seien für die syrischen Rebellen bestimmt gewesen.
Ein Journalist von „Cumhuriet“ wurde schon vor dem Abgeordneten Berberoglu, der selbst ein ehemaliger Journalist ist, eingekerkert. Ein zweiter, der Herausgeber der Zeitung, floh ins Ausland. Erdogan hatte öffentlich gelobt, er werde beide schwer bestrafen.
Marsch für Gerechtigkeit
Es war der Fall von Berberoglu, der Kiliçdaroglu den Gedanken eines Marsches für die Gerechtigkeit eingab, und es war sein Verdienst, dass dieser Marsch von Ankara nach Istanbul ohne Parteiabzeichen, einzig mit Tafeln, die Gerechtigkeit forderten, durchgeführt wurde. So viele Menschen haben im vergangenen Jahr unter Rechtsbrüchen und Ungerechtigkeiten zu leiden gehabt, dass dieses Thema einen weiten Widerhall fand, zum ersten Mal weit über die Kreise der früheren Machthaber, Bürokraten und bisherigen Privilegierten der Atatürk-Zeit hinaus.
Als der Marsch Kiliçdaroglus und seiner Gefährten nach 25 Tagen am 9.Juli Istanbul erreichte, wurde er von einer riesigen Menge empfangen und begleitet. Die Schätzungen der Regierungszeitungen sprachen von blossen 70‘000, doch Unabhängige schätzten die Teilnehmer auf eine knappe Million.
Erhält Erdogan ein legal untastbares Machtmonopol?
Der Marsch für Gerechtigkeit bildete den Auftakt zu einer Dauerkampagne für die Wahlen im November 2019, die bereits jetzt begonnen hat. Wenn die Erdogan-Partei diese Wahlen gewinnt, werden alle Vollmachten, die das Plebiszit vom 16. April dieses Jahres dem Staatschef zugestand, eingeführt, und Erdogan erhält ein vollständiges und legal unantastbares Machtmonopol. Die gegenwärtigen Feierlichkeiten bilden eine erste Antwort der Staatsmacht auf die Herausforderung des Gerechtigkeitsmarsches.
Es ist zu erwarten, dass diese sehr frühzeitige „Vorwahlstimmung“ in der Türkei als Dauerduell – falls keine unvorhergesehenen Neuentwicklungen eintreten – bis zum 9. November in zwei Jahren anhalten wird.