Mit seinem «radikalen Universalismus» sucht der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm den Ausweg aus identitätspolitischen Einengungen, durch die den Menschenrechten stets bestimmte politische Programme verordnet werden. Doch seine Lösung führt zu einem neuen Dilemma.
Am Begriff der Identität entzünden sich heute bekanntlich die heftigsten und giftigsten Debatten. Sowohl die Neue Rechte wie die postkoloniale Linke verwenden ihn, um aus völlig diametralen Positionen auf den Universalismus – im Besonderen auf den Universalismus der Menschenrechte – einzuprügeln. Für die Rechten zählt primär der Mensch durch seine «Nativität», also durch sein Geborensein in eine bestimmte Gemeinschaft. Für die Linken zählt primär das identitätsstiftende Schicksal des Diskrimiertseins als Farbige, als Transgenderpersonen, als Angehörige minoritärer Ethnien.
Gegen diese Identitätsfutterale plädiert der Philosoph Omri Boehm für einen «radikalen Universalismus», um gewissermassen das Menschliche an den Menschenrechten zu retten. Dem Universellen müsse man «absolut» verpflichtet sein. Boehm hat eine Legimität vor Augen, die über allen menschlichen Übereinkünften steht: «Nur ein Gesetz oder eine Wahrheit, die unabhängig von menschlichen Konventionen ist, ist universell in seinem oder ihrem Geltungsbereich und nicht relativ zu den Interessen, Wünschen oder ‘guten Ideen’ derjenigen, die über die Macht gebieten, in der menschlichen Gesellschaft Gesetze zu erlassen.»
Gerechtigkeit ohne Gott
Und was wäre das für ein Gesetz oder eine Wahrheit? Boehm bemüht ein biblisches Szenario (Genesis 18, 23–25). Es erinnert überraschend an die aktuelle Situation in Gaza. Die israelische Armee will die Hamas strafen und vernichten, aber in Gaza befinden sich auch viele unschuldige Zivilisten. Gott will Sodom strafen und vernichten, aber es befinden sich nicht nur Ruchlose, sondern auch Gerechte in der Stadt. Abraham versucht Gott umzustimmen. Er könne doch nicht die ganze Stadt vernichten, wenn es dort noch Gerechte gebe: «Willst du auch sie wegraffen, und nicht doch dem Ort vergeben, wegen der fünfzig Gerechten dort? Das kannst du doch nicht tun. Die Gerechten zusammen mit den Ruchlosen umbringen (…) Sollte sich der Richter über die ganze Erde nicht an das Recht halten?»
Boehm deutet das Gespräch zwischen Gott und Abraham als Hinweis auf eine Autorität, die über beiden steht: «Die wichtigste Errungenschaft des biblischen Monotheismus ist das Bekenntnis zu einer exklusiv einzigen, wahren Gottheit – um diese anschliessend einer noch höheren, über ihr stehenden Gerechtigkeit zu unterwerfen.»
Der Vorrang der Philosophie vor der Demokratie
Gemeint ist das Recht auf Menschenwürde. Boehm möchte es metaphysisch begründen, ohne Gott. Er nennt dies den Vorrang der Philosophie vor der Demokratie. Das heisst für ihn, dass jeder Versuch, Gerechtigkeit im Konsens einer möglichst grossen Gruppe von Menschen «demokratisch» zu fundieren, einen «Verrat am Universalismus» darstellt. Ein solcher Versuch würde über kurz oder lang in einen Konformismus, in den Vorrang von Tradition und Gewohnheit führen. Man sehe dies exemplarisch an der alten Aufklärung, die ja ganz besondere, nämlich «weisse» Eigenschaften als Träger der Menschenwürde definierte.
Und daraus führt uns nur eine neue Aufklärung, der «radikale» Universalismus, jenseits aller anthropologischen Bestimmungen des Menschen. Boehm glückt hier ein kleiner philosophischer Theatercoup. Er deutet Kants berühmten «Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit» nicht primär als den Gebrauch des eigenen Verstandes, sondern als Widerstand gegen konformes Denken, gegen das «So-wie-immer» der Tradition. Erst wenn wir uns davon dank der Idee der absoluten Menschenwürde befreit haben, sind wir wirklich emanzipiert.
Die «Wenigen» der Aufklärung als moralische Avantgarde
Aber wer sind «wir»? Tatsächlich traute Kant nur wenigen Menschen den Ausgang aus der Unmündigkeit zu. Die meisten seien in einer bequemen konformen Denkweise gefangen, die das Gewohnte als das Rechtmässige akzeptiert. Aufklärung erreiche man erst durch «Wenige», die «durch eigene Bearbeitung ihres Geistes (…) das Joch der Unmündigkeit selbst abwerfen» und als Wegbereiter einer breiten Aufklärung fungieren können.
Boehm scheint sich der moralischen Avantgarde der «Wenigen» zuzurechnen, die sich für den richtigen Universalismus eingesetzt, ja, geopfert haben. Sein historisches Lehrbeispiel für den Gegensatz von gemässigtem und radikalem Universalismus ist der Konflikt zwischen den Unionisten und den Abolitionisten vor dem amerikanischen Bürgerkrieg. Die Unionisten stellten die demokratische Verfassung, die auch das Recht der Sklavenhalter auf ihren Besitz schützte, über alles. Die Abolitionisten beriefen sich dagegen – in der Lesart Boehms – auf ein Gerechtigkeitsprinzip, das über der Verfassung steht.
Wie radikal darf es sein?
Ein Prinzip also, das auch Verfassungsbruch rechtfertigt. Boehm nennt als Beispiel den Abolitionisten John Brown. In der Mitte des 19. Jahrhunderts beging er mit seiner Bande Morde an Sklavenhaltern und Sklavenjägern. Für die einen ein Held der Gerechtigkeit und Freiheit, für die anderen ein Verbrecher und Irrer. Boehm sieht John Brown als einen der «Wenigen» in der Nachfolge Kants.
Es ist durchaus löblich, den Universalismus der Menschenwürde zu verteidigen. Vor allem, wenn man ihn gegen ein partikulariserendes Identitätsdenken ins Treffen führt. Nicht allen leuchtet freilich die Idee einer über allen Konventionen stehenden Wahrheit als evident ein. Also müssen sie im Sinne Kants durch «die Wenigen» aufgeklärt werden. Es ist bezeichnend, dass Boehm im Epilog seiner Argumentation die Prophetie zu rehabilitieren sucht. Ausgerechnet! Der Prophet verkündet, er begründet nicht. Er mag wissen, was «wahr» ist, aber gilt das auch für andere, für alle Menschen? Und wenn sie nicht willig sind, hilft dann nur Gewalt? Boehm scheint zu vergessen, dass sich um das prophetische Bewusstsein immer die Versuchung der Unnachgiebigkeit, der Besserwisserei, des Dogmatismus schleicht.
Er bekundet grosse Sympathie für den Rabbiner Abraham Joshua Heschel und sein Standardwerk «The Prophets». Man darf vermuten, dass sein radikaler Universalismus von der «kompromisslosen Idee der Gerechtigkeit» inspiriert ist, die auch Heschel antrieb, der einzigen Idee, die uns aus der «Schlangengrube» der Identitätsdebatte herausholen könne.
Schön blumig formuliert. Aber spätestens hier wird einem blümerant zumute. Universalheilmittel stellten sich schon immer als das Problem heraus, das sie zu lösen versprechen. Suchen wir Lösungsansätze lieber in einem Universalismus von unten, im realisierten gewaltfreien und respektvollen Zusammenleben von Menschen aus vielen Kulturen und Ethnien. Dieses Zusammenleben existiert nach wie vor. Und es braucht keine metaphysische Absegnung.
Omri Boehm: Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität. Universalismus als rettende Alternative. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Michael Adrian, Propyläen 2022