Zur Rechtfertigung des aussergesetzlichen Treibens staatlicher Geheimdienste werden zwei Hauptargumente angeführt: Zum einen sei die Bedrohung durch Terrorismus auch wegen der neuen technischen Mittel überdimensional angewachsen. Das erfordere zur Bekämpfung Methoden, an die man früher logischerweise noch nicht habe denken können. Zum anderen müsse man bedenken, dass alle staatlichen Massnahmen im Westen innerhalb von Demokratien stattfänden. Daher liesse sich das Treiben der Dienste nicht mit dem vergleichen, was aus Diktaturen nur zu bekannt ist.
EGO
Beide Argumente sind so richtig, dass man sich an ihnen die Zähne ausbeissen kann. Dennoch gehen sie an der Sache vorbei. Deswegen werden die Zweifler höchstens zum Schweigen gebracht, aber keineswegs überzeugt. Denn sie werden das Gefühl nicht los, dass etwas faul ist. Aber was? Anfang dieses Jahres, Monate also vor den neuesten Enthüllungen der in jeder Weise grenzenlosen Überwachung, hat Frank Schirrmacher, einer der Herausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", sein Buch EGO vorgelegt.
Dieses Buch beginnt unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in den Bunkern der amerikanischen Luftabwehr und findet sein vorläufiges Ende in den neuesten Finanzkrisen. Schirrmacher zeigt im Detail, wie seit dem Beginn des Kalten Krieges erst das Denken weniger Spezialisten, dann das der Börsianer und schliesslich das der westlichen Gesellschaft umprogrammiert wurde.
Den eigenen Nutzen mehren
Das geschah ursprünglich, um zwei Probleme zu lösen: Man wollte sich vor Überraschungsangriffen schützen und man wollte dazu rationale, das heisst letzten Endes mathematisierbare Vorhersagemodelle menschlichen Verhaltens entwickeln. In den fünfziger Jahren haben die klügsten Köpfe - Psychologen, Verhaltensforscher, Mathematiker, Physiker, Soziologen und natürlich diverse namhafte Vertreter der Think Tanks – daran gearbeitet.
Eine der wichtigsten Erkenntnisse bestand darin, dass für eine mathematische Modellierung menschlichen Verhaltens eine Annahme unabdingbar ist: Jeder Mensch handelt so, dass er seinen eigenen Nutzen mehrt. Er ist also ein rationaler Egoist. Vom Militär breitete sich dieses Denken an der Börse aus, überhaupt in der Wirtschaft und erreichte zuletzt die Konsumenten. Und so verwundert es nicht, dass man heute auch dank der „Social Networks“ grossflächig Trends ermitteln kann. Denn wenn wir alle rationale Egoisten sind, lässt sich gut vorhersagen, wie wir auf den einen oder anderen Stimulus reagieren.
Das Denken verändern?
Aber der Mensch ist nicht nur ein rationaler Egoist. Die Pointe an Schirrmachers Argumentation liegt darin, dass das Menschenbild vom rationalen Egoisten grob vereinfacht ist und wir daher die Potentiale, die zum Beispiel im Altruismus oder in tief verankerten ethischen Werten und Überzeugungen liegen, nicht nutzen können. Das Ganze wird noch durch die damit einhergehende „self fulfilling prophecy“ verschärft: In Experimenten konnte nachgewiesen werden, dass Menschen, denen man erklärt, dass sie egoistisch und aggressiv seien, sich entsprechend schlechter verhalten als Mitglieder einer Kontrollgruppe, denen ein positiveres Menschenbild vermittelt wurde.
Was folgt aber aus diesem Wissen? Leider sehr wenig. Denn es ist fast unmöglich, Denksysteme umzukrempeln, auch wenn man erkannt hat, dass sie falsch sind. Im Jahr 1962 trat der Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn mit seiner Theorie vom „Paradigmenwechsel“ an die Öffentlichkeit. Unter „Paradigma“ verstand Kuhn die Art und Weise, wie in der Wissenschaft Modelle für die Deutung der Wirklichkeit gebildet werden. Grob vereinfacht kann man sagen, dass es sich dabei um Weltbilder handelt.
Fatale Diagnostik
Der Übergang von einem veralteten Weltbild zu einem leistungsfähigeren neuen ist immer mühsam und zum Teil auch konfliktreich. Um beim Beispiel unseres Weltbildes von der terroristischen Bedrohung zu bleiben: Es lässt sich schlichtweg nicht leugnen, dass in der Welt Terroristen herumlaufen, die Übles im Schilde führen. Zu sagen, dass sie bloss Projektionen eines Denkens seien, das den Menschen als skrupellosen Egoisten definiere, wird nicht überzeugen.
Die Kritiker der Überwachungspolitik sind daher gut beraten, sich auf weite Wege einzustellen. So könnten sie fragen, wo in unserer Lebenserfahrung das auf Misstrauen gegründete Denken gut erkennbar an Grenzen stösst. Das geschieht zum Beispiel in der medizinischen Diagnostik:
Jeder weiss und fürchtet, dass auch bei ihm um so mehr Krankheiten entdeckt werden, je gründlicher er untersucht wird. Deswegen gehört es zur Kunst des Arztes, diagnostischen Mittel mit Fingerspitzengefühl einzusetzen. Ein guter Arzt weiss auch, dass ein Eingriff aufgrund einer Diagnose ein zusätzliches Risiko bedeuten kann – und der Patient vielleicht besser ohne diese Diagnose und den Eingriff gelebt hätte.
Schwankender Boden
Der Boden schwankt zwischen zu viel und zu wenig Diagnostik. Eine Patentformel gibt es nicht. Können wir das Beispiel der Medizin auf die Terrorismusbekämpfung übertragen? Ganz sicher ist es so, dass man um so mehr Terroristen findet, je mehr man sucht. Aber es gibt noch einen anderen Effekt: Die Geheimdienste verirren sich immer in ihren weitläufigen Untersuchungen.
James Bamford, der 2001 ein grundlegendes Buch über die NSA vorgelegt hat, beschreibt darin auf vielen hundert Seiten, dass die Geheimdienste in ihrem Eifer stets an den relevanten Fakten vorbeilaufen und bis heute nicht einen einzigen wirklich relevanten Anschlag verhindert haben. Bamford hat dies in einem aktuellen Interview in DIE ZEIT bekräftigt.
Das Dilemma
Es kommt etwas hinzu, das möglicherweise noch schwerer wiegt: Die unmittelbare Bekämpfung der Terroristen, ihre Tötung auf Befehl des Präsidenten der USA, schafft immer neue Terroristen. Medikamente mit derartigen Nebenwirkungen würden von den Gesundheitsbehörden sofort vom Markt genommen.
Und so befinden wir uns in einem Dilemma: Wir können erkennen, wie das Denken, das dem Handeln der Geheimdienste und ihrer Politiker zugrunde liegt, entstanden ist. Wir können sehen, dass es ein zu einseitiges Menschenbild hat. Und es zeigt sich immer wieder, dass dieses Denken vollkommen versagt und darüber hinaus kontraproduktiv ist. Aber es hat sich in unsere westlichen Gesellschaften so tief eingefressen, dass wir es nicht verabschieden können.
Obamas Fehler
Die grösste Enttäuschung bereitet Barack Obama vielleicht nicht einmal mit seiner Amtsführung. Die grösste Enttäuschung bereitet er dadurch, dass er keine geistige Führung übernimmt. Er steht unter Zwängen, er muss Dinge zulassen und tun, die er ganz sicher nicht gerne zulässt und tut. Aber er handelt leider wie ein Exekutor, nicht wie einer, der darauf aufmerksam macht, dass wir auch über unser Denken nachdenken müssen.
Das aber wäre notwendig, um die westliche Freiheit wirklich zu verteidigen und Lösungen in einer Welt zu finden, die Tag für Tag verzweifelter wird. - Aber weil wir ja die Guten sind, liegen alle Irrtümer bei den Bösen.