„Ich will ihn überraschen“, sagt Maya. Sie ist eine junge Japanerin und hat sich unsterblich verliebt. Der Angebetete heisst Jacques. Er wohnt im Stadtteil Shibuya in Tokio und ist Franzose. Maya arbeitet für ein internationales Unternehmen im riesigen Gebäudekomplex von Roppongi Hills in Tokio.
Jetzt will Maya intensiv Französisch lernen, die Sprache ihres Geliebten. An seinem Geburtstag will sie ihn zum Nachtessen einladen, Kerzen anzünden und ihm eine Liebeserklärung machen – auf Französisch, der „langue de l’amour“, wie sie sagt.
Doch Maya arbeitet viel und lang. Sie hat keine Zeit, eine Schule zu besuchen. Zeit hat sie nur am späten Abend und an Wochenenden. So kontaktiert sie im Internet „Learn French at Home“. Das ist keine gewöhnliche Schule.
Maya erhält eine erfahrene Privatlehrerin, die in Frankreich zu Hause ist. Via Internet kommunizieren die beiden. Sie sehen sich, sie hören sich: Skype, eine Art Bild-Telefon übers Internet, macht es möglich. Beide schalten zur abgemachten Zeit ihren Laptop ein, treten via Skype miteinander in Verbindung – und die Schulstunde beginnt.
So lernt nun Maya seit sechs Monaten Französisch, jeden Dienstag und Sonntag um 22.00 Uhr Tokioter Zeit. Am Sonntagvormittag erledigt sie zwei Stunden lang ihre Hausaufgaben.
Eine riesige Kartei mit kompetenten Professoren
Céline Anthonioz ist Gründerin und Direktorin von „Learn French at Home“. Die junge Französin ist in Frankreich und Genf aufgewachsen. Sie ist Französischlehrerin und lebt heute in den USA. Vor sieben Jahren hatte sie in Neuenburg ihre Schule gegründet.
Céline verfügt über eine riesige Kartei mit den Namen kompetenter Professorinnen und Professoren, die sich bereit erklärt haben, bei ihr mitzumachen. Die meisten von ihnen wohnen in Frankreich, der Schweiz, in den USA, Kanada, Australien aber auch in Thailand. Viele sind frühpensioniert oder pensioniert und haben jahrelange Erfahrung. „Learn French at Home“ gibt ihnen die Möglichkeit, etwas Geld zu verdienen. Dabei sind auch junge Professorinnen, die Mütter geworden sind. Von zu Hause aus geben sie – während des Kinderhütens - ihre Lektionen – und verdienen etwas dazu. Auch arbeitslose Lehrer machen mit.
Losgelöst von Raum und Zeit
Célin Anthonioz legt Wert darauf, dass alle einen Professor für ihre speziellen Bedürfnisse erhalten. So wie Richard. Er ist Geschäftsmann in Vancouver. Ihm wird ein Französischlehrer zugeteilt, der Spezialist in Wirtschafts- und Finanzfragen ist. Richard steht in Verhandlungen mit einer Firma im französischsprachigen Québec. Um sicher zu sein, dass er in den Verhandlungen alles richtig versteht, hat er sich entschieden, sein Wirtschafts-Vocabulaire aufzufrischen.
Die Skype-Kurse finden losgelöst von Raum und Zeit statt. Das ist ihr grösster Vorteil. Die Lernenden können mit den Professoren die Kurse dann ansetzen, wenn beide Zeit haben – oft auch spät am Abend, oft erst um Mitternacht. 24.00 Uhr für den Studenten in Mexiko, fünf Uhr abends für den Professor in Paris.
Beide müssen sich nicht in eine Schule begeben. Gelernt wird von zu Hause aus - oder im Büro, oder vom Hotelzimmer aus. Das einzige, was es braucht, sind ein Laptop mit einer Webcam und eine gute Internet-Verbindung.
Über beides verfügt Donna. Sie ist mit einem Sport-Lehrer in der Westschweiz verheiratet. Sie will ihrem Mann bei der Arbeit und ihren Kindern bei den Hausaufgaben helfen. Doch ihr Französisch ist mässig. Céline findet für sie eine junge Professorin in Genf, Mutter eines kleinen Kindes. Nach wenigen Wochen ist Donna schon in der Lage, etwas Französisch zu sprechen. „Sie haben mir Vertrauen in mich zurückgegeben“, sagt sie.
Ab 36 Franken pro Lektion
Die Engländerin Alicia reist viel in der Welt umher. Sie hat eben ein Buch über Indien, Pakistan und Afghanistan geschrieben. Jetzt erfährt sie, dass sie in Paris zu ihrem Buch einige Radio- und Fernsehinterviews geben soll. Ihr Französisch ist recht gut, doch sie fürchtet sich ein wenig.
Céline weist ihr einen früheren Journalisten zu. Er kennt sich gut aus in der Region, von der Alicias Buch handelt. Nach fünf anderthalbstündigen Konversationstrainings fühlt sich Alicia sicher. Die Verlegerin ihres Buches ist begeistert von den Interviews.
Auch Alan ist Kunde bei „Learn French at Home“. Bei der Weltbank in Washington ist er Spezialist für die südliche Sahara. Jetzt muss er den französischsprachigen Medien den Jahresrapport präsentieren.
Für eine anderthalbstündige Privat-Lektion müssen die Lernenden zwischen 36 und 52 Franken bezahlen. Davon erhält „Learn French at Home“ eine bescheidene Vermittlungsgebühr. Wo leben die Lernwilligen? Céline Anthonioz präsentiert eine eindrückliche Liste. Sie hat Kunden in Deutschland, Australien, Belgien, Kanada, China, den USA, in Frankreich, Japan, Lettland, Liberia, den Niederlanden, den Philippinen, Grossbritannien, Russland, Singapur, Thailand, im Sudan und in der Schweiz. Sie alle wollen das Französisch von heute lernen und nicht jenes der Schulbücher.
Ein Miss America will Französisch lernen
Über 700 Kurse hat „Learn French at Home“ schon vermittelt. Zu den Schülern gehört auch eine schottische Französischlehrerin, die den Pariser Slang lernen will. Oder eine „Miss America“, die in Fernsehserien auftritt. Sie träumt davon, von einem französischen Regisseur engagiert zu werden.
Oft wird die Webkamera nur zu Beginn des Kurses eingeschaltet. Man begrüsst sich und lächelt sich zu. Dann wird das Bild ausgeblendet. Nur der Ton ist dann offen. So kann man sich besser, auf die Sprache konzentrieren.
Céline Anthonioz betreibt das Projekt zusammen mit ihrem Mann, einem Webmaster und Kommunikationsspezialisten. Beide haben in vielen Ländern gelebt und wissen, wie wichtig es ist, eine Sprache zu beherrschen. Ihre Kunden sind Leute, die weder Lust noch Zeit haben, traditionelle Schullektionen zu absolvieren.
Violin-Unterricht via Skype
www.learnfrenchathome.com gehört zu den Vorreitern dieses „neuen Lernens“. Natürlich beschränken sich die Möglichkeiten nicht nur auf Sprachkurse. Skype öffnet Tür und Tore. Da kann ein Physik-Professor in Boston einem Schüler in Bologna Physikunterricht geben – oder ein Mathematikprofessor in Magedburg skypt mit einem Studenten in Moskau.
Simon L. ist Sänger und arbeitet am Opernstudio in Zürich. Einer seiner Freunde, Juan Carlos, ist Geiger. Der gibt – via Skype – von Deutschland aus einem Schüler in Venezuela Violin-Unterricht.
Doch Maya, die Japanerin, kann ihren Jacques nicht mit einer französischen Liebeserklärung überraschen. Fukushima hat den Franzosen in Panik versetzt. Fluchtartig hat er das Land verlassen - und Maya dazu. Zwar ist er seither zurückgekehrt, doch ihre Liebe hat den Tsunami nicht überlebt. Kein Kerzenschein-Dinner. Maya nimmt es locker.
„Tant pis“, sagt sie auf Franzöisch, "avoir appris une nouvelle langue me rend plus forte, et maintenant j'ai vraiment envie d'aller en France!",