Die künftigen Mitschüler und ihre Eltern hatten sich im proppenvollen sauerstoffarmen Klassenzimmer versammelt, und die Lehrerin, eine gütige, Vertrauen erweckende Frau, forderte uns zappelige Frischlinge auf, ein Verslein zum Besten zu geben, das wir im Kindergarten oder sonstwo gelernt hatten. Ich war wie vom Donner gerührt. Ich hatte weder den Kindergarten besucht, noch kannte ich ein Verslein, und ich kam mir schrecklich fehl am Platz vor unter all diesen Kindern aus – wie man sagte – meist „gutem Haus“. Schwitzend und hochroten Kopfes stand ich noch vor all den Darbietungen auf, um ein Blamage verhinderndes Forfait zu verkünden: „Aber ig cha de nüüt!“ Worauf die Lehrerin zu mir kam, mir beruhigend übers Haar strich und sagte: „Mir lehres de scho.“
Was ich damals in frühschulischer Aufwallung empfand, war Unterprivilegiertsein. Ich entstamme einer sogenannt bildungsfernen Familie. Die anderen Kinder hatten etwas, das ich an mir plötzlich als fast kränkende Unzulänglichkeit, als Handikap der Herkunft feststellte. Sie hatten einen Vorsprung. Nicht dass ich ihn so wahrgenommen hätte, wie man ja üblicherweise das Privileg definiert: als unverdienten Vorsprung. Aber eine Art von Sensibilität für Asymmetrie meldete sich spontan. Ich habe sie bis heute nicht verloren.
Eine Podiumsdiskussion
Der amerikanische Literaturprofessor Robert Boyers beschreibt kürzlich, wie er in einer Podiumsdiskussion über politische Fiktion von einer Studentin darauf hingewiesen worden sei, dass dieses Genre hauptsächlich männliche Autoren privilegiere.[1] Boyers fragte sie, ob sie denn nicht Autorinnen kenne wie Doris Lessing, Nadine Gordimer, Ingeborg Bachmann, Pat Barker, Joyce Carol Oates und andere, über die er, Boyers, geschrieben habe. Woraufhin nun eine andere Kommilitonin erbost das Wort ergriff: Ob er sich eigentlich seines Privilegs bewusst sei. Privileg in welchem Sinn? fragte Boyers. Das Privileg der männlichen Autorität, die Anmassung eines Autors und bestallten Professors, eine Reihe von grossen Frauen zu zitieren, um damit eine Frau zu blamieren, war die Antwort. Er stelle Fragen, erwiderte Boyers, von denen er meine, etwas Nützliches herausholen zu können. Dabei sei er sich durchaus seines Privilegs als Professor kritisch bewusst – sofern es sich überhaupt um eines handle - , aber er erwarte im zivilisierten Rahmen einer Podiumsdiskussion die Fähigkeit, anzuerkennen, dass alle Teilnehmenden Nutzniesser von mehreren verschiedenartigen Privilegien sind.
Der Privilegien-Knüppel
Eigentlich eine Trivialität, möchte man aus hiesiger Sicht sagen. Nur muss man vorsichtig sein, wenn man europäische Trivialitäten tel quel auf die USA überträgt. Das Diskurs-Klima scheint sich dort, wie man hört, gerade auf Campussen verschlechtert zu haben. In der politischen Diskussion taucht der Ausdruck „privilege turn“ auf. Ich bevorzuge „Privilegien-Knüppel“ - eine rhetorische Stilfigur, mit der man jedem Gegner den strafenden Laufpass geben kann, indem man ihn irgendeines „Privilegs“ bezichtigt: Du hast gut reden, du als Europäer, Weisser, Mann, Studierter, Lehrer, Hausbesitzer, Grossverdiener, Kadermitglied, glücklich Verheirateter, Steuerbegünstigter, Nichtbehinderter, Gutaussehender – ein Privilegiertenstatus lässt sich immer konstruieren, weil der eine immer etwas hat, was der andere nicht hat. In dieser Hinsicht ist der Privilegien-Knüppel eng verwandt mit der Identitäts-Keule,[2] also eigentlich ein äusserst probates Instrument zur Inhaltsentleerung von Diskussionen: Statt auf das Argument einzugehen, geht man auf den Argumentierenden los – eben mit dem Knüppel. Der Instant-Applaus oder die Instant-Empörung ist einem gewiss, also der begehrte Lohn in unserer überreizten Kultur: Aufmerksamkeit. Muss man eigens hinweisen, welche medialen Arenen diese Unsitte bei uns „privilegieren“?
Der Privileg-Vorwurf als Beleidigung
Der Vorwurf der Privilegiertheit wird immer auch von der impliziten Annahme getragen, dass Menschen leicht „lesbar“ werden, wenn man sie ins Futteral irgendwelcher Kategorien steckt: der Rasse, Klasse, Ethnie, Profession, Elite, Kultur, Religion. Auch das Privileg ist ein solches Futteral. Wenn man den Begriff in diesem kategorisierenden Sinn verwendet - „Du als Weisser ..“ oder „Du als Hausbesitzer..“ -, versieht man jemanden mit dem Stigma, unverdient Vorteil und Vorrang zu geniessen. Man sieht nicht den Menschen, sondern die Sorte von Mensch. Unter dem Deckmantel sozialer Kritik beleidigt man ihn. Und man befeuert die scheinheilige Rhetorik des „Wir“ und „Ihr“. Diese Privileg-Kritik will vor allem scharfe Linien zwischen „Schuldigen“ und „Unschuldigen“ ziehen. Eine kräftige Prise Missgunst ist stets untergehoben.
Privilegiertsein verpflichtet
„Privilegierter“ sei das „Schimpfwort Nummer 1 unserer Zeit“, schreibt Phoebe Maltz Bovy, Autorin von „The Perils of ‚Privilege’“ (2017). Die Invektive muss natürlich irgendwie pariert werden. Dieses Parieren nennt sich in den USA neuerdings „privilege checking“: Wenn du Privilegien hast, verfolge ihre Spuren bei deinen Ahnen und Urahnen, überprüfe, was alles an Rassismus, Chauvinismus, Sexismus, Repression und Gewalttätigkeit an deinem Status kleben könnte. Jedes Privileg birgt eine Geschichte von versteckter Schuld oder versteckten Schuldigen. Phoebe Maltz Bovy schreibt dazu: „Eine gewisse Art von selbstkritischem Privilegiertheits-Bewusstsein ist zum guten Ton der Oberschicht oder der oberen Mittelschicht geworden, vielleicht sogar eine neue Form von ‚noblesse oblige’, die die Klassentrennung wieder verstärkt.“[3] Denn statt soziale Ungerechtigkeiten wirklich herauszufordern, fordern Wendungen wie „Prüfe deine Privilegien“ oder „Deine Privilegien zeigen sich“ bloss zum Bekennen auf. In dieser Attitüde erteilen sich die Privilegierten Selbstabsolution. Logisch: Das Privilegien-Prüfen ist das Privileg der Privilegierten.
Ein Musikgehör für Asymmetrien
Man kann das „privilege checking“ als letzten Schrei in der Chronik des laufenden Schwachsinns politischer Korrektheit abtun. Aber gibt es denn nicht Ungleichheit und Ungerechtigkeit zuhauf? fragt man spätestens jetzt ungeduldig. Gewiss doch! Nur Narren oder total Vernagelte leugnen, dass zum Beispiel das Attribut „weiss-und-männlich“ lange Zeit und vielerorts zu einem privilegierten Status gereicht hat und es immer nocht tut. Zufällig stiess ich auf die unübertreffliche Formulierung in einem Tweet: „Liebe weisse Leute: Niemand sagt, dass euer Leben nicht auch hart sein kann, wenn ihr weiss seid; aber hart ist es nicht, weil ihr weiss seid.“
Das heisst, wir tun gut daran, Privilegiertheit nicht als Knüppel einzusetzen, sondern ein Musikgehör zu entwickeln für die grossen Kleinigkeiten unseres Zusammenlebens, für alle die impliziten Asymmetrien, auf die wir täglich stossen. Oft muss man sie ja erst mit Mühe kenntlich machen, weil sie sich derart unsichtbar in unserem sozialen Gewebe eingenistet haben. Etwa da, wo Frauenlöhne für gleiche Arbeit stillschweigend niedriger sind als Männerlöhne; wo die Aufnahmebedingungen für Schulen Gesellschaftsschicht, Herkunft oder Vermögen der Eltern bevorzugen; wo weibliche Angestellte täglich den Belästigungen von männlichen Kollegen ausgesetzt sind, ohne dass dies einmal aufs Tapet käme; wo scheinbar trivialer Spott oder Lächerlichmachung Menschen Kränkungen und Schäden zufügen können, ohne dass die Spötter überhaupt Gehör dafür zeigten. Nicht alle geraten in einen Shitstorm, wenn sie Tweets versenden wie die Journalistin Justine Sacco 2013: „Auf dem Weg nach Afrika. Hoffe, ich kriege nicht AIDS. Kleiner Witz. Ich bin weiss!“
Ich habe seit meiner ersten Schulstunde ein paar Dinge gelernt. Und die Worte der Lehrerin sind immer noch in meinem Ohr: „Mir lehres de scho.“ Gerade was soziale Asymmetrien anbelangt, hat man nie ausgelernt.
[1] Robert Boyers: The Privilege Predicament, The American Scholar, 5.3.2018; https://theamericanscholar.org/the-privilege-predicament/#
[2] Eduard Kaeser: Identity first! Journal 21, 2.9.2017.
[3] Phoebe Maltz Bovy: Checking Privilege Checking, The Atlantic, 7.5.2014; https://www.theatlantic.com/politics/archive/2014/05/check-your-check-your-privilege/361898/