„Oh Gott, ist diese Insel Satans letzte Festung, wo sie Deinen Namen noch nie gehört haben?“ So lautete ein Eintrag im Tagebuch von John Allen Chau, das er am frühen 15. November den Fischerleuten übergab, als sie ihn zur North Sentinel-Insel fuhren.
Wächter
Dort setzten sie ihn vor der Brandung des Riffs ab. Mit seinem Kajak ruderte Chau dann einen halben Kilometer durch das seichte Wasser zum Inselstrand. Dort wollte er den Sentinelesen Geschenke hinlegen: eine Schere, einen Fussball, einen Korb mit Fischen; und eine Bibel.
Sentinel bedeutet „Wächter“, eine Person oder ein Steinwächter, in diesem Fall eine Insel in der Andamanen-Gruppe, wohl weil sie der Hauptinsel vorgelagert ist. Wie der Name der Insel ist auch jener für seine Bewohner – die Sentinelesen – einer, der ihnen von aussen gegeben wurde, in diesem Fall durch die britische East India Company, als sie sich den Archipel Ende des 18.Jahrhunderts einverleibte.
Besuch der Ethnologen
„Von aussen“ – das ist das Schlüsselwort für diese Insel und ihre Bewohner. Chau ist bloss der letzte in der Reihe der vielen Aussenseiter, die versucht haben, die etwa 60 Quadratkilometer grosse Insel zu betreten – englische Pflanzer und Abenteurer, indische Regierungsbeamte, Ethnologen, gestrandete Fischer, Filmemacher, Touristen.
Nur wenigen gelang es, etwas mehr als nur Sichtkontakt herzustellen und mehr als nur Kokosnüsse ins Wasser zu werfen, um damit die friedvolle Absicht kundzutun. Ein britischer Marine-Offizier war 1881 unter bewaffneter Begleitung auf der Insel gelandet. Er konnte eine Familie von sechs Sentinelesen einfangen und brachte sie in den Hauptort Port Blair; die beiden Erwachsenen starben kurz darauf, die vier Kinder wurden als „unbrauchbar“ wieder auf der Insel ausgesetzt.
1967 gelang es einem Team indischer Ethnologen, die Insel zu betreten; sie fanden im dichten Dschungel eine Lichtung mit achtzehn leeren Hütten, vor denen noch Glut brannte; sie liessen vor jeder eine Kokosnuss zurück. Bei einer zweiten Annäherung blieben sie in ihrem Boot; einige Einwohner näherten sich ihnen und nahmen aus ihrer Hand Kokosnüsse entgegen.
Genetisch älteste Menschen
Weitere Kontaktversuche blieben aus, weil jedes Boot, das über die Brandung setzte, mit Pfeilen begrüsst wurde. So erging es auch einem Armee-Helikopter, der nach dem Tsunami von 2004 auf einem Erkundungsflug zu einer Landung ansetzte und in einen Pfeilregen geriet. Schlimmer war das Los von zwei betrunkenen Fischern, die auf der Insel gestrandet waren. Ein Such-Team, das sich der Insel näherte, sah, wie die zwei am Strand begraben wurden.
Nichts illustriert die Leerstelle in unserem Wissen über North Sentinel drastischer als die Schätzungen über dessen Bevölkerungszahl: Sie schwankt zwischen 18 und 500 Bewohnern. Man weiss nicht einmal, ulkte ein indischer Journalist, ob die Kokosnüsse jeweils gegessen werden – oder als Fussball dienen.
Für Anthropologen ist dieser weisse Fleck gleichzeitig betrüblich und erfreulich. Denn die rund sechzig Andamanen-Inseln (und die weiter südlich gelegene Nikobaren-Gruppe) sind die Heimat der genetisch vielleicht ältesten Menschen der Erde. Von den rund zwei Dutzend Gemeinschaften sind die meisten allerdings ausgestorben. Und nur die Sentinelesen sind bisher jeder „Zivilisierung“ aus dem Weg gegangen.
Infektionen
Von den Gross-Andamanesen, die vor hundert Jahren auf 8000 geschätzt wurden, sind noch 44 Personen am Leben. VOn den Onge und Jarawa, die bis in die Achtziger Jahre zurückgezogen in ihren Wäldern lebten, gibt es noch einige hundert.
Wie so oft waren Anfälligkeit für Infektionen, der Verlust der angepassten Ernährungsbasis und die psychischen Folgen des sozialen Kollapses die hauptsächlichen Gründe für das Aussterben – mit anderen Worten: der tödliche Kontakt mit unserer Zivilisation (von Kritikern gelegentlich boshaft als Syphilisation umbenannt).
Mitentscheidend war aber auch die Politik des indischen Staats (die Andamanen und Nikobaren unterstehen der direkten Verwaltung Delhis). Ureinwohner geniessen gemäss Gesetzgebung einen hohen Schutz. Dies hat die Regierung aber nicht davon abgehalten, mitten durch das Jarawa-Stammesgebiet einen National Highway zu ziehen. Er soll den Tourismus ankurbeln sowie industrielle Fischzucht und -handel fördern. Die Touristikbüros von Port Blair kitzeln Besucher mit dem Versprechen, nackte Menschen zu „sichten“.
Ansiedlung von Flüchtlingen
Besonders einschneidend war der Entschluss Delhis in den siebziger Jahren, viele tausend Flüchtlinge aus dem ehemaligen Ostpakistan in den Andamanen anzusiedeln. Bengali ist dort heute stärker verbreitet als Hindi – von den Stammessprachen nicht zu reden.
Immerhin ist es Forschern des Centre for Cellular and Molecular Biology in Hyderabad gelungen, mithilfe von Blutproben einer Reihe von Jarawa, Gross-Andamanesen und Onge DNA-Substanz zu entnehmen. In seinem (überaus empfehlenswerten) neuen Buch, „Who We Are And How We Got Here“, zeigt der Harvard-Genetiker David Reich, dass die Onge und Jarawa keine genetische Verbindung mit den eurasiatischen Ablegern des Homo Sapiens aufweisen. Es könnte also sein, dass die Ureinwohner der Andamanen aus Afrika eingewandert sind, noch bevor die erste Wanderbewegung des Homo Sapiens vor rund 50’000 Jahren in Richtung Europa, Mittelost und Asien einsetzte.
Aus eben diesem Grund wäre ein Kontakt mit den Sentinelesen sehr interessant. Linguisten und Ethnologen vermuten, dass sie mit den Jarawa und Onge verwandt sind. Doch weisen sie offenbar einen anderen Wuchs auf, und Gewährspersonen dieser Gemeinschaften behaupten, die Sprache der Sentinelesen (deren Rufe sie als Bootsbegleiter der Ethnologen mitgehört hatten) nicht zu verstehen.
Abkapselung
So wichtig DNA-Proben der Bewohner von North Sentinel wären, so dankbar sind die Forscher auch, dass sie so hartnäckig an ihrer Kontaktverweigerung festhalten. Denn sie besitzen vielleicht eine uralte Genom-Struktur, deren DNA sich sonst nur mühsam aus archäologischen Überresten isolieren und rekonstruieren lässt.
So leicht lässt sich der Homo Sapiens nicht davon abbringen, jede erdenkliche Lücke in seinem Wissensapparat füllen zu wollen. Die Sentinelesen mögen ja über Gene verfügen, die ihren Trägern einimpfen, dass sie an der sozialen Abkapselung als Überlebensrezept festhalten.
Beim Homo Sapiens scheint das Gegenteil der Fall zu sein: Statt nur diesseits der Riffe im seichten Wasser zu fischen, umsegelt er die Weltmeere. Er „macht sich die Erde untertan“. Und die Vorbedingung dafür lautet: Er muss alles wissen. Kognitive Leerstellen geben ihm einen Horror Vacui.
Bei John Allen Chau, Sohn einer amerikanischen Juristin und eines chinesisch-stämmigen Psychiaters, ging es nicht um Wissen, sondern um Macht – die Deutungsmacht, welche die Bibel für sich beansprucht. Von mehreren Reisen auf die Andamanen wusste er bereits, dass North Sentinel eine Satansinsel ist, eine, die die „natürliche“ Ordnung des christlichen Gotts nicht anerkennt.
Evangelikale Missionare
Es ist dasselbe Denkmodell, das während Jahrhunderten das Lotterbett zwischen Kolonialmacht und Missionierung befruchtet hat. Wer denkt, dass mit dem Ende des Kolonialismus auch die Christianisierung ein Ende nehmen würde, muss über die Bücher. Die New York Times berichtete letzte Woche, dass die Zahl der evangelikalen Missionare aus den USA von 50’000 im Jahr 1970 auf heute 130’000 gestiegen ist.
Chau verkörpert die fundamentalistische Virulenz der Evangelikalen auf ideale Weise. Er war jung, einnehmend im sozialen Kontakt, diskret und abenteuerlustig. Vor allem aber war er ein Gottgesandter, dafür ausersehen, die letzten weissen – schwarzen! – Flecken auf der Weltkarte auszuradieren.
Es war wohl dies, das ihn am 15.November antrieb, einen erneuten illegalen Besuch zu wagen, nachdem er am Vortag am Strand bereits gemerkt hatte, dass er nicht willkommen war. Er selbst hatte am Abend im Tagebuch in einer Mischung von Angst und Frohlocken notiert, dass ihm vielleicht der Tod bevorsteht. Ahnungsvoll beschrieb er, wie ein etwa zehnjähriger Junge einen Pfeil auf ihn abschoss, dessen Spitze in seine – Bibel drang.
Als die Fischer am Abend wieder vor der Brandung aufkreuzten, um Chau und sein Kajak an Bord zu nehmen, sahen sie, wie grossgewachsene nackte Männer einen toten Körper den Strand entlang schleppten.