Die „NZZ am Sonntag“ fragt in ihrer letzten Ausgabe, wie es Gewerbeverbandschef Bigler geschafft habe, die SRG-Vorlage in so grosse Nöte zu bringen. Es wäre tatsächlich zum Staunen, wüsste man nicht (und ich vermute, auch der NZZaS-Redaktor weiss es), welch mächtige Allianz hinter dem Erfolg steht. Sie reicht von einer starken rechtsbürgerlichen (und normalerweise „heimatverbundenen“) Front bis zu linken Quotenverächtern; vom Printjournalisten, der den Kollegen des privilegierte SRF die eigene Prekarisierung übel nimmt, bis zu den hiesigen Grossverlegern, die um ihre digitalen Fischgründe bangen. So wird die gewiss neutrale „Idée Suisse“ als „Staatssender“ verteufelt, zum „Moloch“, zum „Geschwür“ und zur „Gefahr für die Freiheit“ ernannt; Qualifikationen, die in den letzten Wochen in sehr anständigen Zeitungen zu lesen waren. Über die unsägliche Segert-Sonderausgabe der „Gewerbezeitung“ sollte man angewidert schweigen.
Die Interessen, die hinter dieser Koalition stehen, sind vielfältig, finanzstark, und sie wüten gnadenlos aus allen Windrichtungen. Ein perfekter Sturm, dem der Kapitän auf dem SRF-Schiff ziemlich einsam Stand zu halten versucht. Dass er, seiner Rolle entsprechend, Kurs hält und die vom Parlament deutlich angenommene Gesetzesvorlage verteidigt, ist nichts als seine Pflicht. Ihn dafür zu schelten, ist absurd (wie es wiederholt die „Weltwoche“ tat). Bemerkenswert ist höchstens, dass es kaum Parlamentarier gibt, die ihm beistehen; fürchten die anderen einen Presseboykott? Häme hat de Weck jedenfalls nicht verdient, selbst wenn sein Einsatz scheitert.
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Aufschlussreich ist der Abstimmungskampf zur RTVG-Revision aber für eine Analyse der gegenwärtigen Lage der Nation. Neben der unübersehbaren Demonstration der „Neuen Gehässigkeit“, die die Mediendemokratie des 21.Jahrhunderts kennzeichnet, zeigt er, wie sehr gewisse Basiselemente des schweizerischen Selbstverständnisses brüchig geworden sind.
Dass die Notwendigkeit eines starken „Service public“ zum Kernbestand der helvetischen Kollektivüberzeugungen gehört, schien vor der aktuellen Debatte fraglos klar zu sein. Dass es nicht so ist, haben wir nun gelernt. – Was sind die Ursachen des Wandels? Und was könnte daraus folgen?
Kausal sowohl für die Meinungsverschiebung des demokratischen Souveräns wie für die Freisetzung kräftigster SRG-Idiosynkrasien sind erstens die digitale Revolution; zweitens die dadurch beeinflusste Mentalität breiter Bevölkerungsschichten; drittens politische Ideenlehren und Interessenverbände auf der Rechten („Weniger Staat, mehr private Marktfreiheit!“), sowie politische Ideenlehren und Interessengruppen auf der Linken („Aufklärung, nicht Fussball für das Volk!“).
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Das müsste jetzt lange und nachdenklich erläutert werden. Insbesondere der Zusammenhang zwischen der technischen Digitalisierung unserer Lebenswelt und massenwirksamen, mentalitätsprägenden Denkweisen ist ein Thema, das noch lange nicht genügend erforscht ist. Einige seiner schon jetzt erkennbaren - „Service public“-kritischen – Konsequenzen erlauben immerhin Rückschlüsse:
Digitalisierung gestattet in einem bisher unbekannten Ausmass die Individualisierung fast aller Prozesse und Vollzüge, die in der Welt der Industriemoderne sonst nur als Realisierung genereller, d.h. individualitätsunsensibler Regelungsschemata zu leisten waren. Das ist ein sehr abstrakter Satz von sehr konkreter Bedeutung. Um nur das gerade aktuellste Beispiel zu erwähnen: Wer hätte gedacht, dass ein so individualitätsbestimmer Vorgang wie die Steuerung eines einzelnen, vom Lenkerwillen abhängigen, also hoch beweglichen Autos im Stadtverkehr (nicht umsonst fahren Trams auf Schienen!), schon heute machbar ist?
Da solch technisch erzeugte Individualisierung aber zugleich chipbasierte Automatisierung ist, einerseits also personelle Arbeitskraft ersetzt, anderseits entgrenzte Anwendungsbereiche eröffnet, ist sie ebenso kostengünstig wie libertarismusfreundlich; daher für jeden Vertreter möglichst freier Marktwirtschaftlichkeit eine begeisternde Angelegenheit. – Wozu braucht es noch Staatsmonopole, um allen Bürgerinnen und Bürgern eine für profitorientierte Anbieter zu kostspielige Versorgung wünschenswerter Dinge zu sichern, wenn das gewünschte Gut – spezialisierter und direkter an alle, dies es haben möchten – nun eben privat und marktwirtschaftlich geliefert werden kann?
Ich denke, genau hier liegt (jedenfalls für eine liberale Philosophie der gegenwärtigen Welt) der entscheidende Punkt; und zwar für die Diskussion sehr vieler rechtlich-normativer Strukturen wie ganz besonders für die des (schweizerischen) „Service public“: nämlich das doppelte Problem, inwiefern es noch immer (oder erst recht!) auch heute vom Staat – der „hoheitlichen Gewalt“ – garantierte Güter braucht/nicht braucht; und inwiefern sie als überflüssig oder sogar als freiheitsgefährdend zu betrachten sind.
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Wie die Repliken von der wirtschaftsliberalen beziehungsweise von der linken, konsumkritischen Seite lauten, ist mehr oder weniger prognostizierbar. Weniger selbstverständlich ist die Antwort für Leute, die Ideale wie Gemeinsinn, republikanische Staatsbürgerlichkeit, aber auch einen übergreifenden öffentlichen Raum wichtig finden, in dem verschiedene, manchmal konträre Stimmen und nicht bloss die Resonanz des eigenen Echos zu hören ist. Denn eben dies zu gewährleisten, war und ist immer noch die Aufgabe der („zwangsfinanzierten“) „Idée Suisse“...
Welchen Ausgang die Abstimmung vom 14.6. auch nimmt: die aktive Erinnerung an diesen Sinn darf in der „flach“ gewordenen Welt von google, apple & co. nicht verstummen. Wer das Gegenteil behauptet, ist ganz sicher allzu „heimatmüde“.