Der klassische ‚Pas de Deux’, alles „Schönheit und reine Harmonie“, ist nicht mehr zeitgemäss. Heute müssen auch Brüche, Zwiste, wie auch die äussere und innere Zwänge einer Beziehung gespiegelt werden. So könnte das Credo von Sol Leon und Paul Lightfoot lauten, den jetzigen Chefchoreographen des Nederlands Dans Theater (NDT).
Wenigstens was den von ihnen konzipierten, speziellen Abend in Baden Baden betrifft. Doch gingen sie da noch weiter. In der ersten und der dritten Choreographie ging es um Paarbeziehungen. In der zweiten aber um das zwischenmenschlich Widrige überhaupt. Szenen, die sich an Goyas grausigen Kriegsstichen inspirierten verstören auch in ihrer Ballettfassung.
Damit beschreitet das Nederlands Dans Theater neue Wege. Gegründet wurde es 1959 als sich eine Gruppe von 22 Künstlern vom Nederlands Ballet lossagten. Danach haben diese mit dem Nederlands Dans Theater über Jahre hinweg mit einem Repertoire von rund 600 Balletten Pionierarbeit für den modernen Tanz geleistet; dabei waren auch Grössen wie Hans van Manen und Jiri Kylian. Ein grosses Anliegen ist dem NDT dabei - gerade im Stammhaus in Den Haag - die Förderung junger Künstler. Nachdem die grossen Choreographen die Compagnie verlassen hatten, gab es eine Durststrecke. Diese scheint nun mit der Verpflichtung des Paares Sol Leon und Paul Lightfoot überwunden zu sein. Ihr Engagement bedeutet einen Generationenwechsel. Die Spanierin und der Engländer, beide früher Tänzer des NDT, arbeiten seit 1989 zusammen und schaffen dabei Choreographien, Bühnenbild und Kostüme. Für den Abend in Baden Baden wurden drei zu verschiedenen Zeiten entstandenen Balletten zu einer Trilogie gefügt.
Ausbruch in neue Zweisamkeit
Kreativ zeigte sich hier bei der ersten Choreographie ‚Sehnsucht’ schon das Bühnenbild: Ein sich immer wieder drehender Würfel, nur bestückt mit Tisch und Stuhl und in den Seiten ein Fenster und eine Türe bildet den engen Raum, in dem sich das erste Paar bewegt. Sie versuchen sich in der Enge so weit wie möglich voneinander zu entfernen bis der Mann ausbricht und dort seine Männerphantasien mit Männerspielen und Mädchen auslebt. Ganz entspannt kommt er zurück und bewegt sich selbst in der Enge so frei, dass nun die Frau ausbricht. Schliesslich feiern beide den Ausbruch in neuer Zweisamkeit: Die Entwicklung einer Paarbeziehung wie sie eindrücklicher nicht zu zeigen ist.
Im dritten Akt ‚Shoot the Moon’ wird das Thema ‚Paar’ wieder aufgenommen. Ein Kreis ist in drei ineinander gehende Räume geteilt, die auf einer Drehbühne immer wieder am Zuschauer vorbeiziehen. In jedem lebt ein Paar seine jeweiligen ‚Szenen einer Ehe’ aus. Man schaut sich zu, wechselt die Partner. Ein Vexierspiel, bei dem man nicht sicher ist, ob es sich wirklich um drei, oder doch nur um ein Paar in diversen Situationen handelt.
Die Tänzer machen dabei scheinbar ‚natürliche’‚ wenn auch dramatisch überhöhte Bewegungen. ‚Natürlich’ steht dabei nur für die Flexibilität von Tänzerkörpern. Sie tanzen dabei fast barfuss, nur mit Gazeschühchen - und in Kostümen, die einer sehr reduzierten, eher düsteren Alltagskleidung ähneln.
‚Sehnsucht’ wurde zu Musik auf Band getanzt: Passagen aus Ludwig van Beethovens Klavierkonzerten Nr. 3 und Nr. 4 und seiner Sinfonie Nr. 5, gespielt von den Berliner Philharmonikern, dirigiert von Herbert von Karajan (Sinfonie) und Claudio Abbado Klavierkonzerte. Am Klavier war Maurizio Pollini.
Die Musik zu ‚Shoot the Moon’ war Philip Glass’ Movement II aus: ’Tirol Concerto for piano and orchestra’. Sie wurde live gegeben vom Orchester der Hochschule für Musik Karlsruhe unter Per Kritian Skalstad
Auch der starke Mittelteil ‚Same Difference’ wird zu Live Musik von Philip Glass getanzt.
Sol Leon nannte als ihr Thema den ‚Egoismus’ und dichtete Folgendes dazu:
Das Chaos des Egos
Ist oft nur
Ein grosser Lärm der Angst
Doch am Ende
Kann nur das wahre Selbst entscheiden, wann
Es sich davon löst
Einfach nur über den begrenzten Raum hinaus
In das fürs Ego Unbekannte,
und Du wirst die Freiheit finden.
Doch um mehr als Ego geht es in dem Ballett, das sich Goyas Stiche ‚Desastres de la Guerra’, Szenen aus der napoleonischen Besatzung und dem spanischen Freiheitskampf dagegen, als Inspiration genommen hat. Hier drücken sich die Tänzer nicht nur körperlich, sondern auch stimmlich aus. Sie wimmern, stöhnen, schreien, protestieren und schimpfen in ihrer jeweiligen Muttersprache gegen Gewalt und Grausamkeit. Es gibt ‚den Poeten, die ‚Maria’, ‚Den, den es nicht gibt’, den ‚Schatten’, den ‚Soldaten’ etc. und Szenen, die Akte der Brutalität nachzeichnen.
Dieses sehr düstere Ballett, das das Grauen direkt physisch spürbar macht, ist choreographisch das modernste und interessanteste Stück des Abends. Es weitet den Tanz deutlich aus; geht ins Gestische und ins Pantomimische über und zeichnet surrealistische und groteske Bilder. Damit bietet es eine überwältigende Fülle von Eindrücken, die gerade hier in ihrer Schwärze schwer zu verdauen sind.
Das Publikum liess sich zu einer stehenden Ovation hinreissen.