Was nicht verwundert, denn die neue Bildungstheorie ist verkappte Betriebsökonomie.
Erziehen ist wie Kunstdünger herstellen
Als Strippenzieherin agiert die mächtige Wirtschaftsorganisation OECD. Was ihr Menschenbild angeht, so drückt sich bereits der Bericht über eine 1961 in Washington einberufene Konferenz unmissverständlich aus[1]. Bildung, so heisst es da, sei „wirtschaftliche Investition“ in den Menschen; vom „Produktionsfaktor Lehrer“ ist die Rede und dem „Rohstoff Schüler“. „Heute versteht es sich von selbst, dass auch das Erziehungswesen in den Komplex der Wirtschaft gehört, dass es genauso notwendig ist, Menschen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen. Das Erziehungswesen steht nun gleichwertig neben Autobahnen, Stahlwerken und Kunstdüngerfabriken (sic!).“
Die Konferenz scherte sich keinen Deut um Kultur und Bildungstradition der einzelnen Länder. Vielmehr will das neue Menschenbild, so die OECD, „nicht weniger, als dass Millionen Menschen von einer Lebensweise losgerissen werden sollen, die seit Jahrhunderten und Jahrtausenden das Lebensmileiu ausmachte. Alles, was bisher an Schule und in der Erziehung in diesen Ländern geleistet wurde, verfolgte soziale und religiöse Ziele, die (..) vorwiegend Resignation und spirituelle Tröstung (sic) gewährten; Dinge, die jedem wirtschaftlichen Fortschrittsdenken glatt zuwiderlaufen. Diese jahrhundertealten Einstellungen zu verändern, ist vielleicht ie schwerste, aber auch die vordringlichste Aufgabe der Erziehung.“ Wenn die OECD von „Entwicklungsländern“ spricht, dann meint sie explizite auch die Nationen Europas. Sie alle brauchen Entwicklungshilfe, und diese Hilfe heisst PISA.
Kompetenz statt Bildung
PISA führt seit 15 Jahren Leistungsmessungen im Geiste dieses Menschenbildes durch. Und als Kernbegriff fungiert dabei die Kompetenz. Im Grunde ersetzt der Kompetenzbegriff den alten Wissensbegriff in Bildung und Ausbildung, und insofern übt er einen fundamentalen Einfluss auf die gegenwärtige Bildungsdebatte aus. Ein kritischer Blick auf ihn erscheint angesagt. Ich möchte mich hier nicht in der Begriffsgeschichte verlieren, und konzentriere mich auf einen zentralen Bedeutungsaspekt.
Der am heute massgebenden Kompetenzbegriff beteiligte Psychologe Franz E. Weinert definiert Kompetenz als „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften (..), um Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.“ Kompetenz als „Bereitschaft“ bedeutet: man will auch den prüfenden Zugriff auf das Innere – auf Beweggründe, Absichten, Sozialverhalten - von Individuen haben, um es völlig unterschiedlichen Bedingungen anpassen zu können. Ganz nach dieser Logik schreibt zum Beispiel das Landesinstitut für Schulentwicklung Baden-Würtemberg, dass sich „der Fokus von Bildung im Humboldtschen Sinne von der individuellen intellektuellen Entwicklung zu den jeweiligen Kontexten (verschiebt), in denen eine Person kompetent agieren können sollte. Der jeweilige Kontext schafft einen neuen Bezugsrahmen: Die ‚Outputorientierung von Lernprozessen’ steht von nun an im Zentrum des Bildungsbegriffs.“
Outputorientierung
Abgesehen von seiner Hässlichkeit, gibt das Wort „Outputorientierung“ klar den Kurs vor. Als oberstes Gebot für Schulen und Hochschulen gilt es nun, mittels neuester Lerntechniken sich auf einen möglichst wirtschaftsdienlichen Ausstoss zu konzentrieren. Im Sinne von Wilhelm Buschs „Rickeracke, geht die Mühle mit Geknacke“; und sie entlässt als Output lauter Abgänger, „fein geschroten und in Stücken.“ Ade alte Bildungsideale! Die Weltbank formulierte das schon vor 20 Jahren weniger poetisch als Busch: „Eine Orientierung am Output bedeutet, dass die Prioritäten in der Erziehung bestimmt werden durch ökonomische Analyse, das Setzen von Standards und die Prüfung, ob die Standards erreicht werden.“[2] Das hat der Erziehungswissenschafter Jochen Krautz sarkastisch kommentiert: „Qualität bemisst sich dann nicht primär an der Beschaffenheit des ‚Produkts’ (Schüler, Student), sondern an der Effizienz seiner Produktion: Kostensenkung bei gleichbleibendem Output hält so auch im Bildungswesen spürbaren Einzug.“
Bildung braucht Inhalt
Betrachten wir ein konkretes Beispiel aus dem Schweizerischen Lehrplan 21, der sich ja der Kompetenzorientierung verpflichtet. Über die Kompetenz des Sprechens steht da: „Die Schüler und Schülerinnen können ihre Sprechmotorik, Artikulation, Stimmführung angemessen nutzen. Sie können ihren produktiven Wortschatz und Satzmuster aktivieren, um angemessen flüssig zu sprechen.“ So weit, so gut. Nun wird aber Sprechen weiter aufgespaltet in Teilkompetenzen.
„Die Schülerinen und Schüler können unter anderem
- die meisten Laute des Deutschen sprechmotorisch isoliert und im Wort bilden (..)
- das Zusammenspiel von Verbalem, Paraverbalem und Nonverbalem gestalten (Wow! Anm.E.K.)
- ihr Sprechtempo und ihre Stimmführung gezielt variieren.“
Und so weiter. Ein solcher Kompetenzkatalog zerlegt einen einheitlichen Akt wie Sprechen in lauter Einzeltätigkeiten, die aber in ihrer Isoliertheit wohl schwer zu unterrichten sind. Man unterrichtet ja auch nicht „Sprechtempo und Stimmführung“, sondern Deutsch, und genau an diesem Kulturgut wachsen die Kompetenzen der Schüler heran. Die Frage stellt sich, ob sich solche Kompetenzen nicht normalerweise von selbst herausbilden, wenn man didaktisch klug ausgewählte Texte liest und Gespräche führt. Und man fragt sich weiter, ob denn Sprechen nicht auch wesentlich von dem abhängt, worüber man spricht und mit wem man spricht. Das traditionelle Training von Sprech- und Lesefähigkeiten geht mit anderen Worten nicht primär von Methoden aus, sondern von Inhalten, die eine bildende Wirkung haben. Aufs Ganze gesehen, stellt sich also die Grundfrage, ob die Kompetenzorientierung nicht das Pferd am Schwanz aufzäumt: Man bricht eine menschliche Fähigkeit herunter auf elementare Teilfähigkeiten und sucht hernach den „Output“ aus den Teilen zu rekonstruieren. Mephistopheles kommt hier einem in den Sinn, leicht abgeändert: Wer will das Sprechen erkennen und beschreiben/ Sucht erst den Geist heraus zu treiben/ Dann hat er Kompetenzen in der Hand /Fehlt, leider! nur das bildende Band.
Man merkt die Absicht und ist verstimmt
Nun, hinter der Abwertung der Inhalte als zweitrangig könnte Absicht stecken. Tatsächlich zielt das Bildungskonzept der OECD auf eine möglichst „bildungsfreie“ Dressur von Kompetenzen. Dass man den Unterricht nun nicht mehr auf der Basis von Wissensinhalten plant, sondern von erwünschten Fähigkeiten und Bereitschaften, dient einer Anpasssung an globalisierte ökonomische Verhältnisse. Und es gehört heute sogar zu einem bestimmten progressiven und anti-elitären Gestus, wenn man fordert, Schüler sollten nicht „totes Wissen“ akkumulieren, sondern sich flexibel den ständig wandelnden Bedingungen des Lebens anpassen können. „Lebenslanges Lernen“ und all das Zeugs. Kompetenz fragt: Was lässt sich dir antrainieren und an dir testen? Bildung – oder genauer: ein personales Bildungskonzept - hat immer auch die Person im Blick, sie fragt: Wer bist du? Was soll aus dir werden? Auf diese Weise birgt ein solches im Grunde aufklärerisches Verständnis ein Widerstandsnest gegen die totale Indienstnahme von aussen. Das Bildungskonzept der OECD zielt genau in die entgegengesetzte Richtung. Bildung – qua Kompetenz – heisst Vorbereitung auf die Indienstnahme durch die Anforderungen einer gut – das heisst nach neoliberalen Prinzipien - funktionierenden Gesellschaft. So schreibt der Hessische Unternehmerverband unverblümt: „Die Schule der Zukunft soll eine Dienstleistungsorganisation im Bereich Bildung und keine soziale Einrichtung mehr sein.“
Kompetenz als Wirtschaftssegment
Damit wird Kompetenz zu einem an Bedeutung gewinnenden Wirtschaftssegment und gerät ins Visier des Profits. Denn Kompetenzen lassen sich gut testen. Wer heutzutage in Form sein will, muss einem Testformat genügen. Wahres Leben ist getestetes Leben. Eine ganze Berufssparte findet ihr Auskommen im Testen. Die Zertifizierungs-Industrie floriert. Betrieb, Psychologie und Pädagogik verschmelzen zu einem einzigen Anwendungskomplex. Kompetenz wird zum Kapital, und der Kompetenztest zu einem neuen Absatzmarkt. Ein Handbuch aus dem Jahre 2007 stellt fest: „Das Kompetenzkapital eines Unternehmens oder gar eines Landes (entscheidet) über seine Wettbewerbsfähigkeit im europäischen und globalen Massstab.“
Dabei schmückt sich die Phraseologie der Kompetenz gern mit Versatzstücken aus einem humanistischen Bildungsideal. So spricht etwa die Broschüre eines deutschen Grosskonzerns vom Menschen als einem autonomen und individuellen Mitglied der Gemeinschaft (= Firma); er sei „ganzheitlich, als emotionales, soziales und kreatives Wesen mit eigener Sinnstruktur zu sehen.“ Dann aber beginnt die sanfte Verwandlung in den konformen Mitarbeiter. Diese „definierbaren Werte“ würden sich in „Form von Kompetenzen darstellen (lassen).“ „Verbindlich gelebt, trägt das Wertegerüst dazu bei, dass (die Firma) positiv wahrgenommen wird und eine ebensolche Ausstrahlung hat; “ die „Werte“ ermöglichen „Wettbewerbsvorteile und sichern den Erfolg“; „unser Verhalten spiegelt unsere Identifikation mit den Werten wider“ – das heisst: mit den Werten der Firma – und nicht mit den Werten einer Landesverfassung oder der Menschenrechtserklärung. Abrakadabra, und ehe man sich’s versieht, ist unsere individuelle Autonomie von der Corporate Identity aufgesogen worden!
Militärische Kadertugenden
Der Titel dieses Beitrags spielt auf das Militär an. Das muss erläutert werden. Wir kennen in der Schweiz durchaus die alte Tradition der „Bildung“ durch das Militär. Ich meine damit nun nicht den testosteronbeschwipsten Quatsch, erst die Rekrutenschule lasse einen jungen Mann zu einem „richtigen“ reifen. Ich meine die Mentalität eines Korpsgeistes, die wohl auch heute noch die militärische Ausbildung prägt. Früher sprach man von „Mannestugenden“ wie Entscheidungsstärke, Führungskraft, Überzeugungsfestigkeit, Mut. Jetzt spricht man von Fach-, Sozial- und Führungskompetenzen. Sie, so lautet diese Mentalität in Kürze, lassen sich optimal auf militärischem Feld erlernen. Früher wählten junge Männer aus guter Familie den Kriegsdienst als Sprungbrett für eine gesellschaftliche und politische Laufbahn. Eine militärische Karriere gilt auch heute noch als solider Einstieg in die wirtschaftliche (und politische) Karriere. So fordert die Unternehmensberatung McKinsey, dass der moderne Soldat „Unternehmer seiner selbst“ sein müsse: „Schliesslich ist die moderne militärische Organisation darüber hinausgegangen, Soldaten einfach zu befehlen, still zu stehen und zu schiessen. Eine eher zielorientierte Herangehensweise braucht gut trainierte und motivierte Truppen. Dasselbe gilt im Unternehmenskontext.“ Also der Unternehmer als Soldat seiner selbst?
Kampfbahn für Manager
„Gut trainierte und motivierte Truppen“ – kennt man das nicht aus den Entscheidungsetagen der Weltkonzerne? Sind nicht gerade hier die einschlägigen Kompetenzen unter all den hippen, in der Welt herumechsenden Officers gefragt? Das Magazin „Harvard Business Manager“ empfiehlt in seiner Juniausgabe 2008, sich mit Kriegsspielen à la „World of Warcraft“ auf effizientes Management vorzubereiten: „Die Aufgaben in virtuellen Rollenspielen wie ‚World of Warcraft’ ähneln den Herausforderungen modernen Managements auf verblüffende Weise.“ Weniger verblüffen dürfte, dass bestimmte „kriegerische“ Managementmethoden alles andere als virtuelle Effekte zeitigen. Welche Lektionen auch aus Kriegsspielen zu ziehen sind, so gibt es zu denken, dass sich die Grenzen verwischen: Wirtschaft und Krieg werden zu zwei Seiten ein und derselben Medaille. Zivilberufliche Qualifikation und militärische Karriere gehen, wie es in einer Werbebroschüre der deutschen Bundeswehr heisst, „im Gleichschritt“. Weil die Wirtschaft zum Stellvertreterkriegsplatz geworden ist?
Der Status der Person steht auf dem Spiel
Um einem Missverständnis vorzubeugen: Zur Debatte stehen nicht Kompetenzen, sondern der ganze Wandel vom inhaltsorientierten zum kompetenzorientierten pädagogischen Kosmos. Es ist eine stille, unbemerkte, anhaltende Revolution, die in unserem Innern stattfindet: buchstäblich ein „Umdrehen“ unserer selbst um das Zentrum von wirtschaftlichem Eigeninteresse und Profit. Dieser Wandel ist also kein rein pädagogisches Ereignis, sondern ein sozial- und kulturpolitisches. Also letztlich ein anthropologisches: die Transformation der Person zum Homo oeconomicus. Bildung steht und fällt mit dem Status der menschlichen Person, denn gerade im Wissen und Können werden wir zu eigenständigen Personen. Man kann es als Indiz eines Erwachens sehen, wenn zwei Bankenvertreter in der FAZ (8.12.2012) vom „Siechtum mit System“ in Wirtschaft und Finanzwesen sprechen: „Der Sozialcharakter, der den Banken nottut, ist nicht der Finanzheroe, der sich durch Rücksichtslosigkeit, Egoismus und Draufgängertum auszeichnet; erst recht nicht der Wiedergänger des Barockmenschen, der sich jede Tat und jede Geste vergolden lässt. Der Sozialcharakter der Zukunft wird vielmehr von Frauen und Männern repräsentiert, die in einem emphatischen Sinne Personen sind, ausgestattet mit der Fähigkeit, Zusammenhänge herzustellen, das eigene Tun und Meinen zu reflektieren, Selbstkorrekturen zuzulassen, Fremdes zu akzeptieren.“[3]
Kant leicht abändernd, liesse sich sagen, dass der Mensch im System der Wirtschaft ein „Wesen von geringer Bedeutung (ist) (..) Allein der Mensch als Person betrachtet (..) ist über allen Preis erhaben, denn als ein solcher ist er (..) als Zweck an sich selbst zu schätzen. d.i. er besitzt eine Würde.“ Dies an uns wiederzuentdecken käme heute schon fast einer Subversion gleich. Tun wir’s. Überlassen wir die Definition von Bildung nicht einer Gilde von einäugigen Erziehungstechnokraten.
[1] Wirtschaftswachstum und Bildungsaufwand. Europäische Kulturpolitik, Bd. 2. Hg. Im Auftrag der Kulturkommission des Europarates. (Bericht über d. OECD-Konferenz in Washington 1961, Bearb.: Ernst Gehmacher) Wien, Frankfurt /München 1966.
[2] http://documents.worldbank.org/curated/en/1995/08/697136/priorities-strategies-education-world-bank-review
[3] http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/bankenkrise-siechtum-mit-system-11984440.html?printPagedArticle=true