Angesichts des ungeheuren Ausmasses der Überwachung und des Schocks, dass wir davon nichts wussten, ist die Empörung sehr verständlich und berechtigt. Aber es fehlt ein Gegengewicht, das in unserer pluralistischen Gesellschaft selbstverständlich sein sollte: Die Frage nach den Verdiensten dieser Überwachung. In der Empörung ist die Frage untergegangen, zu welchem Zweck die NSA die Welt überwacht und ob sie damit nicht auch positive Resultate erzielt.
Der Preis der Privatsphäre
Vielleicht hat sie ja Gründe für ihre Observation. Vielleicht sogar Gründe, die zu unserer Sicherheit vor Terrorismus und anderen Gefahren beitragen. Aber seriöse Sachinformationen, Fragen und Diskussionen von Kennern sind bisher kaum aufgetaucht. Wie weit muss das Abhören gehen um uns zu schützen? Wie weit darf es gehen? Welche Methoden sind zulässig, welche unzulässig? Wie eng können wir die Zuständigkeiten der Geheimdienste einzäunen, ohne dass unsere Sicherheit gefährdet wird? Und umgekehrt: Wieviel Unsicherheit sind wir als Preis für den Schutz unserer Privatsphären zu akzeptieren bereit?
Denn so einfach ist das ja nicht. Es besteht ein Zielkonflikt, den die Verteidiger von Datenschutz und Privatsphäre übersehen. Ich stelle mir mal vor, ich sei Chef des amerikanischen Geheimdienstes und müsse nach dem Sturz der Manhattan-Türme 2001 weiteren terroristischen Anschlägen zuvorkommen. Die NSA überwachte mir sämtliche privaten Telefongespräche und EMails der Welt ausserhalb der USA. In den USA tut das das FBI und wohl auch die CIA. Die NSA sucht die Kommunikation ab nach Stichwörtern, die Gefahr signalisieren: verdächtige Wörter, Anspielungen, Kombinationen scheinbar harmloser Wörter etc. Wenn ich mir das so vorstelle, bin ich vermutlich nicht weit von der Praxis entfernt, nur ist sie vermutlich viel raffinierter.
Der Jörg Thalmann im Netz
Im eben geschriebenen Abschnitt kommen in einem Satz die drei Kürzel NSA, FBI und CIA vor. Jetzt sogar in einem Aufwisch hintereinander. Ich werde das online dem Journal 21 in die Schweiz übermitteln. Das kann die NSA offenbar problemlos einsehen. Ein auf auffällige Wörter getrimmtes Suchgerät wird das einem NSA-Spürhund melden, der die Mails in Europa absucht. Dann figuriert der Schweizer Jörg Thalmann, der in der Nato-Hauptstadt Brüssel wohnt, auf seiner Liste. Über den sollten wir Genaueres wissen. Das geht diesmal schnell, der Überwacher muss sich ja nur den Artikel übersetzen lassen, dann wird er mich als harmlos und sogar als NSA-Sympathisanten einstufen. Ich hoffe, sein Übersetzer kann gut Deutsch. Aber der Name Jörg Thalmann wird irgendwo im Riesencomputer der NSA hängen bleiben. Und wie ist es mit den weniger geläufigen der 3’000 Sprachen der Welt? Beschäftigt die NSA Übersetzer für sie alle? Aus jenen Regionen droht wohl mehr Terroristengefahr als aus Europa!
Der Gedankengang illustriert das irrwitzige Ausmass an Datensuche und Personal, das eine Überwachung nötig hat, um eine Ausbeute von einem halben Dutzend Gefährlichen zu erzielen. Die weiter unten erwähnten vier „Sauerländer“ wurden ein Jahr lang von 500 deutschen Beamten überwacht, sie „hörten Telefone ab, verwanzten Autos und Wohnungen und hörten und schnitten mit, wenn die offenbar nicht über die Massen gewitzten Angeklagten unbefangen über ihre Mordpläne redeten.“ (NZZ 23.4.2009, Ulrich Schmid aus Berlin.) Ein vom Whistleblower Snowden der Washington Post zugespielter interner Prüfungsbericht der NSA fand für ein einziges Jahr 2776 Pannen und Regelverstösse. Und wie verteidigte sich ein NSA-Sprecher? Im Vergleich zur Gesamtmenge der Überwachungstätigkeit sei ja diese Zahl klein! (NZZ 17.8.2013, Peter Winkler aus Washington.)
Hat die NSA nicht auch recht?
Die NSA glaubt all das observieren zu müssen, um Terroranschläge verhindern zu können. Empörte fürchten, jetzt ziehe der totalitäre Überwachungsstaat heran, und fordern, die NSA soll nur Verdächtige observieren und nicht Unschuldige. Wie soll sie aber Verdächtige von Unschuldigen unterscheiden? Verdächtige melden sich ja nicht bei der Polizei. Verdächtig kann jeder von uns sein, denn der Terrorist tut alles, um uns zu gleichen. Er mischt sich wie ein gewöhnlicher Bürger unter die Menge, wie die zwei Brüder, die am Ziel des Bostoner Marathons plötzlich auf die Zuschauer zu schiessen begannen. Bis sie zuschlagen, geben sich die Terroristen so harmlos wie alle anderen Leute. Wie kann die NSA sie herausfiltern, wenn sie nicht die Telephone von uns allen abhört, um verdächtige Geräusche auszusortieren?
Und es gibt positive Resultate dieser Observation, nur schaut niemand hin! Seit Manhattan 2001 hat es in den USA keine islamistischen Anschläge mehr gegeben. Die Schiessereien der letzten Jahre sind das Werk von Amokläufern. Seit den Bombenanschlägen 2004, die in London 56 und in Madrid 191 Tote forderten, ist es auch in Europa ruhig geblieben. Ist das nicht der Überwachung der NSA zu verdanken?
Wahrscheinlich, aber unbeweisbar! Anschläge, die nicht stattfinden, sind keine Ereignisse. Erfolgreiche Anschläge erschüttern uns, von vereitelten erfahren wir nicht. Sie haben kein Gewicht. Nicht in unserem Gedächtnis, nicht in der öffentlichen Diskussion. Und ihre Erfolge halten die Geheimdienste streng verschlossen, denn wenn sie auskämen, würde das ja den künftigen Terroristen ihre Methoden zeigen. Die Asymmetrie zwischen den Erfolgen der Geheimdienste und der Empörung, wenn auskommt was sie tun, ist programmiert.
Die vier Sauerländer
Eines der raren Gegenbeispiele hat es in Deutschland gegeben: die Verhinderung eines Attentats durch die NSA. 2007 wurden vier Islamisten von einer Antiterror-Einheit der deutschen Bundespolizei rechtzeitig gefasst. Die „Sauerland-Gruppe“, drei deutsche Islamisten und ein Deutschtürke, alle vier von einer „Islamischen Jihad-Union“, stapelten in einem Sauerländer Ferienhaus – das Sauerland ist eine hügelige Ausflugsgegend östlich von Köln – soviel Sprengstoff, dass er Hunderte von Opfern hätte töten können. Die ahnungslosen Deutschen schlugen nur auf Grund einer 2006 von der NSA erhaltenen Warnung zu. Der NSA-Überwachung war „ein intensiver E-Mail-Verkehr zwischen Deutschland und Pakistan“ aufgefallen. Den deutschen Sicherheitskräften nicht. Viele Länder sind, ohne es zuzugeben, der NSA dankbar, dass sie das grösste Netz von Beobachtern und Beobachtungen unterhält, denn ihre eigenen Geheimdienste sind dem Ausmass der Gefahr nicht gewachsen.
In der Debatte um Überwachung und Datenschutz zählt das nicht. An die Rolle der NSA für die Vereitelung der Sauerländer Katastrophe erinnert sich die Öffentlichkeit nicht, aber jetzt regt sie sich über deren Spionage auf.
Demokratische Kontrolle, aber keine volle Offenlegung
Alle diese Argumente und Fakten sollen die grenzenlose Überwachung der NSA nicht entschuldigen oder rechtfertigen. Sie hat das Mass weit überschritten. Der eigentliche Skandal ist aber nicht, dass sie tut, was sie tut: Er ist, dass die amerikanischen Oberorgane sie nicht nur tun liessen, was sie wollte, sondern damit offenbar sogar voll einverstanden waren. Noch skandalöser, einer Demokratie unwürdig ist, dass sie uns völlig im Dunkeln liessen.
Auch wenn wir es ohne Details und Erfahrungen tun müssen, eine demokratische Debatte über das Grundsätzliche muss jetzt stattfinden. Aber machen Sie sich keine Illusionen! Jede Lösung wird auf allen Seiten Frustrationen zurücklassen, denn der Zielkonflikt ist unlösbar. Die Informationen, die wir zur Beurteilung haben sollten, bekämen die Attentäter nicht weniger mit als wir! Folglich dürfen wir unsere Geheimdienste nicht zwingen, uns Beispiele zu geben und Konkretes zu verraten.
Wir akzeptierten das, als Spionage und Geheimdienste noch überschaubare Staatstätigkeiten waren, und überliessen die Aufsicht parlamentarischen Kommissionen, denen wir höchste Diskretion auferlegten und zutrauten. In den letzten Jahrzehnten aber hat die Internet-Revolution die Überwachungskapazität der Geheimdienste vertausendfacht, und wir haben nicht aufgepasst. Erst Snowdens Enthüllungen haben uns aufgeschreckt.
Als Reaktion darauf hat Präsident Obama Vorschläge zur besseren Kontrolle der NSA angekündigt. Anstatt Snowden mit schweren Anklagen zu drohen, könnte er ihm Danke sagen.