Ellen Meyrat-Schlee zieht 1986 an die Zürcher Klosbachstrasse. Das Mehrfamilienhaus liegt direkt am Römerhof - dort, wo das Tram Nummer 15 um die Kurve quietscht. Sie ist Spezialistin für Urbanistik, Raumplanung und Architektur. Zwanzig Jahre lang ist sie Dozentin an der ETH. Später wird sie Direktorin der Hochschule Gestaltung und Kunst der Fachhochschule Aargau Nordwestschweiz. Jetzt lebt die Zürcherin in Bern.
Ellen Meyrat bewohnt an der Klosbachstrasse 88 das vierte, das oberste Stockwerk. Nach ihrem Einzug möchte sie wissen, wer ihre Nachbarn sind. Überrascht entdeckt sie ein Türschild: E. Canetti. „Oh , der berühmte Schriftsteller, der Nobelpreisträger“. Er wohnt im dritten Stock, direkt unter ihr.
Besitzer des Mehrfamilienhauses sind der Opernsänger Jan Kiepura und seine Frau Martha Eggerth. Frau Kiepura, die noch eine Wohnung im Haus hat, war eine bekannte Operndiva in den Dreissigerjahren, lebt jetzt vor allem in New York, hat aber noch eine Wohnung im Haus, die sie für ihre Kontrollbesuche nutzt. Die Kiepuras, sie ungarische Jüdin, er Pole, sind in die Schweiz geflüchtet, erwarben das Haus in den Vierzigerjahren und vermieteten die Wohnungen oft an ungarische und jüdische Emigranten.
"Schwierig, eitel, egozentrisch"
Elias Canetti, ein sephardischer Jude, ist in Bulgarien geboren. Als Ellen Meyrat ins Haus am Römerhof zieht, hat er ein wildes Leben hinter sich. Lange Zeit lebte er in London und Wien. Von 1917 bis 1921 hat er das Realgymnasium Rämibühl in Zürich besucht.
Canetti wird von seinen Zeitgenossen als schwieriger, eitler und egozentrischer Mensch beschrieben. Seine erste Frau Veza entwirft kein schönes Bild von ihm. Manche seiner Bekannten beschreiben ihn als aufbrausend, jähzornig und cholerisch. Er gefiel sich als Frauenheld. Er schreibt, er habe 39 Frauen parallel gehabt – und kaum eine wusste von der andern. Viele Frauen hat er belogen und tief verletzt.
Er hasste stabile Zweierbeziehungen. Schon 1932 schrieb er: Wenn du ein Paar siehst, „so reisse die beiden auseinander … Zieh ihnen die Haut ab, dass ihre Körper nicht zueinander finden“.
Offen sagte er, dass er sich nicht an eine einzige Frau binden könne. Das würde sein poetisches Schaffen beinträchtigen. Aus Briefen mit seinen Frauen geht hervor, dass er ein pures Ekel sein konnte, eifersüchtig und zornig.
Heirat mit Hera Buschor
Nach dem Tod seiner Frau Veza zieht es ihn wieder häufig nach Zürich: in die Englischviertelstrasse 71. Dort wohnt Hera Buschor, eine Restauratorin. Er hatte sie in London kennengelernt. Jetzt arbeitet sie am Zürcher Kunsthaus.
1971 heiraten der 66-Jährige und die 38-jährige Hera. Ein Jahr später wird ihre Tochter Johanna geboren. Die Familie zieht an den Römerhof in das Kiepura-Haus, unweit der Englischviertelstrasse.
1981 wird Canetti mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, und zwar „für sein schriftstellerisches Werk, geprägt von Weitblick, Ideenreichtum und künstlerischer Kraft“. Er schreibt wie ein Besessener. Täglich füllt er Dutzende von Seiten. Längst ist er einer der bedeutendsten deutschsprachigen Literaten des 20. Jahrhunderts.
Belanglose Worte, mehr nicht
Als Ellen Meyrat in der Klosbachstrasse einzieht, ist Canetti 81 Jahre alt und sein Frau 53. Hera Buschor war eine „unglaublich zarte, feine Frau“, erzählt Ellen Meyrat. Sie hatte blonde, zu einem Rossschwanz zusammengeknüpfte Haare. „Sie war zurückhaltend, unnahbar, fast schüchtern: eine Elfe.“
Der Zufall wollte es, dass die Mutter von Ellen Meyrat der Kunstrestauratorin einst zwei Bilder übergeben hatte: zur Restauration. Ellen Meyrat spricht Hera im Treppenhaus darauf an. Eigentlich ein Steilpass, um ins Gespräch zu kommen und sich näher kennenzulernen. Doch es entwickelt sich kein Gespräch. Canettis Frau erwidert drei, vier Worte - und zieht sich zurück.
Noch eine Gelegenheit für ein Gespräch: Ellen Meyrat trifft die Nachbarin an der Tramhaltestelle am Römerhof. Hera hat ein ein Cello im schwarzen Riesenkoffer bei sich. „Es war fast grösser als sie selbst“. Wieder: drei, vier belanglose Worte. Mehr nicht.
„Sie war keine Frau, bei der sich alle umdrehten, wenn sie einen Raum betrat“, erzählt Meyrat. Nur einmal klingelte Hera Canetti an der Wohnungstür im vierten Stock. Sie fragte, ob sie die Terrasse benutzen dürfe, die an ihre Wohnung angrenzt. Doch Frau Kiepura, die Hausbesitzerin, wollte nicht, dass man diese Terrasse benützt. „Hera tat mir fast leid“, sagt Ellen Meyrat, „die Canettis hatten einen nur kleinen Balkon“.
"Höflich, still, zurückgezogen"
Canetti, der Choleriker, der eitle Egozentriker? Das ist lange her. Ellen Meyrat erlebt ihn nur sanft und extrem höflich. „Er war der ausserordentlich höfliche Herr aus der k. und k.-Doppelmonarchie, still und zurückgezogen.“
Hat ihn das Alter verändert, seine Tochter, sein Ruhm? Oder seine zweite Frau, die ihn offenbar in den Sechzigerjahren vom geplanten Suizid abhielt?
„Ab und zu traf ich ihn im Hauseingang oder im Lift“, erzählt Ellen Meyrat. „Er war ja sehr klein, trug immer einen englischen Regenmantel und ein schwarzes Beret. Wenn er mich sah, zog er elegant sein Beret vom Haupt, grüsste freundlich und öffnete mir die Lifttür“. Im dritten Stock sagte er artig ‚adieu‘ und weg war er. „Dann sah ich ihn während Wochen nicht“.
Die Canettis leben völlig zurückgezogen. Kein Laut dringt aus ihrer Wohnung. Keine Musik, nie ein Streit. Niemand sucht in diesem Haus Kontakt mit den andern. Man bewahrt Distanz und Respekt. Immer war man sehr, sehr höflich – und schon wieder weg. „Es war ein Anti-Nachbarschaftshaus“, sagt die Bewohnerin des vierten Stocks.
Besuch haben die Canettis offenbar kaum. „Nie hörte ich jemanden klingeln“. Die Familie scheint völlig zurückgezogen zu leben. „Sie hat definitiv keine Nähe gewünscht“.
"Jetzt muss das arme Mädchen die Wäsche waschen"
Ab und zu trifft Ellen Meyrat Canettis Tochter Johanna im Treppenhaus. Johanna ist 14, 15 Jahre alt. Sie ist schüchtern, wie ihre Mutter, fast abwesend. Man spricht kaum miteinander. „Sie wirkte nicht wie die Tochter eines weltberühmten Mannes.“
Im April 1988 stirbt Hera Buschor überraschend. Sie war 55. Ellen Meyrat trifft die Tochter und kondoliert ihr. Die Hausbewohner wissen nicht, wo Hera gestorben ist, zu Hause oder im Spital. „Sie hatte Grippe“, erzählt Johanna der Nachbarin. Offenbar hat eine Grippe ihrem Krebsleiden ein Ende gesetzt.
Jetzt war Johanna - inzwischen 17 Jahre alt - allein mit ihrem alten Vater. Sechs Jahre lang, bis zum Tod des Schriftstellers, wohnten sie zusammen. Ab und zu klingelt jetzt Johanna an der Tür ihrer Nachbarin. Sie fragt: „Frau Meyrat, können Sie mir mit der Waschmaschine helfen?“ Sie hat offenbar Vertrauen zu Meyrat, vielleicht auch deshalb, weil sie die Jüngste im Haus ist. „Dieses arme Mädchen“, erzählt Ellen Meyrat, „jetzt musste sie die Wäsche waschen, obwohl es jemanden gab, der half im Haushalt“.
Besuch in seiner Wohnung
Wieder einmal trifft die Nachbarin den Schriftsteller beim Lift, wieder zieht er das Beret, wieder hält er ihr die Türe auf. „Ich bin nicht jemand, der Autoren um Autogramme bittet, ich finde das relativ blöd“, erzählt sie. Doch da lebt dieser weltbekannte Schriftsteller im Stockwerk unter ihr, und sie hat fast alle seine Bücher … So fragt sie ihn: „Herr Canetti, es würde mich freuen, wenn Sie mir eines Ihrer Bücher signieren könnten“.
Sofort lädt er die Nachbarin ein. Er sagt: „Nehmen Sie das Buch mit, das Ihnen am meisten gefällt und das, das Sie am wenigsten mögen“. Ellen Meyrat ist erstaunt. „Ich hätte eher gedacht, er sagte: nehmen Sie alle Bücher von mir mit, die Sie haben“.
So klingelt die Nachbarin im dritten Stock. Erstmals öffnet ihr der Mann mit den weissen Haaren und dem grossen weissen Schnauz die Tür. Sie sieht nur eins: Bücher und Bücher. Überall Büchergestelle, auch in den Gängen. Das erstaunt sie nicht. Denn auch das offene Estrich-Abteil von Elias Canetti überquillt mit Büchern.
Sie wird höflich empfangen und in ein kleines Arbeitszimmer geleitet. Jetzt sitzt sie Canetti gegenüber – an einem grossen Schreibtisch, jenem Schreibtisch, an dem er täglich stundenlang schreibt.
- „Also“, sagt Canetti, „welches Buch hat Ihnen am wenigsten gefallen?“
- „Die Blendung“.
- „Was? sagt er überrascht. „Warum die Blendung?“
- „Ich finde das Frauenbild, das Sie da zeichnen, einfach schrecklich, diese grässliche Frau, diese Hexe.“
- „Was wollen Sie“, antwortet er aufgebracht. „Das gab es damals in Wien, es gab solche Frauen, das war ganz normal. Warum mögen Sie das nicht?“
- „Trotzdem. Ich finde das Buch furchtbar. Wie diese Frau diesen eigentlich gutwilligen, fast verträumten Mann am Schluss einsperrt, wie ein Schwein im Käfig“.
- „So", sagt Canetti etwas indigniert und signiert das Buch. „Und welches Buch hat Ihnen am besten gefallen?“
- „Die Briefe an Felice.“
- „Aha“, erwidert er und signiert „Die Briefe an Felice“.
Man plaudert noch kurz. Höflich führt dann der Nobelpreisträger seine Nachbarin zur Tür. Acht Jahre wohnen die beiden im gleichen Haus. Es war das erste und einzige Mal, dass Ellen Meyrat seine Wohnung besuchte.
"Ich höre nichts mehr"
Nach der Verleihung des Nobelpreises im Jahr 1981 hatte Canetti angekündigt, er wolle nicht mehr öffentlich aus seinen Büchern lesen und gebe keine Interviews mehr.
Einmal jedoch macht er eine Ausnahme. „Da stürmt eines Tages ein alter Herr, ein deutscher Literaturkritiker und Literaturwissenschaftler ins Haus“, erzählt Ellen Meyrat. „Ein sehr arroganter und unangenehmer Mensch“. Es handelt sich um Hans M., der schon oft über Canetti geschrieben hat. „Wo wohnt Canetti?“ schreit er im Treppenhaus. „Er hätte ja das Türschild lesen können“. Vermutlich war M. der letzte Literaturkritiker, mit dem Canetti zusammensass.
„Ausser diesem H.M. habe ich nie einen Besuch gesehen“. Oft sieht sie Canetti, wie er im Regenmantel das Haus verlässt. Nach einigen Stunden kommt er zurück.
Einmal, da war er fast 90, begegnen sich die beiden im Tram. „Wir sassen beieinander“, erzählt Meyrat. Sie hatte oft Gäste in ihrer Wohnung und sorgte sich, weil es manchmal laut zuging. Darauf spricht sie jetzt Canetti an.
- „Herr Canetti, stören wir Sie ab und zu? Machen wir Lärm? Hören Sie uns?“
- „Wie bitte?“
- „Ob wir Sie stören, ob Sie uns hören?“ sagt sie lauter.
- „Wie bitte? Sie müssen lauter sprechen, ich höre Sie nicht.“
In den Zürcher Trams ist es damals verpönt, laut zu sprechen. Es ist ihr fast peinlich, dass sie fast schreien muss.
- „Herr Canetti, stören wir Sie, hören Sie uns“.
Jetzt lächelt er.
- „Fragen Sie mich das doch nicht. Ich höre sowieso nichts mehr“.
1994 stirbt er. Sie erfährt es nicht von Johanna, sondern aus der Zeitung. Ellen Meyrat kondoliert der jetzt 23-jährigen Tochter. „Frau Canetti, kann ich Ihnen helfen, kann ich etwas für Sie tun?“ - „Nein, nein, alles ist organisiert“, sagt sie abwesend.
Ellen Meyrat weiss nicht, ob er zu Hause gestorben ist. Darüber redet man nicht an der Klosbachstrasse 88.
Im Ehrengrab begraben
Nach dem Tod ihres Vaters lebt Johanna Canetti noch eine Zeit lang allein in der Wohnung. Dann ist sie plötzlich weg, ohne sich zu verabschieden.
Letztes Jahr trifft Ellen Meyrat Johanna zufällig in der Pause einer Theatervorstellung. „Sie hat sich kaum verändert, sie ist immer noch die unnahbare, unfassbare Frau“.
- „Wie geht es Ihnen, was tun Sie denn?“.
- „Ich habe studiert und bin noch immer dabei, den Nachlass meines Vaters zu ordnen“.
Viel hat man sich nicht zu sagen.
An der Klosbachstrasse 88 hängt jetzt ein Schild: „Hier wohnte Elias Canetti (Nobelpreisträger) von 1972 bis 1994“. Das gleiche Schild weist darauf hin, dass im gleichen Haus früher auch der Schweizer Schriftsteller Kurt Guggenheim gelebt hatte. Canetti ist in einem Ehrengrab auf dem Friedhof Zürich-Fluntern begraben, direkt neben James Joyce.
Daten
1905 (25. Juli): Geburt von Elias Canetti in der bulgarischen Stadt Russe
1917 – 1921: Canetti besucht das Realgymnasium Rämibühl in Zürich
1933: Geburt von Hera Buschor
1934: Canetti heiratet Veza Taubner
1935: In Wien wird erstmals der Roman „Die Blendung“ veröffentlicht
1960: Canetti lernt Hera Buschor in London kennen
1963: Tod von Veza Canetti-Taubner
1971: Canetti heiratet Hera Buschor
1972: Geburt der Tochter Johanna. Die Canettis ziehen an die Klosbachstrasse 88
1981: Canetti erhält den Nobelpreis für Literatur
1986: Einzug von Ellen Meyrat an der Klosbachstrasse 88
1988 (29. April): Hera Canetti stirbt
1994 (14. August): Tod von Elias Canetti in Zürich