Es gibt unzählige Wähleruntersuchungen über den voraussichtlichen Ausgang der schwedischen Reichstagswahlen (Landesparlament). Das schwedische Fernsehen SVT errechnet aus sechs dieser Untersuchungen einen Mittelwert, der suggeriert, dass die bürgerliche "Allianz" die Wahlen mit einem Stimmenanteil von 49,2% - gegenüber 44,2% der rotgrünen Koalition – gewinnen wird. Laut Sifo – einem der erfahrensten Umfrageinstitute – kommt die bürgerliche "Allianz" sogar auf 50,1% der Stimmen, was für eine klare Mehrheit im Reichstag reichen würde.
Nur 9 Prozent für die sozialdemokratische Kandidatin
Der Umschwung ist erstaunlich. Noch im Januar lagen die Rot-Grünen mit einem Stimmenanteil von 50,7% in Führung. Die bürgerliche Allianz kam auf bloss 42%. Alles deutete auf einen Machtwechsel hin, der nun – nach den jüngsten Entwicklungen – aber sehr unwahrscheinlich geworden ist.
Auch in Schweden sagen die Wähler den Meinungsforschungsinstituten nicht die Wahrheit, wenn sie nach ihren Parteipräferenzen gefragt werden, doch bislang stimmten die Voraussagen immer ziemlich gut.
Ganz unerwartet kam dieser Umschwung dennoch nicht. Schon früh zeigten Umfragen, dass die Vorsitzende der Sozialdemokraten, Mona Sahlin, in der Sicht der Wähler das Zeug nicht hat, eine gute Regierungschefin zu werden.
Nur 9% bezeichneten sie kürzlich als ihre Favoritin für das Amt der Regierungschefin. Ihre heimliche Rivalin in der Partei – die frühere EU-Kommissarin Margot Wallström - kam demgegenüber auf 15%. Ein schlechtes Zeugnis für die offizielle Kandidatin der Partei!
Dem gegenwärtigen Regierungschef, Fredrik Reinfeldt von Moderaterna, den Gemässigten (wie die Konservativen in Schweden bezeichnenderweise heissen), gaben 45 % die Stimme.
Um die Sozialdemokraten drehte sich alles
Die Sozialdemokraten Schwedens leiden unter ähnlichen Problemen wie ihre Parteikollegen in Deutschland oder in Grossbritannien. Noch zu Zeiten Olof Palmes und Tage Erlanders, während der 60er, 70er- und 80er-Jahre, galten Stimmenanteile von weniger als 45% als Katastrophe für die Partei.
Die Sozialdemokraten waren die dominierende Partei, um die sich alles drehte, weil die zweitgrössten Parteien - die ländliche "Zentrumspartei" oder die liberale "Volkspartei" - selten auf mehr als 20% kamen.
Erstmals unter 30 Prozent?
Seither haben sich rund ein Drittel der Wähler von den Sozialdemokraten abgewandt. Oder genauer: es gibt den Wähler, der den Sozialdemokraten Wahl für Wahl, während Jahrzehnten, die Regierungsverantwortung übertrug, nicht mehr.
Und neue Wählerschichten haben die Sozialdemokraten nur sehr beschränkt gefunden. Ihr Wähleranteil könnte in den Wahlen vom 19. September erstmals auf unter 30% sinken. Die Sozialdemokraten wären damit erstmals seit 1914 nur noch zweitgrösste Partei. Eine Ära ginge damit zu Ende.
Die letzten Durchschnittswerte des Schwedischen Fernsehens SVT geben den Sozialdemokraten nur noch 29,1% gegenüber 31,1% für die liberal-konservativen Moderaterna.
Keine verknöcherte Arbeiter-Partei
Die schwedischen Sozialdemokraten haben es in der Vergangenheit eigentlich sehr gut verstanden, ihre Botschaften den sich verändernden Verhältnissen anzupassen. Zum Teil dank aussergewöhnlichen Persönlichkeiten – allen voran Tage Erlander und Olof Palme – zum Teil aber auch, weil diese Partei schon immer sehr pragmatisch und darum am Puls der Zeit war.
Die schwedische Sozialdemokratie war ein Gegenmodell zu den ideologisch verknöcherten "Arbeiter"-Parteien in andern Ländern. Und darum ist es ihr auch gelungen, das Bild dieses Landes während fast hundert Jahren zu prägen.
Indirekt spielt diese Partei diese Rolle heute noch. Zum Beispiel, wenn der gegenwärtige und wahrscheinlich auch kommenden Regierungschef Reinfeldt im Wahlkampf sagt: "Wir sind eine Land mit kleinen Unterschieden (zwischen den verschiedenen Volksgruppierungen). Und das soll so bleiben."
Wohlfahrtsstaat auch mit den Konservativen
Wenn man Reinfeldt eine Charakteristik geben möchte, wäre es die: er ist der (umgekehrte) Toni Blair Schwedens. So wie Blair seine Wähler in der politischen Mitte fand, die früher nie für einen Vertreter von Labour gestimmt hätten, so fand Reinfeldt seine Wählern bei jenen, die noch vor zehn, zwanzig Jahren glaubten, dass ein Liberal-Konservativer den schwedischen Wohlfahrtsstaat erbarmungslos demontieren würde.
Doch genau das ist nicht geschehen. Jedenfalls nicht in der Substanz. Der schwedische Wohlfahrtsstaat ist bloss etwas schlanker geworden. Ausserdem erfolgreicher, zukunftsversprechender und finanzierbar.
1970 betrug die totale Steuerbelastung (inklusive Arbeitgeberabgaben) in Schweden 40,2%. Zehn Jahre später waren es schon 50 % und 1989 – das war der Höhepunkt – 56,3 Prozent.
Leicht sinkende Steuerquote
Von 1. Januar bis am 24. Juli arbeitete der Durchschnitts-Schwede für den Staat – die Allgemeinheit. Erst am 25. Juli konnte er anfangen, auch noch etwas für sich selbst zu tun. Schweden war damals für viele das Schreckexempel eines ausser Rand und Band geratenen Sozialstaates.
Seither ist die Steuerquote langsam aber stetig gesunken – auch unter sozialdemokratischen Regierungen. Im vergangenen Jahr betrug sie noch 49,4% . Immer noch sehr viel, wenn man zum Beispiel mit der Schweiz vergleicht (29,4%), wobei berücksichtigt werden muss, dass die Abgaben für die Pensionsversicherung (entsprechend AHV und 2. Säule) in Schweden in diesen Quoten inbegriffen sind.
Schweden ist es gleichzeitig gelungen, seine öffentlichen Budgets ausgeglichen zu halten – oder sogar massive Überschüsse zu erwirtschaften. Schweden steht mit einer Verschuldungsquote von 42% in der EU sehr gut da.
Besser als "Exportweltmeister" Deutschland
Es ist eines der wenigen Länder, die die Maastricht- Kriterien (für den von Schweden nicht gewünschten Beitritt zur Euro-Zone) mit Leichtigkeit erfüllt. Die schwedische Wirtschaft ist gleichzeitig eine der dynamischsten in Europa. Seit dem Jahre 2000 ist seine Bruttonationalprodukt um 15% gestiegen – trotz Krise. "Exportweltmeister" Deutschland kam im gleichen Zeitraum nur auf 5%.
Nur ein Schwachpunkt bleibt: Die Zahl der Arbeitslosen ist mit 8,0% (Juni 2010, saisonbereinigt) sehr hoch. Die Sozialdemokraten finden, dass die Überschüsse, die der Staat in den vergangenen Jahren erwirtschaftete, zur Lösung dieses Problems hätten verwendet werden müssen.
Stattdessen habe man die Zahl der Ausbildungsplätze für Arbeitslose und Erwachsene reduziert. Das Resultat könnte laut Sozialdemokraten sein, dass Schweden bald unter einem gleichzeitigen Mangel an (gut ausgebildeten) Arbeitskräften und hoher Arbeitslosigkeit leidet.
Für die "Allianz" sind die hohen Arbeitslosigkeitsziffern eine schwere Belastung. Denn für die Wähler ist sie laut Umfragen die wichtigste Frage. Dennoch werden die liberal-konservativen "Moderaterna" unter Fredrik Reinfeldt die Sozialdemokraten am 19. September wohl aus ihrer während 97 Jahren gehaltenen Position als stärkste Partei des Landes vertreiben. Eine neue Ära bricht an.