Als ich letzthin um sieben Uhr die erste Fähre von Alibagh nach Bombay nahm, sass zu meiner Überraschung auch Vivan im Boot. Er ist soeben Vater geworden, und Nachtschicht ist quasi sein Tagesprogramm. Noch mehr erstaunte mich sein Handgepäck: Zwei grosse Säcke mit frischen, selbstgebackenen Broten. Er hat in der städtischen Mittelklasse eine Abkehr vom wattigen englischen Weissbrot ausgemacht.
Mann-für-alles
Aber wie bringt er das Brot unter die Leute? Ich sah die Antwort nach der Ankunft am Gateway. Dort übergab er die Säcke einem jungen Mann, die beiden unterzeichneten ein paar Papiere, dann brauste der Empfänger im Kleinlaster davon. Er trug eine grüne Uniform, mit der Aufschrift GetMyPeon.com auf der Brust.
Peon bedeutet Diener, Helfer, Mann-für-Alles. Und genau dies ist GetMyPeon. Es ist eine eCom-Unternehmen, das über das Netz all das anbietet, wofür man nie Zeit hat. Oder man ist zu alt, fürchtet das Verkehrschaos, oder ist des Anstehens müde. Ein Paket muss auf die Post, ein Blumenstrauss gehört abgeliefert, Einzahlungen müssen gemacht werden. Eine alte Frau muss einen Beschwerdebrief schreiben, Einladungen verteilen, einen Putzdienst organisieren, Medikamente besorgen. Und eben: Brote müssen verteilt werden.
Wahre Wundertüten
Gleichzeitig mit der zunehmenden Durchdringung durch das Internet und der zweiten Telekom-Revolution – Smartphones und Apps – rollt eine Welle neuer Dienstleister über Indiens Städte. Inzwischen hat jeder Inder ein Handy, nun folgen mit den Smartphones die Handy-Kleincomputer (mit denen man nebenbei auch telefonieren kann). Die Zahl der Smartphone-Besitzer soll von heute 160 Millionen in drei Jahren auf 250 Millionen Nutzer wachsen. Wiederum überschlägt sich die Technologie-Entwicklung und überspringt hier die Zwischenstufe von Laptop und Tablet. Genauso wie für die meisten Inder das Handy das erste Telefon war, ist das Smartphone nun ihr erster Computer. Nur drei Millionen Inder haben einen Laptop, und 85 Prozent des Internetverkehrs läuft in Indien über das Handy.
Umso schneller sind sie bereit, sich mit Apps einzudecken. Und diese geben nicht nur Wetter-Informationen und Börsenkurse, sie öffnen auch wahre Wundertüten von Waren und käuflichen Dienstleistungen. Und sie tun es umso erfolgreicher, als Indiens Infrastruktur unter seiner Menschendichte immer mehr einbricht. Wer will schon eine Stunde im Verkehr stecken, um dann ein vollgestopftes Restaurants zu betreten? Warum nicht Zomato aufrufen? Dessen Algorithmen und telefonischen Helfer buchen nicht nur einen Tisch, sie offerieren auch alternative Adressen, Verkehrshinweise und ein ähnliches Angebot zu vergleichbaren Preisen.
Bargeldloses Einkaufen
In den letzten drei Jahren ist das e-Commerce förmlich explodiert, und es schwirren Einem völlig fremde Namen um den Kopf: Spoonjoy, MadRatsGames, NewsInShorts, MeritNation, TrulyMade, Ola, Frsh, HushBabies, UrbanLadder, Paytm, LocalBania, TaxiForSure, SnapDeal, Stayzilla, Delhivery, Quikr, ShopClues, UrbanTouch, SimpliLearn, Porter, Flipkart. Oder eben GetMyPeon, ein Zeichen, dass der eigene Lebenskreis nicht verschont bleibt. Eine Cousine meiner Frau will mit FoodLuxe ihr Catering-Geschäft gross machen, und der Sohn eines Freundes hat einen e-Laden für Kinderkleider namens Hopscotch hochgebracht.
Flipkart? Es ist möglich, dass dieser Name inzwischen auch bei Lesern dieser Kolumne bekannt klingt. In Indien ist er inzwischen so geläufig wie ‚Amazon’ im Westen. Denn mit Flipkart wurde das neue Zeitalter des bargeldlosen Einkaufens ohne Fussabdrücke, ohne das Anstehen vor Kassen, Umkleidekabinen und Bushaltestellen eingeläutet – genauso, wie es der Name andeutet: Ein Einkaufskarren, aber so schwerelos, dass er mit einem ‚Flip’ des Fingers angestossen werden kann.
Das Unicorn
Wie es sich für einen Amazon-Klon gehört, begann auch Flipkart mit Büchern: Die beiden Gründer Binny und Sachin Bansal standen 2007 vor Buchhandlungen in Bangalore und verteilten Handzettel. Passanten wurden auf eine Webseite aufmerksam gemacht, über die sie Bücher bestellen konnten, frei Haus, mit 20% Rabatt.
Acht Jahre später ist aus dem Drachentöter ein Drache geworden, oder im eCom-Jargon: ein Unicorn. So heissen die StartUps, die über eine Milliarde Dollars Umsatz machen und noch nicht börsenkotiert sind. Flipkart ist noch nicht an der Börse, wird aber auf einen Marktwert von 15 Mia.$ geschätzt. Zumindest ist dies die Preisbasis, auf der internationale Risiko-Investoren – Sequoia Capital, Tiger Global oder SoftBank – Hunderte Millionen Dollars in Firmen wie Flipkart investiert haben. Inzwischen sind auch chinesische Käufer darunter. Vor kurzem investierte Alibaba 575 Mio.$ in Paytm, einen Anbieter bargeld- und kreditkartenlosen Bezahlens. Allein im letzten Jahr flossen 3.9 Mia.$ in indische StartUps.
Shopping Mall als Verlierer
Eine Milliarde davon kam von Amazon. 2013 beschloss Jeff Bezos, auch hier zum Platzhirsch zu werden, und es scheint ihm zu gelingen. Im letzten Mai verzeichnete amazon.in 23.6 Millionen unique visitors, gegenüber 23.5 bei Flipkart. Aber die Bansals haben sich auf den Zweikampf gut vorbereitet. Inzwischen verkaufen die beiden nicht nur Bücher, sondern – wie Bezos – auch Kochlöffel, Swimming Pools, und Monatsbinden.
Sind die Millionen Tante Emma-Läden damit zum Tod verurteilt? Nicht unbedingt, sagt mir Ajit Balakrishna, der Gründer des News-Portals rediff.com. „Viele der Anbieter von Dienstleistungen – Blumen, Taxis, Restaurants, Hochzeitsaustattungen, Begräbnisse – sind nur erfolgreich, wenn sie lokal gut verwurzelt sind“. Hyperlocal nennt man dies, erfahre ich. „Aber auch mein Patel Store hier im Colaba-Quartier kann dies tun“. Rediff hat einen Link eingerichtet, auf dem bestehende Kleingeschäfte ihre Waren feilbieten können. Je nach Stadt und Quartier tauchen dank GPS jeweils andere auf – Torten, Wäschereinigung, Kleintiernahrung, homöopathische Kügelchen. Google will es im Grossen ähnlich machen: mit mybusiness.com sollen 20 Millionen indische KMUs auf Online gestellt werden.
Verluste und Verlierer
Wenn jemand unter diesem e-Tsunami leidet, dann nicht der Laden um die Ecke, sondern die wuchtige Shopping Mall. Kaufhäuser sind vor zwanzig Jahren ins Kraut geschossen, und bereits sind sie dejà vu. Inder mögen sie mehr zum Flanieren als zum Einkaufen. Man trinkt einen Kaffee, schaut sich einen Film an, guckt die Auslagen von Schweizer Uhren an. Aber kaufen? Dann doch lieber Online. Die Fassaden vieler Kaufhäuser sind behängt mit Mietangeboten, statt mit überlebensgrossen Models. Die Atria Mall, eine der ältesten auf dem Platz, steht seit zwei Jahren zum Verkauf – niemand scheint interessiert. Der Bentley im Showroom setzt Staub an.
Derweil erhalten selbst kleine StartUps Dollarmillionen nachgeworfen. Der Sektor schwimmt im Geld – aber es ist zum grossen Teil Wettgeld, sagt Ajit. Jeder Investor hofft, den Schlüssel zum sagenhaft grossen Konsumentenmarkt Indien in der Hand zu haben. Doch die Realität ist eine andere. 75% der StartUps gehen sang- und klanglos unter. Selbst die grossen Spieler verlieren massiv Geld. Drei Viertel aller ‚Erstbesucher’ bleiben es – sie kommen nicht zurück.
Es stimmt, die Mittelklasse hat weniger Schwellenangst, hat sie doch die Freuden des Konsums eben erst entdeckt. Doch es kann frustrierend sein, wenn lange Strompannen die Handybatterien ausrinnen lassen und der Internetzugang wieder einmal blockiert ist. Als ich Vivan vorgestern für diese Kolumne anrief, beklagte er sich, dass seine Brote im Verkehrsstau regelmässig steckenbleiben. Übrigens, fügte er hinzu, „GetMyPeon gibt es nicht mehr. Es wurde von einem Konkurrenten geschluckt“. Der neue Name: Russsh.com. „Rush mit drei scharfen s“.