Der Schrecken der Vergangenheit war stärker als die Angst vor der Zukunft. Hätte die 36-jährige Keiko Fujimori die Stichwahl gewonnen, wäre damit indirekt auch ihr Vater Alberto, der im April 2009 wegen schwerer Menschenrechtsverbrechen und Korruption zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde, an die Macht zurückgekehrt. Eine knappe Mehrheit der Wähler wollte dies um jeden Preis verhindern und gab deshalb ihre Stimme dem Linksnationalisten Ollanta Humala, obschon auch er nicht über alle Zweifel erhaben ist und bisher nur vage zu erkennen gegeben hat, in welche Richtung sich Peru unter ihm entwickeln soll.
Mehr soziale Gerechtigkeit, aber keine Revolution
Der 48-jährige Ex-Oberstleutnant hatte schon vor fünf Jahren – damals als krasser Aussenseiter – die erste Runde der Präsidentenwahl für sich entschieden, war dann aber in der Stichwahl dem rechten Sozialdemokraten Alan García unterlegen. Ein Grossteil seiner Landsleute stiess sich sowohl an seinen wirren nationalistischen Vorstellungen als auch an seinen Sympathien für den venezolanischen Staatschef Hugo Chávez. Humala war in jungen Jahren durch seinen Vater einerseits mit dem ideologischen Erbe der orthodoxen Linken und andererseits mit dem so genannten „Etnocacerismo“ in Berührung gekommen, der eine rassistisch-chauvinistische Ideologie propagiert und gleichzeitig eine Restauration des indigenen Erbes fordert. In den vergangenen Jahren hat er sich jedoch mehr und mehr von seinen radikalen Positionen entfernt und sich dem politischen Zentrum angenähert. Er distanzierte sich bei jeder Gelegenheit vom selbst ernannten Revolutionsführer Chávez und dessen Projekt eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Seine Politik, beteuerte er im Wahlkampf immer wieder, orientiere sich am Modell des populären brasilianischen Ex-Präsidenten Lula, wie dieser strebe er mehr soziale Gerechtigkeit, aber keine radikalen Umwälzungen an. Der ehemalige Offizier präsentierte sich auch nicht mehr als aggressives Rauhbein, sondern posierte in der Öffentlichkeit des Öfteren als glücklicher Familienvater an der Seite seiner Gattin Nadine Heredia und seiner drei Kinder.
Dank seiner Metamorphose gelang es Humala, genügend Stimmen in der politischen Mitte zu gewinnen, um im zweiten Anlauf ans ersehnte Ziel zu kommen. Zwar dürften bei weitem nicht alle, die ihn wählten, restlos von ihm überzeugt sein. Aber sie sehen in ihm auf jeden Fall das kleinere Übel als in Keiko Fujimori, die sich nicht genügend von ihrem Vater, der Peru zwischen 1990 und 2000 mit harter Hand regierte, lösen wollte oder konnte.
Wirtschaft wächst am Volk vorbei
Humalas Sieg weckt vor allem bei den unteren sozialen Schichten grosse Erwartungen. Der neue Staatschef hat versprochen, an den Regeln der freien Marktwirtschaft festzuhalten und den Privatbesitz zu respektieren. Vom wirtschaftlichen Aufschwung soll aber künftig das ganze Volk profitieren und nicht mehr bloss eine kleine Minderheit. In den vergangenen zehn Jahren ist die Wirtschaft jährlich um durchschnittlich fünf Prozent gewachsen, in erster Linie dank der hohen Exporterträge für Kupfer, Zink, Blei, Silber und Gold. Trotz dieser positiven Entwicklung besteht nach wie vor eine gewaltige Kluft zwischen einer schmalen Oberschicht und der grossen Mehrheit der Bevölkerung. Rund ein Drittel der 28 Millionen Peruaner lebt in Armut, vor allem viele Ureinwohner führen einen täglichen Überlebenskampf. In ärmeren ländlichen Gebieten sind nach wie unzählige Haushalte weder ans Elektrizitätsnetz noch an die Trinkwasserversorgung angeschlossen. Aber auch im Gesundheitswesen und im Bildungsbereich bestehen im ganzen Land weiterhin grosse Lücken. Die offizielle Arbeitslosenrate von sieben Prozent vermittelt ein unzureichendes Bild, da schätzungsweise 70 Prozent der Beschäftigten in der Schattenwirtschaft tätig sind.
Die einseitig auf Wachstum ausgerichtete Wirtschaftspolitik des scheidenden neoliberalen Präsidenten Alan García hat in den vergangenen Jahren immer wieder zu Spannungen geführt, die sich mehrmals in gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen protestierenden Bevölkerungsgruppen und Ordnungskräften entluden. Humala will jetzt den Reichtum des Landes gerechter verteilen und damit soziale Stabilität schaffen. Dies glaubt er unter anderem dadurch erreichen zu können, dass er die nationale Souveränität stärkt, den Einfluss ausländischer Investoren vermindert, die „strategischen Bereiche“ des Landes schützt und die einheimische Produktion intensiver als bisher fördert.
Allein ist Humala zu schwach
Damit seinen Versprechen Taten folgen, ist Humala auf Verbündete angewiesen. Seine Partei „Gana Perú“ stellt nur 47 der 130 Abgeordneten im Kongress und kann damit keine Gesetze im Alleingang verabschieden. Es ist deshalb anzunehmen, dass er mit dem Rechtsliberalen Alejandro Toledo zusammenspannen wird. Perus erster indiostämmiger Staatschef (2001 – 2006) hat nach seiner Niederlage im ersten Wahlgang Humala unterstützt und damit zu erkennen geben, dass er an einer Allianz mit dem Linksnationalisten interessiert ist. Seine Partei „Perú Posible“ verfügt über 21 Mandate, zusammen hätten die beiden politischen Gruppierungen im Parlament eine knappe Mehrheit, die demokratische Stabilität und eine einigermassen effiziente Regierungsarbeit garantieren sollte. Eine solche Verbindung verlangt allerdings beiden Seiten ein beträchtliches Mass an Kompromissbereitschaft ab.
Humala steht so oder so vor einer Gratwanderung. Einerseits darf er seine Stammwähler nicht enttäuschen, wenn er nicht in kürzester Zeit an Popularität einbüssen und mit ähnlichen sozialen Konflikten konfrontiert sein will wie sein Vorgänger. Andererseits sollte er möglichst rasch die weit verbreiteten Befürchtungen vor einem Aufbruch zu politischen und wirtschaftlichen Abenteuern zerstreuen. In der Vergangenheit hat er stark polarisiert. Jetzt muss er beweisen, dass er willens und fähig ist, der Präsident aller Peruaner zu sein.