Eine Vorbemerkung: Man denkt, Bellelay sei unendlich weit weg. Stimmt überhaupt nicht. Mit dem Auto sind’s, von Luzern aus zum Beispiel, gut eineinhalb Stunden. Mit Bahn und Postauto – über Biel-Reconvillier – je nach Tageszeit knapp zweieinhalb Stunden, von Basel über Moutier nicht einmal zwei Stunden. Da ist also kein Grund, den schönen Ort im Berner Jura nicht zu besuchen.
In Bellelay gibt es ein Tête-de-Moine-Museum, denn aus diesen Tälern stammt der Käse – und eben das Prämonstratenser-Stift, das, wie so manche abgelegene Klosterbauten in der Schweiz, nach der Aufhebung zur Psychiatrischen Klinik wurde. Bellelay verfügt über eine Kirche aus dem frühen 18. Jahrhundert: Die westlichste Kirche, die dem Vorarlberger Schema gehorcht, wurde von Franz Beer von Blaichten erbaut und von den Brüdern Schmuzer mit reichen Stuckaturen versehen.
Ort anspruchsvoller Kunst
Der helle und überraschend weite Kirchenraum ist leer und steht seit Jahren jeweils im Sommerhalbjahr meist jüngeren Künstlerinnen und Künstlern zur Verfügung, die hier raumgreifende Installationen abseits des Mainstream realisieren. Gegenwärtig ist es der 1982 geborene, in Lenz im Kanton Graubünden arbeitende Mirko Baselgia, der auf eine grosse internationale Ausstellungstätigkeit zurückblicken kann und Träger verschiedener bedeutender Auszeichnungen ist. Er wurde kuratorisch betreut von Marina Porobic.
Mirko Baselgia geht nicht den einfachen Weg. Was er in Bellelay zeigt, ist die Frucht einer sorgfältigen Analyse der Örtlichkeit, aber seine Arbeit basiert auch auf präzisen thematischen Recherchen: „Pardis (Curzoin)“ lautet der Titel seiner Installation, die sich in drei Schritten, gewissermassen als Trilogie, dem Mythos des Paradieses annähert und vieles in jener Schwebe belässt, die auf einer weit verbreiteten Skepsis gegenüber allen unverrückbar feststehenden Weltsichten beruht. Dass sich manche Aspekte dieser Arbeit nicht unmittelbar erschliessen, tut insofern wenig zur Sache, als es verschiedene Zugangsmöglichkeiten gibt: Atmosphäre, Farb- und Lichtspiel sowie kompositorische Komponenten etwa im subtilen Eingehen auf die Architektursprache des Raumes vermögen auch Besucher ohne Hintergrundwissen in ihren Bann zu ziehen.
Labyrinth der Wege
Die fein geschwungenen Stege aus hellem Arvenholz, die sich wie eine sensible Raumzeichnung in 20 Zentimetern Höhe über den ganzen Boden des Kirchenschiffs hinziehen, wirken extrem prekär und gefährdet und zwingen die Besucher, die sich zwischen diesen verschlungenen Pfaden frei bewegen können, zu grosser Vorsicht. Das Linien-Labyrinth führt nirgendwohin. Baselgia belebt den Raum in virtuoser Manier und setzt einen starken Kontrast zur rational ausgerichteten Architektur. Zugleich, und das führt uns auf die thematische Ebene von „Pardis“, zeichnet er mit der Installation den Plan eines Eisenbahnnetzes in den USA aus dem Jahr 1873 nach: Die frühen Siedler befuhren diese Eisenbahnstrecken auf ihrer oft ergebnislos verlaufenden Paradiessuche.
Der verlorene Kreislauf
Im Chor beleuchten Lampen mit intensiv gelbem Licht Pflanzen, die in tischhohen Behältern unter ständiger Wasserzufuhr emporwachsen. Sie bringen Leben in den Raum, die Lampen geben ihm Farbe und Atmosphäre, doch wir begegnen unverkennbar einer dem Naturkreislauf entzogenen, künstlichen Laborsituation – einem „Paradies“ also, das nur vorgibt, eines zu sein. Mirka Baselgia geht aber viel weiter. Dem in der Ausstellung aufliegenden Informationsblatt ist zu entnehmen: Die Pflanzen stammen aus Sonnenblumenkernen, Erdbeer-Samen, Leinsamen und anderen Samen, die der Künstler einnahm und wieder ausschied. Er gib also seinem eigenen Körper den ihm ursprünglich von der Natur vorgegebenen, aber längst verloren gegangenen Stellenwert im Kreislauf von Wachsen und Vergehen zurück. Dieser Teil der Installation wirkt wie eine Klage auf einen versunkenen Mythos vom ewigen paradiesischen Kreislauf der Natur.
Gestrandete Schildkröten-Panzer
Die elf unterschiedlich grossen Holzskulpturen im Altarraum der Kirche – sie zeigen leere Schildkrötenpanzer – verfehlen ihre unmittelbare Wirkung nicht: Es sind wunderbare Objekte, die Baselgia mit präziser Sorgfalt und mit hoch entwickeltem Sinn für die schöne Form und die ebenso schöne Farbe des Holzes gestaltet hat. Doch auch das sind nicht nur „schöne“ Kunstobjekte. In Baselgias Konzept werden sie, wie auch die anderen zwei Elemente von „Pardis (Curzoin)“, zu Symbolträgern. Schildkröten stehen in den Mythologien verschiedener Völker für Kraft und Überlebenswillen. Sie stehen auch für die Verbindung von Himmel, Erde und Wasser, aber auch für Verletzlichkeit, Gefährdung und Schutzbedürfnis. Wichtig ist die Bedeutung der Schildkröte zum Beispiel im Hinduismus im Zusammenhang mit den Inkarnationen des Gottes Vishnu: Da trägt sie, als zweite Inkarnation des Gottes, den Berg Mandara beim Quirlen des Milchozeans und ist damit Teil des ganzen Weltentstehungsmythos.
Im Altarraum der Abbatiale von Bellelay sind die Panzer allerdings leer. Sie scheinen gestrandet im Niemandsland. Ihre Schönheit ist wohl geblieben und zeugt, mit Form und Farbgebung, von Potenz und Überlebenskraft. Doch ihr Daseinssinn scheint verloren. Dass die Panzer der schwimmenden Tiere aus verschiedenen afrikanischen Hölzern geschnitzt sind, lenkt die Gedanken der Besucherinnen und Besucher auf Flüchtlingsströme über die Meere und auf jene Paradies-Träume, die stets vom Scheitern bedroht sind.
Mirko Baselgias Werk – und das gilt für „Pardis (Curzoin)“ in besonderem Masse – hat viele Gesichter, spricht über ganz verschiedene Materialien und Strategien, fragt auch stets nach hintergründigen, oft verborgenen Zusammenhängen und Strukturen und erschliesst damit auch immer wieder unaufdringlich, aber in umfassendem Sinne politische Dimensionen. „Pardis (Curzoin)“ ist nicht nur eine schlüssig fortschreitende Trilogie über Paradies-Utopien. Die Installation ist auch offen für ganz verschiedene Sinneswahrnehmungen und Anstoss zu überraschenden Denkabenteuern: Für die Besucherinnen und Besucher der Abteikirche Bellelay ein Genuss!
Abbatiale de Bellelay, bis 9. September. Montag bis Freitag 10 bis 12, 14 bis 18, Samstag und Sonntag 10 bis 17 Uhr.