Die »International Crisis Group« ist eine unabhängige Stiftung, die es sich zur Aufgabe macht, über politische Konflikte zu berichten und Ratschläge für ihre mögliche Lösung zu geben. Sie ist im Gegensatz zur Weltpresse immer noch in der Lage, Kontakte mit beiden Seiten im Syrischen Bürgerkrieg zu unterhalten und sich auf beiden Seiten zu informieren.
Daher sind ihre Berichte über Syrien einzigartig. Sie geben einen vollständigen Einblick in beide Seiten des Bürgerkrieges, während andere öffentlich erscheinende Berichte in unvermeidlicher Weise einseitig sind. Die Berichterstatter sind gezwungen, auf der einen oder der anderen Seite des Ringens zu operieren und daher darauf angewiesen die Lage so, wie sie von dort aus erscheint, wiederzugeben - im besten Falle vielleicht mit einigen kritischen Anmerkungen versehen.
Die innere Entwicklung in Syrien
Der Bericht ist so lang wie ein kleines Buch. Was er neu in die Sicht des Konfliktes einbringt, ist vor allem eine Darstellung auf Grund von Augenzeugen und von Äusserungen Beteiligter - auf beiden Seiten. Es wird nicht nur der gegenwärtige Zustand thematisiert, sondern auch die Entwicklungen, die zu ihm geführt haben.
Es geht auch um die Zukunft: Was geschieht, wenn es so weitergeht wie bisher, was leider das wahrscheinlichere ist? Und umgekehrt: Welche Weichen müssten gestellt werden, damit der bisherige Weg in den Abgrund nicht immer weiter beschritten wird?
Mutationen auf beiden Seiten
Seit die Unruhen in der Grenzstadt Deraa im März 2011 begannen, gab es im Ausland wenig Bewegung, weil die internationale Syriendiplomatie keine Resultate hervorbrachte. Der Eindruck überwiegt, dass die internationale Diplomatie den rivalisierenden Grossmächten in erster Linie dazu diente, einen Vorwand zu gewinnen, um nicht gezwungen zu sein, direkt einzugreifen. Militärische Eingriffe wollten sie vermeiden, weil sie als allzu gefährlich und als wahrscheinlich unheilbringend für die ganze Region eingeschätzt wurden.
Das Ausland wurde aber dennoch zum Förderer des Bürgerkrieges, weil die eine Seite der an Syrien interessierten Staaten dem Regime half, Russland, China, Iran, während die andere Seite, Saudi Arabien, Qatar, Türkei, Europa und die Vereinigten Staaten die Rebellen unterstützte - zuerst mehr moralisch, später zunehmend auch materiell mit Geld und mit Waffen.
Von Versöhnungsgesten zur Verbrannten Erde
Im Inneren begann die Regierung nach den Beobachtungen der Crisis Group mit einem halbherzigen Versuch der Beschwichtigung der damals noch überwiegend gewaltfreien Opposition. Das gleichzeitige, äusserst brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte konterkarierte aber jeden Versuch zum Ausgleich. Das Regime ging dann unter dem Druck der eigenen Sicherheitskräfte zu einer "Sicherheitslösung" über, dann zu einer "Militärischen Lösung", die nach dem Urteil der Berichterstatter zu einer "Politik der verbannten Erde" mutierte.
Das Regime veränderte sich selbst im Laufe dieser Schritte. Es hatte nie auf einer breiten politischen Basis beruht. Doch es verhielt sich nun weniger und weniger wie eine Regierung, sondern immer mehr wie eine "Miliz". Der syrische Staat baute seine Funktionen immer weiter ab, bis er nur noch auf den Waffen der Waffenträger beruhte. Seine Politik und seine Propaganda verloren alle Glaubwürdigkeit, weil sie blosse Fassade und Sprachregelung für Waffenträger und Sicherheitsleute geworden waren.
Milizen an Stelle des Staates
Eine "Miliz" unterscheidet sich von einer "Regierung" dadurch, dass sie alleine auf Grund ihrer bewaffneten Macht besteht und sich ausschliesslich um deren Erhaltung kümmert. Die Landesbevölkerung wird für sie entweder ein Instrument, um ihre Macht aufrechtzuerhalten, indem die Miliz die von ihr "besetzte" Bevölkerung ausbeutet, oder sie wird eine Gruppe von Gegnern, die niederzuschlagen ist. Die bisher regierenden politischen Mächte werden von der Miliz zu blossen Gallionsfiguren degradiert.
Die "Miliz", die so entstanden ist, hat eine alawitische Färbung. Ihre Machthaber und Kontrolleure, Offiziere an den Scharnierstellen der Macht, gehören zu dieser Minderheit und haben die Rache der Mehrheit zu fürchten, falls sie ihre Macht verlieren. Dies begründet ihren Zusammenhalt. Die Desertionen sunnitischer Offiziere und Soldaten aus der Armee fördert deren alawitischen Charakter. Auch den Sunniten, die bei der Armee und den Sicherheitskräften verbleiben, ist nicht mehr zu trauen und alawitische "Wächter" müssen eingesetzt werden, um sie bei der Stange zu halten.
Von der Gewaltlosigkeit zu den Waffen
Auch auf der Seite der Rebellion der Mehrheitsgemeinschaft der Sunniten gab es Entwicklungen vom gewaltlosen zum bewaffneten Widerstand. Der Bericht besteht darauf, dass die syrische Zivilgemeinschaft in vielen Fällen die Gefahr einer »Konfessionalisierung« erkannt und versucht hat, ihr entgegenzuwirken. Doch seine Verfasser räumen ein, dass trotz des Widerstandes von Einsichtigen die Tendenz auf eine "Konfessionalisierung" hinausläuft.
Das bedeutet Abkapselung der verschiedenen Gemeinschaften gegeneinander und eine gegenseitige Angst und Verteufelung, natürlich besonders der Alawiten und der Sunniten, die mehr und mehr als Gemeinschaften gegeneinander kämpfen. Die anderen Minderheiten, Christen, Drusen, Ismailiten, haben bisher aus Angst vor einem "Sieg der Sunniten" eher zum Regime gehalten.
Die Versuchung eines sunnitischen Jihad
Innerhalb der sunnitischen Kämpfer gibt es bedeutende Unterschiede und ebenfalls Neuentwicklungen. Die ausgesprochen muslimischen Kräfte sind offenbar im Vormarsch. Wenngleich die radikalen Jihadisten unter ihnen eine Minderheit bilden, ist doch anzunehmen, dass ihre Kräfte weiter anwachsen werden. Sie erhalten Zulauf, Geld und Waffen aus dem Ausland. Saudi Arabien ist daran interesssiert, das Regime zu Fall zu bringen. Ob auch der syrische Staat mit ihm zugrunde geht, kümmert Riad weniger. Es kann behaupten, dieser Staat sei ohnehin schon zerbrochen.
Dass die "Miliz" wieder zu einem syrischen Staat werden könnte, schliesst der Bericht aus. Indem die Armee und die Sicherheitskräfte ihre Niederhaltung der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit vorantreiben, schaffen sie sich immer neue Feinde und sie müssen daher auch immer mehr Gewalt um sich herum ausüben.
Der Bericht führt viele Gründe für die Annahme an, dass die Kämpfe andauern werden. Der Staat ist durch den Aufstand deutlich geschwächt. Doch die "Miliz", in die er sich wandelt, wird durch die Kämpfe insofern gestärkt, als sie an Entschlossenheit, Brutalität und innerer Solidität gewinnt, solange die Kämpfe andauern und sie die Mittel besitzt, diese fortzuführen.
Die Milizen erstarken, der Staat zerfällt
Die Mittel fehlen nicht, teilweise dank der Unterstützung mit Geld und Waffen aus dem Ausland, besonders Russlands und Irans auf der Regierungsseite, offen Saudi Arabien und Qatar auf Seiten des Aufstandes und diskret dahinter »des Westens« mit den USA , Europa und der Türkei. Sogar Gebietsverluste sind für die "Miliz" nicht entscheidend. Sie kann sich, wenn sie Gebiete verliert, um so mehr auf die Verteidigung von für sie wichtigen Zonen konzentrieren. Ein Alawitengebiet in den Bergen und der Küstenebene mit Tartous und Lattakiya wäre die letzte Stadium einer solchen Entwicklung. Sie wäre wahrscheinlich von ethnischen Reinigungen begleitet, weil es fast nirgends grössere rein alawitische Zonen gibt.
Die Desertionen aus dem syrischen Heer würden wohl weiter zunehmen, wenn die alawitische Macht allzu nackt zu Tage tritt, doch dies hat den Vorteil für den alawitischen Machtkern der "Miliz", dass er an Zusammenhalt und innerer Entschlossenheit gewinnt.
Mehr und mehr Kampf der Gemeinschaften
Die Tendenz hin zu "Kampf der Gemeinschaften" wird von der Regierung dadurch gefördert, dass sie den alawitisch beherrschten Sicherheitskräften freie Hand gewährt. Sie kann es nicht anders, weil sie sich selbst in der Hand dieser Sicherheitskräfte befindet. Denn sie ist für ihr Überleben ganz auf sie angewiesen.
Doch die gleiche Entwicklung geht auch auf Seiten des Aufstandes voran, "die Alawiten" werden mehr und mehr als "der Feind" wahrgenommen, obwohl es natürlich eine Mehrheit von Alawiten gibt, die nicht zu den Schützern oder Profiteuren des Regimes gehören.
Die Alawiten sind sich dieser Vorgänge sehr bewusst. Sie haben eine jahrhundertealte Vergangenheit als diskriminierte Minderheit hinter sich. Dank der Asad-Familie und ihres Machtapparates haben sie diese Lage überwunden, indem sie Herren über den Staat wurden, der bisher zu ihren Verfolgern gehörte. Doch sie wissen, die alte Diskriminierung könnte, ja würde fast unvermeidlich, noch viel härter zurückkehren, wenn sie nun ihre Macht verlören.
Alawiten oder syrische Bürger?
Das Regime tut nichts, um solche Befürchtungen zu beseitigen. Im Gegenteil, es benützt diese zur Machterhaltung. Deshalb, so unterstreichen die Verfasser von »Crisis Report«, läge es an der Opposition, die Ängste der Alawiten abzubauen. Sie müsste klar machen, dass die Alawiten-Gemeinschaft in einem von ihnen regierten Syrien eine Zukunft hat.
Dazu brauchte es politische Zielsetzungen, die glaubhaft machten, dass ein Syrien für alle Syrer angestrebt wird, nicht etwa ein Syrien der Sunniten. Die politischen Programme und auch die Rhetorik und Propaganda des Widerstandes müssten darauf abgestimmt werden.
Gibt es noch Korrekturmöglichkeiten?
Doch ist es dafür wahrscheinlich schon zu spät. Die Unversöhnlichkeit wächst mit den Grausamkeiten. Die Kämpfer im Inneren konzentrieren sich auf ihren Krieg, ihre Siegeserwartungen und ihr eigenes Überleben, und die Exilierten im Ausland streiten sich darüber, wie das künftige Syrien aussehen soll und wer von ihnen es regieren dürfe.
Eine Umkehr der bisherigen Entwicklungen müsste erfolgen, wenn es gelingen soll, die Gefahr eines Abgleitens in einen Dauerkrieg zwischen alawitischen und sunnitischen Milizen und damit eine Zerstörung des syrischen Staates als Staat zu bannen.
Wohin führen die inneren Entwicklungen?
Man kann aus dem Bericht die folgenden Schlüsse ziehen: Die in ihm geschilderten Entwicklungen, die dem Bürgerkrieg innewohnen, sind unabhängig davon, ob die eine Seite oder die andere Gelände gewinnt oder verliert. Sie setzen sich unvermindert fort, gleichgültig ob die einen oder die anderen in dem Bürgerkrieg Fortschritte machen, solange die Kämpfe andauern.
Ob beispielshalber Aleppo von den Rebellen gehalten werden kann oder ob die Regierung die Stadt, wie Damaskus, "zurückerobert", ändert nicht viel. In Damaskus dauert der Kleinkrieg noch an. Wenn er ganz niedergeschlagen werden sollte, wird er wahrscheinlich zu einem Krieg mutieren, in dem die Selbstmordbomben zur Hauptwaffe werden.
Sogar wenn eine Gegenoffensive der „Regierungsmiliz" in Aleppo wie in Damaskus "ihr Ziel erreicht", wird der Krieg auch dort nicht zu Ende gehen. Die Kämpfer der Gegenseite werden abziehen. Die „Regierungsmiliz" selbst wird mit ihren Grausamkeiten dafür sorgen, dass neue Kämpfer zu den Rebellen stossen. Die Trennung in "Alawiten" und "Sunniten" wird sich noch stärker ausprägen.
Wann kommt das Ende?
Ein Ende ist erst abzusehen, wenn die eine Seite den Glauben verliert, dass sie "siegen" könnte. Doch das Kriterium beider für "Sieg" liegt nicht mehr in der Herrschaft über den Staat, den es immer weniger geben wird, sondern ob die eine Seite oder die andere sich irgendwo auf dem syrischen Territorium an der Macht über die dortige Bevölkerung halten kann.
Der libanesische Bürgerkrieg hat auf diese Weise nicht weniger als 15 Jahre gedauert. Sein Ende konnte nur herbeigeführt werden, indem eine fremde Armee - in diesem Falle war es die syrische - in Libanon einmarschierte und die Milizen entwaffnete.