Unter Goethes Epigrammatischen Versen steht unter dem Titel «Das Beste» der Rat: «Wer nicht mehr liebt und nicht mehr irrt,/ Der lasse sich begraben.» Ganz meine Meinung. Und dann diese zwei gewichtigen Worte: Lieben, Irren.
Neben dem Lieben das Irren
Über die Liebe fehlt es ja nicht an Literatur: Gedichte, Romane, Studien, philosophische, psychologische, neurologische, theologische Abhandlungen und Erörterungen – ganze Bibliotheken voll. Was hat allein der Apostel Paulus in seinem 1. Brief an die Korinther darüber geschrieben: Die Liebe eifere nicht, blähe sich nicht, stelle sich nicht ungebärdig, sie sei langmütig, vertrage alles, glaube alles, hoffe alles, dulde alles – einen Korb voll betörender Illusionen.
Theologen werden einwenden, Paulus habe nicht die Liebe zu einem Menschen, sondern die Liebe zu Gott gemeint. Mag sein. Es ist immer schwierig auszumachen, was in der Bibel genau gemeint ist. Zum Beispiel König Salamos Hohelied: Für Gläubige eine Liebeserklärung an Gott, für mich das ekstatische Liebesvorspiel zweier Liebenden, so wie in Wagners «Tristan und Isolde» das orgastische Liebesgestammel-Duett im zweiten Akt, nur viel besser.
Grosse Irrende: Einstein, Heidegger, Benn
Und wie halten Sie‘s mit dem Irren? Jede und jeder irrt gelegentlich, mehr oder weniger häufig, mehr oder weniger schwer. Sogar Einstein irrte, als er sich weigerte, die in der Teilchenphysik herrschende Zufälligkeit des Geschehens anzuerkennen und auch für den Teilchenbereich an der in der klassischen Physik geltenden Kausalität festhalten wollte – unerschütterlich davon überzeugt, dass Gott, wie er sagte, nicht würfle. Dies veranlasste schliesslich den Mitbegründer der Quantenmechanik, den Dänen Niels Bohr, Einstein zu ermahnen, er solle endlich aufhören, Gott vorzuschreiben, was er zu tun habe. Beide Physiker, der Agnostiker Einstein und der Atheist Bohr, verwendeten übrigens das Wort Gott nicht im religiösen Sinn, sondern als Chiffre.
Es ist seltsam, wie wenig die Menschen bereit sind, ihr gelegentliches Irren einzugestehen – sich selber oder im Gespräch mit andern oder öffentlich. Der meiner Meinung nach viel zu hoch renommierte Martin Heidegger etwa weigerte sich bis zuletzt, seinen Irrtum bei der Beurteilung des Nationalsozialismus zuzugeben, obwohl seine einstmalige Geliebte Hannah Arendt, sein ehemaliger Kollege Karl Jaspers und der ihn ursprünglich bewundernde Dichter Paul Celan (der ihn eigens zu diesem Zweck besuchte) ein solches Eingeständnis von ihm erhofften oder ihn sogar darum ersuchten.
Ähnlich verhielt es sich mit Gottfried Benn: Noch 1949 schrieb er seinem damaligen Verleger Niedermayer: «Auch heute bin ich der Meinung, dass der N.S. ein echter und tief angelegter Versuch war, das wankende Abendland zu retten.» Noch 1949! Warum diese Scheu davor, zu dem eigenen Irrtum zu stehen? Rechthaberei? Oder der Wille, vor sich selber und vor andern die eigene Selbstwert-Einschätzung zu schützen?
Fail better
Der römische Dichter Horaz prägte die Aufforderung: Sapere aude! (Wage zu wissen), und Immanuel Kant übernahm sie zur Charakterisierung des Zeitalters der Aufklärung. Mir scheint allerdings wichtiger als das Wagnis zu Wissen das Wagnis zu irren. Errare aude! Wage zu irren! Nur das Irren führt weiter – weiter bis zum Wissen oder vermeintlichen Wissen, wo dann das Denken im einzelnen Punkt zum Stillstand kommt.
Samuel Beckett hat den Vorgang auf die prägnante Formel gebracht (ich zitiere frei aus dem Gedächtnis): You failed? Fail again. Fail better. Du bist gescheitert; scheitere wieder, scheitere besser. Und Albert Camus hatte recht, als er schrieb, man müsse sich Sisyphus glücklich denken, denn der immerfort währende Kampf um Leistung genüge, das Herz eines Menschen zu befriedigen, auch wenn er, so wie Sisyphus, die erstrebte Leistung nie zu erbringen vermöge.
So ist es ja auch beim Schreiben (und mit andern Mitteln bei jeder andern Arbeit): ein nie abbrechender Kampf mit Worten, Sätzen, Gedanken – ein Kampf, bis man das, was man sagen möchte, so genau als möglich aufs Blatt gebracht hat, und zwar so, dass es verständlich ist und beim Lesen nicht gar zu sehr holpert. Das ist ein Kampf. Er ermüdet mehr als ein Tennisspiel. Und in neunundneunzig von hundert Fällen endet er in einer Niederlage. Denn das, was der Schreibende schliesslich als endgültig akzeptiert, entspricht selten genau dem, was er ausdrücken wollte. Er fühlt, dass es noch besser gemacht werden könnte, aber anerkennt, dass die eigenen Fähigkeiten nicht dazu ausreichen.
Uns eingeboren ist schon die Grenze, an der all unser Tun sich schliesslich zerschlägt. Es ist ein endloses Scheitern – ein beglückendes Scheitern, denn es ist befriedigend, immer wieder von Neuem beginnen und versuchen zu können, etwas so zustande zu bringen, dass es der eigenen Massgabe, dem eigenen Qualitätskriterium genügt, auch wenn man es nie erreichen kann. Immer von Neuem – ein endloses Ringen mit dem Dämon.