Der Erfolg wird allerdings etwas getrübt durch die marode Stimmung in der Währungsgemeinschaft, die 2010 Griechenland und Irland mit Kredit und Sanierungsauflagen vor dem Bankrott retten musste. Weitere Rettungsaktionen, so wird befürchtet, könnten den Euro-Klub spalten.
Estland wird von amerikanischen Wirtschaftsmagazinen wie Forbes und Fortune als Musterschüler im wirtschaftlich maroden Europa gefeiert. Und die 16 bisherigen Euro-Länder müssen zugeben, dass der Neuling bei den Anforderungen bezüglich Budgetdefizit, Gesamtverschuldung und Inflation besser abschneidet als die Gründerstaaten. Von diesen erfüllen die meisten ihre seinerzeit in Maastricht aufgestellten Eintrittsbedingungen nicht mehr. Der Direktor einer estnischen Managerschule stellt stolz fest, dass Estland jetzt zum Eliteklub gehöre. Er kann sich aber den Seitenblick auf Griechenland und Irland nicht verkneifen, und fügt hinzu, dass die estnische Mitgliedschaft Estlands dem Klub vielleicht etwas Mut einhauche.
Ein „nordischer Tiger“
Vor der Finanzkrise gehörten Estland und die beiden anderen baltischen Staaten zu den Ländern mit zweistelligen Wachstumsraten. Die Medien honorierten diesen Erfolg mit dem Ausdruck „nordische Tiger“. Bei den Tagungen der schweizerisch-baltischen Handelskammer spendete man den Finanzministern aus Estland, Lettland und Litauen Beifall. Höchstens am Rand wurde erwähnt, dass dem Wachstum Zahlungsbilanzdefizite in vergleichbarer Grösse gegenüberstanden. Die Transformationsländer befanden sich eben im Aufbau, und der massive Geldzufluss erklärte sich durch die erwartete Nachfrage sowie die mit dem EU-Beitritt erworbene Rechtssicherheit. Wichtigste Attraktion waren die gut ausgebildeten und billigen Arbeitskräfte. Auch lockten die tiefen Steuern, und in Estland waren wieder investierte Gewinne sogar steuerfrei.
Als Problem bezeichnete der ökonomische Berater des Ministerpräsidenten damals – im Frühling 2007 - das Übermass an westlichen Investitionen, die Estlands dynamische Wirtschaft zu ersäufen drohten. Die Regierung bemühte sich energisch um Aufnahme in den Euro-Klub und befürchtete, dass die Inflation über den für den Beitritt vorgeschriebenen Richtwert steigen könnte. Zwar floss das westliche Geld grösstenteils in den Aufbau industrieller Anlagen. Aber die nahezu verdoppelte Bautätigkeit signalisierte auch einen Boom beim Wohnungsbau, der das Gleichgewicht zwischen steigendem Lebensstandard und Wettbewerbsfähigkeit bedrohte. Zur Geldflut trugen zudem die europäische Entwicklungsbank EBRD und Brüssel bei, welche die für die Transformation wichtige Infrastruktur fördern wollten. Nach der hohen Arbeitslosigkeit beim Übergang zur Marktwirtschaft wurden jetzt die Arbeitskräfte knapp. Und da eigene Handwerker nach Skandinavien abwanderten, musste man jetzt vor allem im Bauwesen Leute aus der Ukraine und Weissrussland anwerben.
Sorgen wegen Abwanderung
Die Regierung stand vor einem Balanceakt, weil sie gleichzeitig die niedrigen Lohnkosten zu Hause bewahren und die Abwanderung von qualifizierten Leuten ins Ausland verhindern wollte. Wer Spezialisten festhalten will, muss neben Wohnkomfort und guten Schulen auch eine medizinische Versorgung anbieten. Daran mangelte es in Estland, weil gute Ärzte vor allem ins sprachverwandte Finnland abwanderten. Eine Folge des Dilemmas war die schnell wachsende Kluft zwischen arm und reich. Während in den grossen Städten der Lebensstandard stieg und die schicken Autos aus dem Westen den Verkehr blockierten, herrschte in den ländlichen und mehrheitlich russischsprachigen Regionen im Osten Not.
Die Industrie fürchtete die steigenden Löhne, weil dadurch die Fertigmontage von Mobiltelefonen für finnische und schwedische Firmen abzuwandern drohte. Auch für die Textilindustrie wurde der Lohnanstieg zur Überlebensfrage. Ein Beispiel ist die mit Schweizer Textilmaschinen ausgerüstete Firma Krenholm. Sie ist der einzige grosse Arbeitgeber in der östlichen Grenzstadt Narva. Obschon hier die Löhne mehr als ein Drittel tiefer sind als in Tallinn, konnte der Betrieb nur überleben, wenn er die arbeitsintensiven Näharbeiten über die Grenze ins russische Ivangorod verlagerte. Die EU-Mitgliedschaft bremste diesen Grenzverkehr und Krenholm steht jetzt vor dem Aus.
Finanzkrise als Falle
Das Ertrinken in der westlichen Geldflut wurde Estlands Wirtschaft erspart durch die Finanzkrise in USA und Europa. Das Ausbleiben der ausländischen Investitionen machte deutlich, wer die „nordischen Tiger“ bisher gefüttert hatte. In den baltischen Staaten brach die Konjunktur ein. Auch in Estland stieg die Arbeitslosigkeit wieder auf jene 20 Prozent, mit denen man nach der Wende von 1989 gelebt hatte. Erspart wurde den Esten allerdings eine staatliche Finanzkrise wie in Lettland, das die Hilfe von EU und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) brauchte und sein Budget unter Aufsicht sanieren musste. Als einziger baltischer Staat hatte Estland den Rat des IWF befolgt und Budgetdefizite in der Hochkonjunktur vermieden. Beim Ausbruch der Finanzkrise schränkte der Musterschüler die Ausgaben sofort drastisch ein. Die Kürzungen waren so radikal, dass sogar die OECD als Klub der reichen Industrieländer die geringen Sozialleistungen kritisierte. Wie die gerade bekannt gewordenen Zahlen für 2008 zeigen, fiel in Estland jede fünfte Person unter die Armutsgrenze. Bei den über 65jährigen traf die Armut jede dritte Person und bei Frauen über 75 jede zweite.
Altersarmut und Kinderverwahrlosung
Dass Estland 2011 in die Währungsgemeinschaft und zugleich auch in die OECD aufgenommen wird, ist ein Erfolg. Aber der Kraftakt hat seinen Preis. Estland hat nach 1989 zwar konsequenter als andere Transformationsländer seine Wirtschaft gefördert. Die Kehrseite zeigt sich aber in die Vernachlässigung der abgelegenen Regionen im Osten. Man nahm zudem eine Verwahrlosung von nicht eingebundenen Kindern und eine Altersarmut in Kauf. Das bei den Medien beliebte Prädikat „Tiger“ übergeht den Umstand, dass beim musterhaften Übergang zur Marktwirtschaft bestimmte Menschengruppen unter die Räder kamen.
Das Lob für Estland übergeht auch die Funktion der Nachbarn Finnland und Schweden. Wohlstand und soziale Absicherung vermindern in reichen Ländern den Spielraum für schnellen Gewinn und unternehmerisches Risiko. Kapital und Geschäftseifer konzentrierten sich daher auf das Baltikum. Wer am frühen Morgen die Schnellfähre von Helsinki nach Tallinn besteigt und die energischen Jungmanager mit ihren dicken Mappen sieht, erkennt die Arbeitsteilung zwischen den beiden Städte. Nokias Hauptsitz ist in Helsinki. Die Mobiltelefone werden bei Tallinn montiert und gelten als Estlands wichtigsten Export. Die scherzhafte Wortkombination „Tallsinki“ verdeckt, dass Tallinn dabei die Rolle der industriellen Vorstadt zufällt.
Abschied vom Modell Schweiz
Bevor Estland 2004 in die EU und die NATO aufgenommen wurde, kokettierte man mit der Schweizer Lösung. In Tallinn sah es so aus, als ob man zugleich unabhängig bleiben und auch die Vorteile der EU geniessen könne. Die Politiker erklärten aber bei der Abstimmung über den EU-Beitritt, dass dieser die Vorstufe zur NATO-Mitgliedschaft sei. Für das Land im Schatten Russlands hat die Sicherheit Vorrang. Und das Verteidigungsbündnis verspricht in Artikel 5, dass der Angriff auf ein Mitglied als Angriff auf alle NATO-Mitglieder eingestuft werde und entsprechenden Beistand erfordere. Seit Estlands EU- und NATO-Beitritt ist das Schweizer Modell in Estland kein Thema mehr. Auch die Aufnahme in den Euro-Klub und die OECD sind letztlich Garantien, dass Westeuropa und die USA eine Rückstufung Estlands zum russischen Interessengebiet (near abroad) nicht hinnehmen würden.