Glauben muss man auch nicht. Analysieren wäre besser. Genau besehen klagt, zum Beispiel der leidende Mittelstand in der Schweiz, auf hohem und höchstem Niveau.
Anstatt klagen wären, ähnlich wie in Asien, Anstrengungen, wären Ideen, wäre harte Arbeit gefragt. Doch schon die Forderung wegen des diamantharten Frankens zwei Stunden länger zu arbeiten, stösst auf entschiedenen Widerstand, vor allem von den Strukturreformen verhindernden Gewerkschaften.
Gewerkschaftsfunktionäre sind wie Politker, sie versprechen das Blaue vom Himmel – zum Beispiel Rentensicherheit für zukünftige Generationen – obwohl es weder ein Studium der Wirtschaftswissenschaften noch einen MBA braucht, um zu wissen, dass das nie und nimmer finanzierbar ist. Die Politiker wollen wiedergewählt werden, die Funktionäre ihren Job behalten.
In China wächst der Mittelstand so rasant wie alles
Jenseits aller ökonomischen Realitäten. Schon Carlo Marx hat ja voraussgesagt, dass sich der Kapitalismus selbst abschaffen werde. Im Diskurs über den Mittelstand werden neuerdings die Schwellenländer, zuvorderst China, ins Spiel gebracht. Dort sichten von Fakten unbeleckte Analysten von New York bis Zürich als Kontrapunkt zum Westen die Zukunft des Mittelstandes.
Und in der Tat, in China wächst der Mittelstand so rasant wie alles in China. Nach neusten Zahlen aus der statistischen Küche der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften gab es 2009 gut 230 Millionen Mittelständler in China, d.h. 37% der städtischen Bevölkerung. Tendenz stark steigend.
Die europäische Mitteklasse verfügt über Rente, Krankenversicherung, eine freie oder kostengünstige Erziehung und was der Sicherheiten mehr sind. Die chinesische Mittelklasse kann davon nur träumen. Anders ausgedrückt: Chinesen sparen, Europäer und Amerikaner konsumieren.
Die enorme Zahl von 230 Millionen Mittelständlern in China freilich ruft nach Interpretation. Wie bei allen Statistiken kommt es aufs Kleingedruckte an, also auf die Definition. Der chinesische Mittelstand setzt sich zusammen aus kleineren und mittleren Privatunternehmern, gut gebildeten Büro-Angestellten, Ingenieuren, Advokaten, Partei- und Regierungskadern sowie erfolgreichen Berufsarbeitern.
"Bescheidener Wohlstand"
Nach Definition der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften gehören dem Mittelstand all jene an, die weniger als 37 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für die tägliche Nahrung ausgeben. Es ist das Ökonomen – nicht aber wohl hochbezahlten Investmentbankern und neunmalklugen Analysten – vertraute engelsche Gesetz.
Nach Definition der UNO-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft FAO bedeutet ein Koeffizient über 59 Prozent absolute Armut, 50 bis 59 Prozent Armut und 40 bis 50 Prozent „moderat lebend“. Dieser Massstab wurde vom deutschen Statistiker Ernst Engel im 19. Jahrhundert entwickelt. Es besagt, dass der Einkommensanteil, der in einem Haushalt für Ernährung ausgegeben wird, mit steigendem Einkommen sinkt. Der Anteil des für die Ernährung ausgegebenen Einkommens wird auch Engel-Koeffizient genannt. Anders ausgedrückt: Ein niedriger Engelkoeffizient gilt gemäss dem engelschen Gesetz als Indikator für hohen materiellen Wohlstand.
Und hier kommt die Olive ins Spiel. Die Einkommensverteilung müsste nach Ansicht chinesischer Wirtschaftswissenschafter idealerweise ausgeglichen sein. Also bildlich gesprochen darf es keine Pyramide sein. Der Mittelstand ist sozusagen Garant für die Olive, das heisst an einem Ende Reich und am andern Arm, in einer breiten Mitte Menschen mit einem bescheidenen Wohlstand. Genau das war das vom grossen Reformer und Revolutionär Deng Xiaoping gesteckte Ziel: „Xiaokang“, bescheidener Wohlstand.
Ob China dieses Ziel für seine über 1,3 Milliarden Einwohner erreichen wird, ist trotz des rasanten Wachstums ungewiss. Yao Bin schrieb als leitender Redaktor in der offiziellen „Pekinger Rundschau“ zu diesem Thema, dass sich Partei und Regierung sputen müssen. Die Einkommens-Verteilung müsse rasch reformiert, das soziale Sicherheitsnetz verbessert und ein besserer Zugang von Privat-Unternehmern zum Markt garantiert werden. Die Wirtschaftsplaner der Zentrale fördern zudem den Übergang zu „nachhaltigem Wachstum“, das heisst weg von der einseitigen Export-Abhängigkeit und hin zu mehr Konsum.
Nur unter diesen Voraussetzungen wird die chinesische Mittelklasse stark und selbstbewusst. Und nur so kann die Partei das „Mandat des Himmels“, also die Macht, bewahren und „Stabilität“ im Reich der Mitte wahren. Der Mittelstand also ist in Ost und West, Hüben und Drüben der alles entscheidende Faktor. In der demokratischen, liberal-kapitalistischen Welt genauso gut wie in der autoritären „sozialistischen Marktwirtschaft chinesischer Prägung“.