Der russische Dichter und Schriftsteller Warlam Schalamow blieb lange ein Geheimtipp. Seine literarisch grossartigen «Erzählungen aus Kolyma» konnten erst postum nach der Auflösung der Sowjetunion erscheinen. Nun erzählt die deutsche Slawistin Franziska Thun-Hohenstein in einer ersten umfassenden Biografie vom Leben und Werk dieses vielleicht grössten unter den grossen Autoren des Gulag.
Im Nachhinein mutet es an wie ein Abbrechen der letzten Brücke: Ende Dezember 2021 verfügte das Oberste Gericht der Russischen Föderation die Zwangsauflösung der Menschenrechtsorganisation Memorial. Zwei Monate vor seinem Angriff auf die Ukraine hat der Geheimdienstmann Putin jene Organisation zum Schweigen gebracht, die die Schreckenstaten der sowjetischen und russischen Geheimdienste erforscht und im grossen Stil dokumentiert hat. Das legendäre Memorial-Archiv – es ist zum grossen Teil inzwischen online verfügbar – enthält Zeugnisse im Zusammenhang mit Millionen von Opfern der stalinistischen und auch nachstalinistischen Säuberungen.
Bruchstückhafte biographische Quellen
Der Schriftsteller Warlam Schalamow war eines dieser Opfer. In seiner Heimat schon zu Zeiten der Sowjetunion als der grösste unter den Gulag-Autoren anerkannt, blieb er im Westen lange eine Art Geheimtipp. Zumindest für deutschsprachige Leserinnen hat der Matthes&Seitz Verlag diese Situation in höchst verdienstvoller Weise verändert: Nach der Gesamtausgabe von Schalamows Erzählungen und Prosawerken in sieben Bänden legt er nun einen überaus gewichtigen Briefband vor (wiederum übersetzt von Gabriele Leupold). Dazu kommt die erste deutsche Biografie der Schalamow-Forscherin und Herausgeberin seines Werkes in deutscher Sprache, Franziska Thun-Hohenstein.
Die Slawistin Franziska Thun-Hohenstein stand bei diesem Unternehmen vor grossen Schwierigkeiten. Schalamows gesamtes erhaltenes Werk entstand, nachdem er aus insgesamt fast 20 Jahren Lagerhaft nach Moskau zurückkehren konnte. Für die Jahrzehnte davor fehlen schriftliche Quellen ganz: Dreimal haben Schalamows Schwestern und seine Frau aus Angst vor Verfolgung sämtliche vorhandenen Dokumente, Briefe, Texte usw. verbrannt. Die Jahre der Lagerhaft vermag Thun-Hohenstein deshalb einzig mit den Geheimdienstakten zu seinen Verurteilungen zu dokumentieren; für Kindheit und Jugendjahre muss sie sich fast ausschliesslich auf Schalamows Selbstaussagen und Erinnerungen stützen, die er im Alter niederschrieb.
Und selbst der Nachlass Schalamows für die Jahrzehnte nach dem Lager erweist sich als ausgesprochen schwierig: Oft sind seine Texte in zahlreichen Fassungen vorhanden, fast immer fehlt eine Datierung, seine schwache Handschrift mit Bleistift wird mit fortschreitendem Alter fast unleserlich. Nur fünf seiner rund tausend Gedichte konnten zu seinen Lebzeiten in der Sowjetunion erscheinen, auch sie durch die Zensur verstümmelt. Daneben kursierten einige seiner Texte im Untergrund des Samisdat.
«Voller Leidenschaft und Zorn»
Dieser «Fragmentarität in Leben und Werk» will Thun-Hohenstein in ihrer Biographie Rechnung tragen, will dem «Bruchstückhaften» dieses Lebens und der «Brüchigkeit» seines Werkes gerecht werden. Das führt die Autorin zu ausführlichen Erörterungen aller Umstände, zu vielen Mutmassungen, Ungewissheiten und auch Wiederholungen, die die Lektüre nicht immer einfach machen. Und doch gelingt der Autorin ein ebenso grossartiges wie tragisches Porträt der schwierigen und oft schroffen Persönlichkeit von Warlam Schalamow, eines Mannes «voller Leidenschaft und Zorn, voller Wissensdrang und Emotionalität». Der den Gulag, das sowjetische Lagersystem, immer in Parallele zu Ausschwitz und Hiroshima sah und dessen «Erzählungen aus Kolyma» wie die Erinnerungsliteratur eines Imre Kertesz oder Primo Levi zu den literarisch bedeutendsten Werken zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts zählen.
Schalamow wuchs als jüngster Sohn eines Priesters in der nordrussischen Stadt Wologda auf. Er war ein rastlos lesendes Kind, verschlang am liebsten Abenteuerromane, die sein Vater ihm verboten hatte. Mit 17 bricht er nach Moskau auf, wo er zunächst als Gerber arbeitet, bis es ihm gelingt, seine soziale Herkunft zu vertuschen und an der Universität aufgenommen zu werden – eine Denunziation beendet dann sein Jura-Studium nach anderthalb Jahren. Der idealistische junge Kommunist wohnt bei seiner älteren Schwester, ist in der trotzkistischen Opposition gegen Stalin aktiv, was 1929 zu einer ersten Verhaftung führt. Nach drei Jahren Lagerhaft im Norden kehrt Schalamow nach Moskau zurück und findet Arbeit als Journalist, er heiratet, bekommt eine Tochter.
Verbindung mit Pasternak und Solschenizyn
Im grossen Säuberungsjahr 1937 wird er auf Grund einer Denunziation ein zweites Mal verhaftet und diesmal zu Zwangsarbeit an der Kolyma im äussersten Nordosten Russlands verurteilt. 17 Jahre wird er inklusive Verbannung an diesem «Kältepol der Erde» leben, wo verhungernde Häftlinge noch bei minus 55 Grad im gefrorenen Boden Gold schürfen müssen, wo Menschen durch «Schwerstarbeit, Kälte, Hunger und Schläge» in wenigen Wochen zu Bestien werden, nur um zu sterben wie Fliegen. Der vollkommen ausgezehrte Schalamow überlebt nur dank Lagerärzten, die ihn mehrmals aufpäppeln und ihm dann eine Ausbildung zum Sanitäter ermöglichen. In der Erzählung «Sentenz» wird er später zu beschreiben suchen, wie mit dem simplen Überleben auch die in ihm abgestorbene Sprache wieder erwachte. Zeit seines Lebens hat sich Schalamow als «Mensch aus der Hölle» bezeichnet. Allen seinen Texten, schreibt die Biographin, ist «das Wissen und das an der Kolyma Erlebte auch dann eingeschrieben, wenn es unausgesprochen bleibt».
Zunächst in die Verbannung entlassen, kehrt er 1953 mit 46 Jahren bis an die den Ex-Häftlingen einzig erlaubte 100-Kilometer-Grenze um Moskau zurück, ab 1956 dann nach Moskau. Die etwa zwanzig Jahre, in denen Schalamow nun sein Werk schreibt, sind nicht minder tragisch. Die Wiederbegegnung mit seiner Frau und der nun erwachsenen Tochter misslingt, furchtbar beengte Wohnverhältnisse, extreme Armut und zunehmende Krankheiten begleiten ihn bis ans Lebensende. Der ersehnte Anschluss an die literarischen Kreise scheint zwar zunächst zu gelingen – nebst vielen anderen verkehrte er mit Boris Pasternak und lernte Anna Achmatowa kennen. Nadeschda Mandelstam, die Witwe des im Gulag verstorbenen Dichters, wird eine Freundin, die ihm lange die Treue hält. Auch zu Alexander Solschenizyn entsteht zunächst ein kollegiales Verhältnis. Die ausführliche Darstellung der damaligen literarischen Welt in Moskau stellt für Interessierte einen Höhepunkt dieser Biographie dar.
Doch all diese Beziehungen werden versanden oder zerbrechen. Zu schroff, zu eigensinnig und auch überheblich beharrt Schalamow auf seinem einzig richtigen Stil und seiner eigenen Sicht auf die Tragödie des Stalinismus/Sowjetkommunismus. Denn Zweifel an sich selbst hegte dieser Dichter wenig: «Ich glaubte, … ich sei genau jener russische Schriftsteller, der an Shakespeares Stelle der Welt die Welt erklärt», schrieb er einmal.
Soziale Isolation und Krankheit
Umso grösser die Kränkung und zunehmende Verzweiflung, als Autor in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen zu werden. Auch in der damaligen sogenannten «Tauwetterzeit» der 1960er Jahre wurden seine Texte nie publiziert: Nur fünf seiner rund tausend Gedichte und ein einziger kurzer Prosatext, beides über die Natur des Nordens, konnten, durch die Zensur verstümmelt, zu seinen Lebzeiten in der Sowjetunion erscheinen. Daneben kursierten einige Manuskripte im Untergrund des Samisdat. Als einige dieser Samisdat-Texte 1972 in einem westlichen, antisowjetischen Verlag erschienen, kam es zu einem Eklat: Schalamow distanzierte sich nämlich in der hochangesehenen «Literaturnaja Gazeta» in einem öffentlichen Brief von dieser «niederträchtigen» Publikation, die ohne sein Einverständnis erfolgt sei. Er sei ein «ehrlicher sowjetischer Schriftsteller» und wolle der Welt nicht als «antisowjetischer Untergrundautor» präsentiert werden. Überdies sei «die Problematik seiner ‘Erzählungen aus Kolyma’ vom Leben längst aufgehoben».
Der Brief und insbesondere dieser Satz lösten in der sowjetischen Intelligenzia und in Dissidentenkreisen Unverständnis und Entsetzen aus. Für Solschenizyn war Schalamow damit «tot». Die Biografin geht den möglichen Gründen und dem bis heute andauernde Rätselraten um den radikalen Brief ausführlich nach. Deutlich wird hier zumindest, dass Schalamow, im Unterschied zu anderen Dissidenten, mit den kommunistischen Idealen seiner Jugend nie wirklich gebrochen hat. Immerhin wurde er nun endlich in den Schriftstellerverband aufgenommen, was seine materielle Situation etwas verbesserte. Doch um den Preis einer immer stärkeren Isolation, die sich mit zunehmender Taubheit und Krankheit noch verschärfte. Eine Liebe zur jungen Archivarin Irina Sirotinskaja liess Schalamow noch einmal aufleben; ihr übergab er seinen Nachlass. Taub, nahezu blind, verwirrt, verwahrlost und schwer krank, starb Warlam Schalamow im Januar 1982 unter unsäglichen Bedingungen in einem Moskauer Altersheim.
«Dem ist nichts hinzuzufügen»
Was bleibt, sind neben den grossen autobiographischen Texten die etwa 150 «Erzählungen aus Kolyma». Thun-Hohenstein zeigt, wie besessen Schalamow sich über Jahrzehnte mit der Frage nach der richtigen Erzählform für die Wirklichkeit des Lagers beschäftigte, mit jener Frage, über die er sich mit anderen Gulag-Autoren, insbesondere mit Alexander Solschenizyn, zerstritt. Schalamow lehnte jedes traditionelle, realistische Erzählen ab, da es eine trügerische Hoffnung berge. Der Humanismus aber hatte sich für ihn angesichts der massenhaften Vernichtung des Menschen durch den Staat erledigt. Es galt, eine neue Erzählform zu finden, eine neue Verbindung von Fakten und Fiktion, eine Prosa «die durchlitten ist wie ein Dokument».
«Schockgefroren» hat ein Kritiker die Prosa der Erzählungen aus Kolyma genannt. In den meist kurzen Szenen ohne jede Erklärung, Einleitung oder Einbettung werden die Leser mit einem Geschehen konfrontiert, das manchmal rätselhaft bleibt, sich dann langsam erschliesst. Mit brutalem Egoismus und, noch schockierender, mit vollkommener Gleichgültigkeit, wird ein völlig entkräfteter junger Mensch mit einem Genickschuss erledigt. Wird Sterbenden das Hemd ausgezogen, um darum zu würfeln. Wird ein Toter auf der Pritsche versteckt, um seine nächste Brotration zu ergattern. Die Lakonie der Sprache, der kalte, von keinerlei Romantisierung getrübte Blick des Erzählers ist schier unerträglich. Ebenso die durchlittene Wahrheit der Erkenntnisse, die Schalamow einwebt: «Der Frost, derselbe, der die Spucke in der Luft gefrieren lässt, ergriff auch die menschliche Seele.» Er blickt auch auf die Pferde, deren Leiden unter Hunger und Kälte sich in nichts von dem der Menschen unterscheidet, die aber schneller und einfacher sterben. Wer auch nur eine oder zwei dieser Erzählungen gelesen hat, wird sie nie vergessen. Hierin ist Schalamow Kafka ebenbürtig – eine oft bemerkte Parallele.
In einem ersten langen Brief an Warlam Schalamow (welcher ihm schon aus der Verbannung einige Gedichte geschickt hatte) schrieb Boris Pasternak im Juli 1952: «Ich verneige mich vor der Unerbittlichkeit und Härte Ihres Schicksals und vor der Frische Ihrer Fähigkeiten.» Dem ist nichts hinzuzufügen.
Franziska Thun-Hohenstein: Das Leben schreiben. Warlam Schalamow. Biographie und Poetik. Matthes&Seitz, Berlin 2022. 536 Seiten.
Warlam Schalamow: Ich kann keine Briefe schreiben … Korrespondenz 1952–1978. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Herausgegeben von Franziska Thun-Hohenstein. Matthes&Seitz, Berlin 1922. 751 Seiten.