Die Stadt Sirte, nahe am Meer, in der Mitte der libyschen Küste gelegen, ist zum Schauplatz der jüngsten Gewaltakte der libyschen Branche des IS geworden. Den Informationen nach, die bisher durchgesickert sind, hatte sich der Distrikt 3 der Stadt gegen den IS erhoben. Die Terrorgruppe dominiert seit Monaten die Stadt, doch sie war bisher zu klein, um sie völlig zu kontrollieren. Sie benötigt ihre Kämpfer, um eine weite Peripherie um Sirte herum zu beherrschen, und sie transportiert ihre verfügbaren Kräfte rasch von einem Punkt zum anderen innerhalb dieses Gebietes, sobald sich Widerstand gegen sie zeigt oder sie sich auf weitere Gebiete und Ortschaften ausdehnen will.
Ein mutiger Prediger
In der Stadt Sirte hatte ein Geistlicher, Imam Khalid ibn Rajabal-Firjani, gegen den IS gepredigt und die Bevölkerung aufgefordert, sich zu weigern, Reuerklärungen gegenüber dem IS abzugeben. Die Terrorgruppe fordert solche Erklärungen von ehemaligen Mitgliedern der Polizei und der Armee Ghaddafis.
Sirte war Ghaddafis Heimatstadt. Der Scheich erklärte, der IS sei keine Gruppe, die für den Islam sprechen könne und könne daher auch keine Reueerklärungen fordern oder entgegennehmen. Der IS reagierte darauf, indem er die Bewohner des Distrikt 3 der Stadt aufforderte, ihre Waffen abzuliefern.
Stammeskrieger niedergeschlagen
Der Stamm der Ferjani, zu dem auch der erwähnte Geistliche gehört, ist der in Distrikt 3 dominierende. Die jungen Leute des Stammes hatten sich zu einer «Brigade» zusammengeschlossen, die sie «Division136» nannten, und sie weigerten sich, ihre Waffen abzugeben. Der IS schritt daraufhin am 11. August zur Ermordung des widerspenstigen Scheichs durch Erschiessung.
Dies führte dazu, dass die «Division 136» sich gegen den IS erhob. Ihre Mitglieder glaubten, sie würden Hilfe von aussen erhalten. Sie forderten solche an sowohl von der Tobruk-Regierung wie auch von jener von Tripolis. Doch der IS zog rasch Tanks und Raketenwerfer aus dem umliegenden Gelände zusammen und umzingelte den Distrikt 3 von Sirte.
Die Stadt Misrata entsandte eine ihrer Brigaden, um den Aufstand zu unterstützen. Doch diese kehrte an der ersten Strassensperre des IS um, auf die sie östlich von Misrata stiess. Ihre Führung erklärte, sie habe nicht die versprochene Unterstützung an Personal und Kriegsmaterial erhalten, auf die sie gezählt habe.
Die lokalen Kämpfer des Ferjani Stammes, die nur über leichte Waffen verfügten, wurden in 48 Stunden niedergekämpft. Dabei wurden Wohnhäuser zerstört, auch eine Klinik mit 24 Verwundeten sei in Brand gesetzt worden, berichten Einwohner des Ditrikts 3. Zwölf Häuser von Familien wurden gesprengt. Der IS warf ihnen vor, sie arbeiteten mit Misrata zusammen. Mindestens vierzig Tote wurden gezählt. Verwundete blieben auf der Strasse liegen.
Über Telefonleitungen sagten Bewohner des Distrikts, auf alle Männer des Ferjani-Stammes werde nun Jagd gemacht. Wen die IS-Terroristen erwischten, der werde erschossen. Der Chef der lokalen «Division 136», Ali Sadak und seine beiden Söhne, Abubasit Ali und Murad Ali, seien in den Kämpfen gefallen.
Vergebliche Hilferufe
Zwei Brigaden aus Misrata – die Stadt gehört zur «Regierung» von Tripolis – hatten bereits diesen Frühling versucht, Sirte zu befreien. Damals hatte «Brigade 136» unter ihrem Kommandanten Muhammed Zadma fast drei Monate lang nahe vor Sirte gestanden. Doch war sie nie in die Stadt eingedrungen. Am 5. Juni hatte Zadma seine Truppen abgezogen mitder Begründung, er habe weder Geld noch Munition noch Verstärkungen aus Misrata erhalten und könne deshalb nicht mehr weiterkämpfen.
Schon damals hatten beide Regierungen Libyens die ausländischen Mächte aufgerufen, ihnen zu Hilfe zu kommen, eine jede von sich aus. Auch diesmal gibt es derartige Aufrufe. Die international anerkannte Regierung von Tobruk hat auch ihr Begehren erneuert, der Sicherheitsrat solle das für Libyen geltende Waffenembargo zu ihren Gunsten aufheben. Weiter forderte sie, dass Luftangriffe auf Sirte durchgeführt würden. Beide Seiten betonen, dass sie alleine dem IS in Sirte nicht gewachsen seien.
Erst «Einheit» schaffen, dann IS bekämpfen?
Die internationale Gemeinschaft ist jedoch der Ansicht, zuerst sollten sich die beiden feindlichen Regierungen zusammenschliessen und eine provisorische Einheitsregierung bilden, die dann Neuwahlen durchführen soll. Der erhofften Einheitsregierung hat der Sicherheitsrat Hilfe versprochen, sobald sie gebildet sei. Doch die Verhandlungen über eine solche Einheitsregierung machen schleppende und nur partielle Fortschritte. Überhaupt nicht voran kommen sie, soweit man vernimmt, wenn es um die Belange der bewaffneten Gruppen geht.
Tripolis erklärt, der Oberkommandant der sogenannten libyschen Armee von Tobruk, General Haftar, müsse entlassen werden, bevor es zu einer Zusammenarbeit gleich welcher Art mit Tobruk kommen könne. Tobruk wiederum ist der Ansicht, die Milizen von Tripolis müssten aufgelöst und in die Armee Haftars eingegliedert werden.
Da es in Wirklichkeit die Bewaffneten sind, nicht die Politiker der beiden Regierungen, die tatsächlich das Sagen haben, sind die Winkelzüge der Politiker ziemlich irrelevant. Was die Anführer der Bewaffneten angeht, so sehen diese auf beiden Seiten: wenn sie ernsthaft gegen den IS kämpften, liefen sie Gefahr, Kämpfer und Material zu verlieren und damit auch ihre auf Kämpfern und Kriegsmaterial beruhende Macht über Tripolis einerseits und Tobruk andrerseits einzubüssen. Sie möchten deshalb das Ausland dazu motivieren, möglichst weitgehend den Kampf gegen den IS zu übernehmen.
Rituelle Anrufung der Arabischen Liga
Gesuche um Luftwaffenunterstützung gegen den IS ergingen diesmal auch an die Arabische Liga, und diese hat auf den Dienstag eine ausserordentliche Sitzung angesagt, um über die Forderungen zu beraten. Dass sie etwas tun könnte, was über Erklärungen hinaus ginge, ist unwahrscheinlich. Die Liga ist berühmt für ihre Untätigkeit. Sie kann nur einstimmige Beschlüsse fassen. Der Widerspruch eines einzigen ihrer Mitglieder macht sie handlungsunfähig.