Vor genau einem Jahr, am 2. Oktober 2019, machte sich in Delhi eine Gruppe von dreissig Personen zu einem Marsch auf. Ein Jahr später wollten sie beim Uno-Sitz in Genf ankommen. Die beiden Eckdaten sollten an das 150. Geburtsjahr von Mahatma Gandhi erinnern, ebenso wie die Mission und Strategie dieser Fusspilgerschaft.
Indische Sozialaktivisten unter der Führung des Gandhianers Rajgopal P.V. bildeten den Kern der Truppe, der sich auf dem Weg durch ein Dutzend Länder lokale Mitstreiter anschliessen wollten. Mit Ausnahme von Pakistan hatten sich in jedem Land Freiwillige zusammengetan, die um Unterkunft und Verpflegung der „Yatris“ besorgt waren. Mit Veranstaltungen und Medienbetreuung wollten diese zudem die lokale Öffentlichkeit auf Anlass und Ziel des Marsches aufmerksam machen.
Es war ein gewagtes Unternehmen, auf das sich Rajgopal einliess. Es verlangte eine ausgeklügelte Logistik, besonders wenn die Truppe auf mehrere hundert Teilnehmer anwachsen würde. Doch wenn Einer es wagen konnte, dann Rajgopal.
Diskriminiert vom Recht der Reichen
Seit beinahe dreissig Jahren organisiert er Fussmärsche von Landlosen, um Öffentlichkeit und Staat aufzurütteln. Allein in Indien wird deren Zahl auf etwa hundert Millionen geschätzt. Viele von ihnen sind Opfer von Kastendiskriminierung, die sie vom Landbau ausschliesst; oder es sind Ureinwohner, die immer noch in einer tribalen Ökonomie leben. Sie kennt den Begriff des Privatbesitzes nicht, was für den Staat ein Vorwand ist, deren einzige Ressourcen – Wald und Wasser – für sich zu beanspruchen.
Hinzu kommen Millionen von armen Bauern, die von (einfluss)reichen Nachbarn vertrieben werden, ohne dass der Staat ihnen zu Hilfe kommt. Sie werden zudem das Opfer einer Rechtspraxis, die von politischen und wirtschaftlichen Machtträgern zurechtgebogen werden kann.
Die Überlastung der Gerichte erschwert die Rechtsfindung, gemäss dem englischen Sprichwort „Justice delayed is Justice denied“. Ein Rechtsstreit um Land kann sich über ein Jahrzehnt hinziehen; kein Kleinbauer, dem unter irgendeinem Vorwand das Land wegschnappt wurde, kann sich einen jahrelangen Prozess leisten. Zudem hat Indien nie eine Landreform erfolgreich durchgezogen. In Nordindien kann eine Pacht, die seit Generationen besteht, bis heute von einem reichen „Zamindar“ (Grossgrundbesitzer) aufgelöst werden.
Wachsender Erfolg der Bewegung
Die Marschkolonnen, die Rajgopal über die Jahre in Richtung Bezirkzentren und Provinz-Hauptorte in Bewegung setzte, wurden immer länger, nicht nur in der Zahl der Teilnehmer, sondern auch in Dauer und Distanz. Im Jahr 2007 organisierte er den ersten Marsch auf die Hauptstadt mit 25’000 Teilnehmern, die in drei Wochen 350 Kilometer von Gwalior nach Delhi gingen.
Ich hatte den Marsch damals für einige Tage begleitet. Was zuerst in Auge (und Herz) sprang, war die ausserordentliche Leidensfähigkeit der Teilnehmer. Die Frauen und Männer, ausgemergelt und (wenn überhaupt) mit miserablem Schuhwerk unterwegs, marschierten Tag für Tag in sengender Hitze auf dem heissen Asphalt.
Oft trugen sie ihren Besitz auf den Schultern mit – Essgeschirr, Schlafmatte, einen zweiten Sari oder Dhoti, Hand- und Schweisstuch. Doch alle schwangen sie einen grün-weissen Wimpel – Grün das Ziel: Boden; Weiss das Vorgehen: friedvoll. Oft konnte ich beobachten, wie sie mitten im Marschieren in einen kurzen Tanz ausbrachen, wenn ein Teilnehmer seine kleine Trommel hervorholte oder eine Frau ein Lied anstimmte.
Sie hatten Grund zur Zuversicht: Zum ersten Mal nach so vielen Protesten hatte die Regierung von Manmohan Singh signalisiert, dass die Anliegen der Marschierenden gehört wurden. Der Landwirtschaftsminister hatte für den Zwischenstopp in Agra sein Kommen angekündigt.
Er kam dann doch nicht. Die versammelte Menge starrte an jenem Tag bis zum Sonnenuntergang in den Himmel, um den Helikopter zu erblicken, der den Minister herbeifliegen sollte. Doch das Wunder aus dem Abendhimmel blieb aus. Der Marsch wurde wieder aufgenommen, für weitere zehn Tage. Erst bei einem zweiten Marsch fünf Jahre später, diesmal mit 100’000 Teilnehmern, akzeptierte die Regierung die meisten Forderungen; in den Jahren danach begann sie, diese gesetzlich umzusetzen.
Beeindruckende Organisation
Die Zuversicht der Teilnehmer, so sah ich damals beim ersten Tageshalt, hatte nicht nur mit der kollektiven Bereitschaft von 25’000 Teilnehmern zu tun, sich für ihr Anliegen wochenlangen Strapazen auszusetzen. Sie war auch das Resultat des erstaunlichen Organisationstalents von Rajgopal und seinen freiwilligen Helfern.
Wenn die kilometerlange Kolonne am Abend in einer Stadt oder einem Dorf ankam, waren Zeltbahnen bereits aufgestellt, Kilometer von Lichtkabeln gezogen und mit Neonröhren bestückt. Das Brennholz für die riesigen Töpfe stand bereit, ebenso Lastwagen mit Säcken voll Mehl und Reis und Linsen. Langgezogene Blechtröge zum Waschen waren aufgestellt, Schläuche liefen in einen Tiefbrunnen oder zu Wassertanks auf Traktor-Anhängern. Viele Einwohner schenkten Lebensmittel – Säcke mit Salz, Chilis, Gemüse. In Agra hatte ein Schuhfabrikant mehrere tausend Sandalen geschickt.
Die Polizei war über die Routen informiert und hatte die Bewilligungen erteilt, Freiwillige standen an den Kreuzungen und wiesen den Marschierenden den Weg. Und was mich am meisten erstaunte: Rajgopal war nirgendwo. Er lief in einer der Hunderter-Kohorten einfach mit, mitten in der Menschenschlange, gab im Gehen Interviews, grüsste links und rechts die Teilnehmer. Aber er brauchte nichts zu planen: Alles war schon Monate zuvor vorbereitet und an Hunderte von Freiwillige delegiert worden.
Dieses Organisationstalent würde Rajgopal bei seinem „Jai Jagat“-Marsch (Wach auf!) über mehrere tausend Kilometer gut gebrauchen können. Mit der Hilfe der vielen lokalen Komitees konnte er hoffen, das internationale mediale Gehör für ein Problem zu finden, das nicht nur in Indien akut ist. Der versperrte Zugang zu Land- und Wasserressourcen ist eine entscheidende Ursache für die andauernde Armut in vielen Regionen Südasiens und Afrikas.
Unüberwindlicher Gegner: Corona
Doch dann stiessen Rajgopal und seine friedlichen Fusssoldaten mitten im Marsch auf einen Gegner, dem auch mit selbstlosem Einsatz und einer ausgeklügelten Logistik nicht beizukommen war. Sie waren bis Armenien gekommen, als die Panik ob der Corona-Pandemie in Versammlungs- und Marschverbote mündete. Sie mussten umkehren und schauen, dass sie irgendwie wieder nach Indien zurückfanden.
Auch die lokalen Freiwilligenkomitees in den restlichen sieben Ländern – viele ebenfalls in die Quarantäne verbannt – mussten ihre Banner einrollen, Zimmer- und Saalmieten annullieren, die Passier-Bewilligungen wieder zurückgeben. In der europäischen Öffentlichkeit hatte der Marsch keine Vorauswirkungen erzeugt. Die meisten Medien waren ohnehin mit der Pandemie beschäftigt und hatten kein Ohr für ein Non-Event.
Waren die Jahre der Vorbereitungsarbeit umsonst gewesen? Stellt man auf die mediale Funkstille ab, muss man dies bejahen. Aber die vielen freiwilligen Helfer, die von Genf aus in verschiedenen europäischen Ländern Ankunft, Aufenthalt und ein reiches Programm von Veranstaltungen bereitgestellt hatten, wollten sich nicht damit abfinden. Das Problem der Landlosigkeit war ja mit der Pandemie nicht verschwunden. Es würde sich im Gegenteil mit ihr vermutlich noch verschlimmern.
Fenster zur Aussenwelt öffnen
Sie beschlossen, die organisatorische Infrastruktur für einen öffentlichen Anlass zu nutzen. Als zeitlichen Fixpunkt wählten sie den 26. September, den Tag, an dem Rajgopal mit seiner Truppe in Genf angekommen wäre.
Zusammen mit NGOs, die bereits seit Jahrzehnten Rajgopal unterstützen – etwa die Gruppe Cesci in Zürich – organisierten sie an mehreren Orten in Europa ein Programm, das auf den gewaltlosen Kampf um Landrechte aufmerksam machte, verbunden mit einem Mittagessen, das für die Bewegung Geld sammelte. Mehrere Gruppen aus Frankreich und der Schweiz führten sogar einen mehrtägigen Marsch nach Genf durch.
Ich hatte Gelegenheit, bei der Veranstaltung in Brig teilzunehmen. Das Städtchen am Fuss des Simplons wäre die erste schweizerische Anlaufstation der Pilger gewesen. Etwa hundert Leute waren gekommen, um von Jai Jagat zu hören, und „The Meal“ zu kosten – eine Walliser Spezialität namens „Chollera“.
Ein junger Teilnehmer, nach dem Motiv seiner Anwesenheit befragt, meinte: „Bei Corona ist das Schlimmste nun vorbei. Diese Veranstaltung zeigt, dass die Fenster zur Aussenwelt nun wieder aufgestossen werden. Ich finde dies gut, denn wir sollen ja nicht nur unsere nähere Umgebung mit neuen Augen anschauen, sondern auch die Welt und ihre Probleme.“