Gegenwärtig sind dort Dadaisten und Surrealisten zuhause. Die Kunstinstitution ist auch ein Markstein für einen grossen Neubeginn einer Kleinstadt.
Wer mit dem Zug Basel Richtung Mulhouse verlässt oder umgekehrt aus Frankreich kommend in die Schweiz einreist, kann den überdimensionierten Adler, der über dem Namen Fernet Branca und einem klassischen Industriegebäude seine Flügel ausbreitet, kaum übersehen. Direkt an der Bahnlinie, in unmittelbarer Nähe von Basel. Er war gleichzeitig während Jahren eine Art inoffizielles Wahrzeichen der Grenzstadt Saint-Louis. Die Zeiten haben sich geändert. Das zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Art-Déco-Stil errichtete Gebäude, hatte am Ende des gleichen Jahrhunderts ausgedient.
Die italienischen Gebrüder Branca aus Mailland stellten hier an diesem unscheinbaren Ort ein von einem gewissen Doktor Fernet erfundenen Kräuter-Elixier her. Ein Magenbitter, international bekannt und begehrt. In den Glanzzeiten wurden in Saint-Louis bis zu 700 000 Flaschen pro Jahr abgefüllt. Am 22. Juli 2000 flossen die letzten Tropfen. Im Keller stehen heute noch ebenfalls historische, riesige Eichenfässer (Fassungsvermögen 40 000 Liter). Längstens leer.
Keine Schnapsidee
Das Gebäude ist in Paris als Monument historique registriert. Für alle Zeiten, und wie alles, was dort einmal in einem Ministerium registriert worden ist. An einen Abbruch konnte somit nicht gedacht werden. In Saint-Louis war man sich einig, die Anlagen, das historische Gebäude, durften auf keinen Fall zur historischen Ruine verkommen. Was sollte aber aus einer still gelegten, ausgetrockneten „Schnapsfabrik“ werden? Wie soll ein neuer Geist hinter der legendären Fassade für neue Lebendigkeit sorgen?
Bald war klar, aus Fernet Branca soll ein Espace d’art contemporain werden. Wer hier nun eine Schnapsidee vermutete irrte. Jean Ueberschlag, der weitsichtige, damals noch amtierende Député-Maire (dies während 22 Jahren), wusste was er wollte und er war ein Mann der Tat. Und so wurde bereits 2003 der Pariser Architekt Jean Michel Wilmotte beauftragt, die ehemalige Distillerie in ein Zentrum der Kunst der Gegenwart umzuwandeln.
Subventionen aus Paris
In der Kunst wurde eine Zukunftschance erblickt. Eine Chance, aus Vergangenem Neues herauswachsen zu lassen und dabei erst noch geschütztes Kulturgut zu erhalten. Vielleicht war sogar das Beispiel Bilbao nicht unvergessen, hat doch die spanische Industriestadt vor ein paar Jahren aus einer verrosteten Stahl-Landschaft eine Kultur- und Museumsstadt aufgebaut. Mit Riesenerfolg. Etwas ähnliches, auch ohne berühmte Namen wie Guggenheim und Frank Gehry, sollte doch auch einer französischen Provinz- und Grenzstadt gelingen. Es ist ihr gelungen. Nicht ohne Erfolg, so lässt sich heute feststellen. „Ich bin nach wie vor überzeugt davon, dass Kultur auch wirtschaftliche Aktivitäten anstossen und fördern kann“, sagte erst kürzlich der heute 76-jährige frühere Député-Maire (UMP) und Freund von Jacques Chirac. Kein Wunder also, floss in den letzten Jahren auch immer wieder der Subventionsstrom aus Paris bis an die Schweizer Grenze.
Die Stadtbehörden waren übrigens schon längstens bestrebt, das Image einer verstaubten, vergessenen Grenzstadt abzulegen. Der Durchsage an die Adresse der Reisenden am Bahnhof und in den Zügen: „Saint-Louis, Saint-Louis, trois minutes d’arrêt“ durfte keine Allgemeingültigkeit zukommen, war man in Saint-Louis fest überzeugt. Hier sollte man länger als bloss drei Minuten verweilen, waren sich die Stadt-Verantwortlichen bewusst. Bereits waren Weichen gestellt. Schon der frühere Maire, Georges Gissy, ein ehemaliger Journalist und eine eigenwillige Persönlichkeit, als Politiker nicht immer ganz unumstritten, war bemüht, die Grenzstadt aus ihren Grenzen herauszuführen. Sein Nachfolger, Jean Ueberschlag, beschleunigte die Vorwärtsstrategie und –entwicklung und erwies sich rasch als die treibende Kraft. Die Stadt sollte aus dem Schatten der Kunstmetropole Basel treten aber gleichzeitig vom Basler-Erfolgsrezept profitieren. Nicht Trittbrettfahrer sollte Saint-Louis sein, sondern eigenständige, grenzüberschreitende, lebendige Zukunftsstadt, ausgerichtet auf Kunst und Kultur. „Monsieur le Maire“, dem europäischen Geist und Denken zutiefst verpflichtet, wusste dem Umbruch das entsprechende Gepräge zu verleihen.
Weg vom Zollhäuschen-Image
Saint-Louis, die Grenzstadt, für die meisten während Jahren einfach gleichbedeutend für Zoll und Zöllnern, hat sich im Laufe der Jahre sichtbar gewandelt. Die Bevölkerung hat sich in knapp fünf Jahrzehnten verdoppelt und umfasst heute ca. 20 000 Einwohnerinnen und Einwohner. Zahlreiche haben ihren Arbeitsplatz in der benachbarten Schweiz, in erster Linie in Basel. Das Zentrum der Stadt wurde grundlegend erneuert. Für eine moderne Sportanlage zeichnen die Basler Stararchitekten Herzog & de Meuron (Bauherrin ist das Bürgerspital Basel!). Die Fussgängerinsel „La Croisée des Lys“ ist geprägt von einer Reihe moderner Gebäude wie das Hôtel-de-Ville (Rathaus), 1989 erbaut, die Médiathèque le Parnasse (1993), und vor allem der imposante Komplex „La Coupole“, das moderneTheater und Kulturzentrum (2000), das nach zehn Jahren internationales Ansehen geniesst. Nicht zuletzt dank künstlerischen Partnern wie beispielweise die Opéra National du Rhin und das Théâtre National de Strasbourg, um nur die prominentesten zu nennen. Zu den Partnern auf wirtschaftlicher Ebene gehören zwei Schweizer Pharmaunternehmen, Novartis und Weleda. Mit dem Café littéraire und einer vielbeachteten Buchmesse, die jedes Jahr auch zahlreiche Schweizer anlockt, wird die Ausrichtung der Zukunftspolitik deutlich gemacht. Saint-Louis soll keinesfalls zu einer banalen, bedeutungslosen „Agglomération française de Bâle“ werden.
Die urbane Umgestaltung ist übrigens längstens nicht abgeschlossen. Auch der neue Stadtpräsident, Jean-Marie Zoellé, hat den Weg der Erneuerung und Zukunft nicht verlassen. Saint-Louis hat ein neues Projekt in die Phase der Verwirklichung übernommen. Auch diesmal geht es darum, einem verlassenen Industriegebiet eine neue Zukunft zu sichern. Die ehemaligen Lagerhallen der von der Deutschen Post übernommenen Speditions-Gruppe Danzas wird in eine “Cité des métiers d’art et rares“ umgebaut. Mit Nachdruck wird auf „Art et rares“, Kunst und selten, verwiesen. Zudem soll auch hier der industrielle Charakter und historische Teil des Gebäudes unangetastet bleiben, während die Innenräume grundsätzlich neuen Tätigkeitsgebieten geöffnet werden (ab Ende dieses Jahres). Auf einer Fläche von 1500 Quadratmeter entstehen moderne Ateliers für etwa ein Dutzend Kunstgewerbebetriebe (Buchbinderei, Herstellung von Musikinstrumenten, Restaurierung von Spielzeug usw.). Geplant sind Ausstellungsräume, Konferenzsäle usw. Ein 3 Mio. Euro-Projekt.
Kernstück mit Symbolkraft
Kernstück und Symbol des Aufschwungs und Aufbruchs ist ohne Zweifel das Espace d’Art Contemporain Fernet Branca. Die ehemaligen Produktionssäle wurden mit klugen und diskreten Eingriffen in mustergültige, gediegene Ausstellungsräume umgebaut. Mit Licht und Farben wusste Wilmotte sehr geschickt und sparsam umzugehen und eine museumsreife Atmosphäre schaffen. Am geschützten historischen Gebäude wurde nichts verändert. Auch der riesige Adler aus Kupfer, der auf einer Weltkugel thronend über dem Gebäude und dem früheren Firmennamen wacht, durfte seinen Platz behalten. Nur seine Aufgabe hat sich gewandelt: Er wirbt nicht mehr für Magenbitter. Er wurde zum Lockvogel für ein neues Lebenselixier namens Kunst.
Das Centre d’Art Contemporain de Saint-Louis wurde im Sommer 2004, paralell zur weltberühmten Art Basel eröffnet. Da wurde sogleich die Richtung angezeigt in die man steuern will. In wenigen Jahren ist es bereits auch gelungen, sich international zu positionieren und in der grenzüberschreitenden Basler Museumslandschaft einen festen Platz einzunehmen. Das Ausstellungsprogramm überrascht Jahr für Jahr mit attraktiven Präsentationen. Die Zukunft der Institution muss langfristig gesichert sein. Das weiss Jean Ueberschlag am besten. Aus diesem Grunde wurde nun Anfang Mai dieses Jahres eine Stiftung gegründet. Die Stadt Saint-Louis hat 500 000 Euro beigetragen. Die Schweiz ist ebenfalls dabei: Der Basler Pharmakonzern Novartis hat 600 000 Euro in der Stiftungskapital eingebracht, der nordschweizerische Energiekonzern EKB Birsek steuerte 300 000 Euro bei. Und im Stiftungsrat ist neben Vertretern des Pariser Centre Pompidou, und zwei ehemalige französischen Kulturministern (u.a.: Chirac-Freund Jacques Toubon) auch die Fondation Beyeler zugegen. Präsident ist Jean Ueberschlag persönlich, der noch den Wunsch hegt eines Tages auch die Familie Branca einzubinden, die übrigens immer noch Eigentümerin der Liegenschaft ist und diese im Mietrecht der Stadt überlassen hat.
Hochkarätige Ausstellung
„Chassé-croisé Dada-Surréaliste 1916-1969“, so lautet der Titel der gegenwärtigen Ausstellung (noch bis 1.Juli) im historischen Gebäude,. Eine brillante, hochkarätige und eindrucksvolle und absolut sehenswerte Schau. Eine sehr breitgefächerte Präsentation. Etwa 200 Gemälde und Skulpturen von nahezu 100 Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt vermitteln einen Einblick in die vielfältige, faszinierende und auch verrückte Welt des Dadaismus und des Surrealismus. Die Dada-Bewegung wurde 1916 im Cabaret Voltaire an der Spiegelgasse in Zürich gegründet (Das Kunsthaus Zürich hat übrigens für 2016 eine große Dada-Ausstellung angekündigt). Zu den Gründungsmitgliedern gehörten u.a. der Elsässer Jean (Hans) Arp, der in der Schweiz Asyl gefunden hatte und auch seine zukünftige Frau, die Schweizer Künstlerin Sophie Taeuber. Die Gruppe setzte sich aus Intellektuellen und Künstlern aus verschiedenen Richtungen zusammen. Bei ihren turbulenten abendlichen Feiern propagierten sie die Provokation“, schreibt Georges Sebbag, der prominente Kunsthistoriker und Schriftsteller im Vorwort des Katalogs.
Mit dem Dadaismus wurde alles Bisherige umgestossen, Gültiges ungültig. In der Bewegung zeichnete sich der große gesellschaftliche Wandel ab, wie er sich zu Beginn des 20.Jahrhunderts und mitten im Ersten Weltkrieg bereits erahnen liess. Eine neue Kunst, für neue Zeiten und neue Menschen wurde geboren. Neue Ausdrucksformen werden geprobt. Immer neue Namen tauchen auf, Künstlern, die sich anderen Entwicklungstendenzen und Stilen verschrieben haben, sich in ihrer Grundphilosophie jedoch dem Dadaismus verwandt fühlen. Es sind dies vor allem die Surrealisten. Es war Guillaume Appolinaire, der französische Dichter, der 1917, also nur ein Jahr nach der Dada-Gründung, den Begriff „Surrealismus“ prägte. „Dada-Künstler und Surrealisten haben eines gemeinsam: Sie sind Rebellen, Anhänger des Automatismus, Collage-Künstler der Begegnung, Entdecker des „günstigen Augenblicks’“, wie Sebbag die Bewegung definiert.
Die Ausstellung ist in neun Abschnitte gegliedert. Die Besucherinnen und Besucher entdecken die verschiedenen Entwicklungsphasen und Tendenzen der neuen Kunstbewegungen, vom Anfang bis in die Neuzeit. Das Hin und Her (Chassé-Croisé wie es im Titel heisst), das Suchen, oft das ergebnislose Suchen oder die oft verwirrenden Verflechtungen, kommen sowohl im Aufbau der Ausstellung wie auch in den einzelnen Werken zum Ausdruck. Den Auftakt machen Giorgio de Chirico, Paul Klee, Francis Michaux, Pierre Roy u. Alberto Savinio. Die grossen Namen dieser ungewöhnlichen Stilrichtungen fehlen nicht: Hanna Höch, Hans Richter, Max Ernst, Man Ray, Salvador Dali, Antonio Saura (dem das Kunstmuseum Bern von 6. Juli bis 11. November dieses Jahres eine umfassende Retrospektive widmet). Meret Oppenheim, eine mit der Schweiz und speziell Bern eng verbundene Künstlerin, begegnet man im „Frauenbereich“ der Ausstellung: „Seize femmes surréalistes“ betitelt. Nicht unerwähnt bleibe der Einzelgänger Adolf Wölfli, der mit seinen originellen Bildern in der Abgeschiedenheit und Einsamkeit der psychiatrischen Klinik Waldau in Bern ein Werk hinterlassen hat, das universelle Bedeutung erlangt hat und in diesem „chassé-croisé“ absolut seinen Platz verdient hat.