Der Name von und die Erinnerung an Menschen ist häufig mit bestimmten Bildern verbunden. Bei Konrad Adenauer sind dies das Pepita-Hütchen und das Boccia-Spiel. Kommt die Rede hingegen auf Walter Scheel, fördert (zumindest bei den älteren Zeitgenossen) das Gedächtnis mit hoher Wahrscheinlichkeit jene Szene aus dem Jahr 1973 zutage, als der damalige Bundesaussenminister zugunsten der „Aktion Sorgenkind“ im ZDF zusammen mit dem Männergesangsverein Düsseldorf das Lied vom lustigen Postillion „Hoch auf dem gelben Wagen“ schmetterte.
Als Scheel dann im Mai des folgenden Jahres zum vierten Präsidenten der Bundesrepublik gewählt wurde, erschien vielen Deutschen diese Szene geradezu symbolhaft. Die Einen (eher Lebenslustigen) sahen sich nach den fünf Präsidentschaftsjahren des strengen Mahners Gustav Heinemann zu neuer Fröhlichkeit ermuntert. Anderen hingegen galt die „rheinische Frohnatur“ (Bonn-Chronist Walter Henkels) aus Solingen eher als „Bruder Leichtfuss“. So knurrte etwa der politische Sänger der sozialliberalen Koalition, Günter Grass, die Bundesrepublik brauche einen „unbequemen Präsidenten“, nicht aber einen, „der sich mit einer Schallplatte legitimiert und volkstümelt“.
Heiterkeit und Härte
Wie so häufig, wenn Personen sozusagen „katalogisiert“ werden, enthalten die dort geäusserten Klischees viel Richtiges und eine Menge Falsches zugleich. Walter Scheel war ohne Zweifel ein fröhlicher, dem Leben und besonders dessen schönen Dingen zugewandter Mensch. Er trug Massanzüge und Seidenkrawatten, rauchte teure (vorzugsweise Havanna-)Zigarren aus einem silbernen Etui und gefiel sich darin, auf dem Bonner Parkett ein dort bis dahin unbekanntes Instrument vor- und einzuführen, einen Sektquirl. Dieser Hang zu einem gewissen Prunk und Pomp verbaute ihm tatsächlich für eine ganze Zeit eine positive Bewertung seiner Tätigkeit im Bonner Palais Schaumburg.
Aber dies war eben nur eine Seite des Menschen und Politikers Walter Scheel. Es ist wahr: Vieles bei ihm, auch in seiner Karriere bei den Freidemokraten, erschien fast spielerisch, schien der scheinbaren Leichtigkeit seines Naturells zu entspringen. Übersehen wurde dabei freilich häufig, dass dies gepaart war mit Härte und der eisernen Entschlossenheit, einmal angestrebte Ziele konsequent anzusteuern, wenn nötig ohne Rücksicht auf menschliche oder parteipolitische Verluste.
Als der unlängst verstorbene Hans-Dietrich Genscher, Nachfolger Scheels im FDP-Vorsitz und als Bundesaussenminister, einmal in einem Interview des „Deutschlandfunks“ mit der Moderatoren-Bemerkung konfrontiert wurde, die „Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr“ habe doch letztlich zur deutschen Einheit geführt, sagte er: „Ich würde auf jeden Fall Walter Scheel mit erwähnen.“
Wahlmarathon um Gustav Heinemann
Scheels grosse, ja entscheidende Jahre waren die 60er und 70er. 1966 – als Folge der damaligen Wirtschaftskrise – war in Bonn das bis dahin fast schon traditionelle Regierungsbündnis aus CDU/CSU und FDP zerbrochen. Union und SPD hatten nach schwerem innerem Ringen eine Grosse Koalition gebildet, und die Freien Demokraten befanden sich mit einem Male in einer nahezu hoffnungslosen oppositionellen Parlamentsminderheit.
Aber es waren halt auch die Jahre der Studentenproteste, und es herrschte Aufbruchsstimmung im Lande. Walter Scheel hatte liberale Reformer um sich geschart, linksliberale. Der Journalist Karl-Hermann Flach, bis dahin Chefredakteur der „Frankfurter Rundschau“ zählte dazu, desgleichen der Hochschulprofessor Werner Maihofer (später, während der „Baader/Meinhof-Krise“, allerdings vom Glück wenig begünstigter Innenminister) sowie der nachmalige Präsident der renommierten London School of Economics and Political Sciences, Ralf Dahrendorf, und die streitbare Hildegard Hamm-Brücher.
Sie und andere schrieben seinerzeit die sogenannten „Freiburger Thesen“ zur Gesellschaftspolitik, in deren Gefolge sich die Partei tatsächlich vom bisherigen nationalkonservativen Kurs hin zur freiheitlichen Bürgerrechtspartei wandelte und sich ihr bis dahin völlig unbekannte Wählerschichten erschloss. 1968 boxte in diesem Zusammenhang Walter Scheel den langjährigen FDP-Chef Erich Mende vom Thron. Sein Husarenstreich jedoch folgte erst 1969. Bei der im Frühjahr anstehenden Wahl eines neuen Bundespräsidenten trieb Scheel seine innerlich noch immer gespaltene Partei dazu, in einem dramatischen, neunstündigen Marathon den sozialdemokratischen Kandidaten Gustav Heinemann und nicht den CDU-Mann Gerhard Schröder zu unterstützen.
Der Machtwechsel
Heinemann selbst bezeichnete diese Entscheidung der FDP als „ein Stück Machtwechsel“. In der Tat war der Präsidentschafts-Krimi nur das Vorspiel für jenen Coup, mit dem Walter Scheel – natürlich unterstützt von Genscher und zahlreichen anderen Spitzen-Liberalen – die Partei wieder in die Regierungsverantwortung brachte, sie zugleich jedoch auch an den Rand des Absturzes führte. Bei der Bundestagswahl im Herbst 1969 errang die FDP 5,8 Prozent der Stimmen, während die Unionsparteien nur ganz knapp an der absoluten Mehrheit scheiterten.
Ungeachtet einer nur hauchdünnen Majorität von SPD und FDP vereinbarten Walter Scheel und Willy Brandt praktisch im Handstreich, die künftige Regierung zu wagen. Und zwar erstmals mit den Sozialdemokraten als Führungskraft. Wenn man so will, hat Scheel – als die treibende Kraft bei diesem Gewaltakt – die SPD damit von dem ihr bis dahin anhaftenden Nimbus der ewigen Opposition befreit.
Es ist ganz gewiss nicht die Nostalgie des Zeitzeugen, welche das damalige Geschehen zu den spannendsten Ereignissen der deutschen Nachkriegsgeschichte zählt. Denn in jene Jahre fallen ja schliesslich die mit dem Begriff „Ostpolitik“ versehenen Bemühungen um eine schrittweise Überwindung der Ost/West-Gegensätze, die dann zum Ende des Kalten Krieges führten und in der deutschen Vereinigung ihren Höhepunkt fanden. An der „Ostpolitik“ spalteten sich nicht nur die politischen Kräfte. Durch die gesamte Gesellschaft ging ein Riss. Willy Brandt und die sozialliberale Koalition mussten eine Vertrauensabstimmung (Konstruktives Misstrauensvotum) im Deutschen Bundestag überstehen. Wie man heute weiss, war mit Geld von der Stasi ein CDU-Abgeordneter bestochen worden.
Entschlossener Griff nach der Krone
Wenn Walter Scheel später nach seinem Einfluss auf die deutsche Politik gefragt wurde, antwortete er gern: „Es gibt wohl keinen Draht in dieser Bundesrepublik, an dem ich nicht irgendwie gezupft habe.“ Klar, dass zu diesem Zupfen irgendwann einmal auch der Klingelzug an der Villa Hammerschmidt gehörte – dem Bundespräsidialamt in Bonn.
Die Freundschaft unter den führenden Leuten in der linksliberalen Koalition hatte Risse bekommen. Willy Brandt konnte zwar (wegen des von weiten Teilen der Öffentlichkeit als „unanständig“ empfundenen) Misstrauensvotums 1972 noch einmal einen grandiosen Wahlsieg verbuchen, verfiel danach aber in eine noch heute unerklärliche Lethargie. Zwei Jahre später stürzte er über den von der DDR an seiner Seite im Bundeskanzleramt platzierten Stasi-Spion Günther Guillaume.
Zu dem Zeitpunkt hatte Walter Scheel nicht nur bereits beschlossen, sich um den Posten des Staatsoberhauptes zu bewerben. Er war auch längst schon damit beschäftigt, die Fäden zu ziehen, um neben seinen eigenen Freien Demokraten auch die sozialdemokratischen Partner auf sich zu verpflichten. Das war nicht einfach. Bei der SPD traute man den Liberalen zunehmend weniger über den Weg. Nicht wenige unterstellten dem seinerzeitigen (FDP-)Innenminister Genscher, er habe Brandt wissentlich in das Guillaume-Messer laufen lassen.
Es waren eigentlich nur noch die beiden Fraktionschefs Herbert Wehner (SPD) und Wolfgang Mischnick (FDP), die den Laden noch einigermassen zusammenhielten. Scheel lag in jenen Tagen mit Nierensteinen in der Bonner Uni-Klinik. Als die FDP-Spitzen dort mit dem Appell bei ihm erschienen, er möge doch – um des Fortbestands der Koalition willen – von der Präsidentschafts-Kandidatur zurücktreten, liess er die Mischnicks und Co. kalt abfahren. Genauso hatte er zuvor schon beim Wiesbadener FDP-Parteitag einen Antrag von 55 Delegierten abblitzen lassen.
Am Ende doch noch Lob
Walter Scheel wollte Bundespräsident werden, und auf dieses Ziel arbeitete er hin – zäh, verbissen und mit aller Härte. Brandt warf ihm damals intern „Fahnenflucht“ vor und klagte über die „miese Koofmich-Seele“ seines Stellvertreters im Kabinett, der die persönliche Karriereplanung über die Staats- und Parteiraison stelle. Am 14. Mai 1974 erfüllte sich schliesslich Scheels grosser Traum. Die Bundesversammlung wählte ihn zum vierten Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland.
Wie schon erwähnt, verlief sein Start im neuen Amt ungewohnt holprig. Mehrfach stolperte er über seinen Hang zu übermässiger Repräsentation. Schnöder Schaumwein wurde von der Karte gestrichen und durch richtigen Champagner ersetzt. Die bodenständigen Haushälter des Parlaments liessen ihn beim Wunsch nach einem Schlösschen als Amtssitz auflaufen. Und eine blutige Nase holte er sich zudem mit der Anregung, die wöchentlichen Kabinettsitzungen nicht mehr im Kanzleramt, sondern unter seinem Vorsitz in der Villa Hammerschmidt stattfinden zu lassen.
Doch allmählich fand Scheel auch hier seine Rolle. Mit einer Reihe sehr zum Nachdenken anregender Reden setzte er eigene Akzente. Und so trat immer mehr Lob an die Stelle von Kritik. Der Historiker Arnulf Baring etwa vermerkte: „Er wurde ein Staatsmann.“ Und Alfred Grosser meinte, Scheel habe mit seinem liebenswürdigen Auftreten und seinen zukunftweisenden Reden die „Legende vom bösen Deutschen“ widerlegt. Noch 1979, lange nach seinem Ausscheiden, sagte einer seiner Nachfolger im Aussenamt, der Sozialdemokrat Frank Walter Steinmeier, in seiner Rede zu Walter Scheels 70. Geburtstag: „Willy Brandt konnte dieses Land mit seinem Charisma nur deshalb verzaubern und verändern, weil er in Ihnen einen geradezu kongenialen Partner gefunden hatte.“
Walter Scheel lebte während seiner letzten Jahre in einem Pflegeheim im badischen Bad Krotzingen. Er litt an Demenz.