Fidel Castro polarisiert immer noch. Mag er inzwischen auch krank und müde sein: Seine Anhänger haben sich von ihm das Bild der revolutionären Lichtgestalt bewahrt, des unerschrockenen Kämpfers wider das soziale Unrecht und die Vormachtansprüche der USA. Seine Feinde hingegen sehen in ihm weiterhin den unerbittlichen Tyrannen, einen fanatischen Inquisitor mittelalterlichen Zuschnitts.
Die Wahrheit liegt, wie sie oft, irgendwo dazwischen. El Comandante, der am 13. August 1926 in Birán bei Mayari (Provinz Oriente) geboren wurde, ist ein Mensch voller Widersprüche und Geheimnisse. Er wollte der Wegbereiter einer besseren Welt sein und glaubte, seinem Volk um dieses Zieles willen jedes Opfer abverlangen zu dürfen. Er hat Kuba Anfang 1959 von einer Gewaltherrschaft befreit, aber danach – getrieben von unbändigem Machtwillen und missionarischem Eifer - selbst mit harter diktatorischer Hand regiert.
Extreme berühren sich
Dank ihm und seinen Mitkämpfern erlangte die Karibikinsel wahre Souveränität, war sie nicht länger ein „Luxusbordell“ der Vereinigten Staaten. Der Máximo Líder, der grösstmögliche Führer, war jedoch nicht fähig, in seinem Land eine wahre Demokratie aufzubauen; elementare Dinge wie freie Wahlen, Rede- und Pressefreiheit, Mehrparteiensystem existieren nach wie vor nicht. Persönliche Freiheit bleibt strikt den Bedürfnissen der Revolution untergeordnet.
In Kuba berühren sich die Extreme. Da Castro in seiner Revolution von Anfang an dem Bildungssektor und der Gesundheit Priorität einräumte, nimmt der kleine Staat ungeachtet aller seiner wirtschaftlichen Schwierigkeiten in diesen Bereichen unter den Entwicklungsländern die Spitzenposition ein. Diesen positiven Errungenschaften stehen ein ausgeklügeltes Bespitzelungssystem und ein harter Repressionsapparat gegenüber.
Die Einsamkeit des Machtmenschen
Andersdenkende laufen Gefahr, von der Parteizeitung Granma als Handlanger Washingtons an den Pranger gestellt und ins Gefängnis gesteckt zu werden, weil das Regime sich von ihnen in seinen Herrschaftsansprüchen gefährdet sehen könnte. Menschenrechtsorganisationen schätzen die Zahl der politischen Gefangenen auf über 100. Rund zwei Millionen Kubaner leben im Exil; wie viele bei ihrer Flucht ertranken, kann niemand sagen.
„Der Machtmensch nimmt ein zweifaches Risiko auf sich“, schrieb der kürzlich verstorbene Exil-Kubaner Eliseo Alberto, der seit 1990 in Mexiko lebte und durch seine Autobiografie „Rapport gegen mich selbst. Ein Leben in Kuba“ bekannt wurde, in einem Essay. Castro habe lernen müssen, damit zu leben, „dass ihn am Ende niemand liebt und niemand wirklich kennt. Und dass ihn der Dünkel oder das Misstrauen erstarren lässt, wenn er in den Spiegel blickt.“
Der Mensch Castro ist tatsächlich ein grosser Unbekannter geblieben, und zwar in erster Linie deshalb, weil er selbst das so wollte. Schon als Kind ging der Sohn eines reichen Grossgrundbesitzers und einer herrischen Mutter meist seine eigenen Wege und später, als Revolutionsführer war er erst recht nicht bereit, anderen sein Herz zu öffnen. Castro war ein begnadeter Rhetoriker und Selbstdarsteller.
Der Verführungskraft seiner Worte und seinem Charisma erlagen nicht bloss immer wieder Millionen von Sympathisanten in aller Welt, selbst manche Gegner konnten sich ihnen nicht entziehen. Der amerikanische Vollblutpolitiker Henry Kissinger zeigte sich von Castro genauso beeindruckt wie Papst Johannes Paul II. oder der chilenische Diktator Augusto Pinochet. Letztlich blieb der Comandante aber selbst seinen engsten Weggefährten ein Fremder, ein Caudillo, der um der Macht willen ohne Zögern auch Freundschaften aufgab.
Der Mythos der Unbesiegbarkeit
Castros Führungsanspruch und Sendungsbewusstsein waren dermassen stark, dass er selbst nach seiner komplizierten Operation Mitte 2006 die Amtsgeschäfte zunächst nur vorläufig abgab. Erst im Februar 2008 wählte das Parlament seinen nur wenige Jahre jüngeren Bruder Raúl zum Staatspräsidenten.
Dabei hatte Fidel längst schon sämtliche Rekorde gebrochen. 47 Jahre lenkte er die Geschicke seines Landes, länger als jedes andere Staatsoberhaupt irgendwo auf der Welt. Er erlebte zehn US-Präsidenten, die alle vergeblich versucht haben, ihn zu entmachten oder zu ermorden. Er trotzte dem 1960 verhängten Handelsembargo, mit dem Washington ihn in die Knie zwingen wollte, und er überstand im April 1961 die Invasion von 1300 Exilkubanern, die mit Unterstützung der US-Regierung in der Schweinebucht an der Südküste Kubas landeten. Ein Jahr später kam es dann zur Kuba-Krise. US-Präsident John F. Kennedy verhängte eine Seeblockade und drohte mit einem Atomschlag gegen die Karibikinsel, weil die Sowjetunion dort Abschussrampen für Mittelstreckenraketen eingerichtet hatten. Nach 13 Tagen gab Moskau nach und entfernte die Anlagen.
Mit ihrer über weite Strecken irrationalen Kuba-Politik erreichten die USA das Gegenteil von dem, was sie wollten. Mit jedem gescheiterten Attentat festigten sie die Legende vom mutigen David, der sich dem anmassenden Goliath nicht beugt. Washingtons blinder Feindschaft gegen Havanna verdankte es der kubanische Staatschef, gegen den es insgesamt 600 Mordanschläge gegeben haben soll, zu einem schönen Teil, dass er zu einer Figur der Weltpolitik wurde. „Es sind die Regierungen der Vereinigten Staaten, die mich zu einem Mythos gemacht haben“, sagte Castro im Jahr 2000 in einem Interview. „Wenn ich es zu Lebzeiten geworden bin, so auch dank ihrer unzähligen gescheiterten Versuche, meinem Leben ein Ende zu setzen.“
„Der Mann mit dem anhaltend guten Stern“
Castro hätte schon früh sterben können, wie viele andere kubanische Revolutionäre im Laufe der Geschichte. Es bedurfte einer grossen Portion Glück, dass er bei seinem ersten, kläglich gescheiterten Umsturzversuch, dem waghalsigen Sturm auf die Moncada-Kaserne im Juli 1953 in Santiago de Cuba, nicht getötet wurde. Aber auch bei der zweiten Attacke gegen das Regime des Diktators Fulgencia Batista im Dezember 1956 schien Fidel, der Ungläubige, einen Schutzengel an seiner Seite zu haben, überlebten von den 82 Kämpfern doch nur 12; neben Fidel Castro und seinem Bruder Raúl auch der argentinische Revolutionär Ernesto „Che“ Guevara.
Der chilenischen Romancier Jorge Edwards, der 1970 unter Salvador Allende als Botschafter nach Havanna kam, sieht darin einen Beweis, dass Castro „das ganze politische Leben lang der Mann mit anhaltendem guten Stern war“. „Seine Revolution mochte dahindarben, sich rückläufig entwickeln, von ihren einstigen Weggefährten aufgegeben worden sein, doch er hielt Stellung“, schrieb der Autor des Buches „Persona non grata“ in einem „Spiegel“-Aufsatz. „Ein einzigartiger Fall in der jüngeren Geschichte.“
War Castro auch als Privatmann vom Glück begünstigt? Der Revolutionsführer hat aus seinem Leben abseits der Politbühnen stets ein wohl gehütetes Geheimnis gemacht. Nicht verborgen blieb, dass er auf Frauen eine starke Faszination ausübte und viele Affären hatte. Er war zweimal verheiratet und hat fünf Söhne und zwei Töchter; von seinen Kindern zeigt keines ein besonderes Interesse an der Politik. Die wichtigste Frau in seinem Leben dürfte seine 1980 verstorbene Revolutionsgefährtin Celia Sánchez gewesen sein. Der Arzttochter aus Manzanillo soll er wie nur wenigen anderen vertraut haben, ehelichen wollte er sie allerdings nie.
Das schwere Erbe
Auch wenn er den Gedanken, eines Tages nicht mehr der Bannerträger der Revolution zu sein, immer wieder zu verdrängen versuchte, traf Castro doch frühzeitig Vorkehrungen, um sein Vermächtnis zu retten. Dem Führungskollektiv, das er 2006 vor seiner Operation ernannte, gehören lauter linientreue Funktionäre an, die hoch und heilig versprochen haben, das Land im Geist der Revolution weiter zu regieren.
Wie lange noch? Das Modell des „Fidelismo sin Fidel“ ist zum Scheitern verurteilt. Zwar wird in Kuba nicht von heute auf morgen alles anders werden. Aber wenn die Castro-Brüder Geschichte sind, wird sich der Wandel kaum mehr aufhalten lassen. Die Fassade der Revolution hat schon zu bröckeln begonnen, als der Máximo Líder noch an der Macht war. Allen seinen Appellen und Disziplinierungsmassnahmen zum Trotz nahmen Korruption, Klientelwesen, Verwaltungsmängel, Schattenwirtschaft und schlechte Arbeitsmoral ein ständig grösseres Ausmass an. Viele der elf Millionen Kubaner waren unzufrieden mit ihrer Lebenssituation, lehnten sich jedoch nicht offen auf. Ungeachtet all seiner Fehler konnte Castro bei einem Grossteil seiner Landsleute auf einen starken Rückhalt zählen. Er war für sie zu einer Vaterfigur geworden, den sie zwar nicht unbedingt liebten, aber respektierten.
Seine Nachfolger können nicht auf dieselbe Achtung und Unterstützung bauen: Charisma vererbt sich nicht. Sie werden verstärkt den Druck spüren, mehr Freiheiten zuzulassen. Die Mehrheit der Kubaner strebt keinen radikalen Bruch mit der Vergangenheit an, aber etwas mehr Meinungsfreiheit und Konsum und etwas weniger Bevormundung und Bürokratie. Es gab schon unter Fidel Castro hin und wieder schüchterne Ansätze zu einer wirtschaftlichen und politischen Liberalisierung. El Comandante brachte aber nicht den Mut und die Weitsicht auf, diesen Prozess konsequent weiterzuführen. Ein evolutionärer, friedlicher Übergang zu einer wahren Demokratie und einer normalen Marktwirtschaft in einem sozial orientierten Staat schien in seinen Augen ein Verrat an seiner Ideologie und an seinen Idealen zu sein. Mit seiner Unnachgiebigkeit hoffte er, die Revolution retten zu können. Dass der Fidelismo ohne Fidel überleben wird, glauben aber wohl nicht einmal seine glühendsten Anhänger.
Am Samstag folgt eine Gratulation von René Zeyer, der als NZZ-Korrespondet zehn Jahre lang aus Havanna berichtete.