Er arbeitet immer noch, gelegentlich, der englische Regisseur russischer Abstammung, Peter Brook, ein kleiner rundlicher Mann, der aussehen kann wie ein durchtriebener Clown, wie eine Figur aus einem Beckett-Stück – und Beckett-Aufführungen gehören in die lange Reihe aussergewöhnlicher Inszenierungen, die wir ihm verdanken. Er arbeitet immer noch, denkt über Shakespeare nach, für ihn das Mass aller theatralischen Dinge, inszeniert gelegentlich im Pariser Theater Bouffes du Nord, der Spielstätte, die von 1974 bis 2008 unter seiner Leitung zu einem europaweit beachteten Experimentier-Zentrum wurde. „Centre International de Recherches Théâtrales“ heisst Brooks Theater mit korrektem Namen und tatsächlich hat er in den Kulissen der Bouffes du Nord, die 100 Jahre alt waren, als er sie übernahm (baufällig, seit 20 Jahren nicht mehr bespielt), versucht, der Schauspielkunst, dem Theater neue Wege zu öffnen.
Brook begann schon in seiner Studentenzeit zu inszenieren, machte sich früh in Grossbritannien einen Namen als Shakespeare-Regisseur. Er war nur gerade 30 Jahre alt, als ihm seine Inszenierung von „Titus Andronicus“, mit den Stars Laurence Olivier und Vivien Leigh in den Hauptrollen, zu internationalem Ruhm verhalf.
Ein besonderer 68er
Passend zu allem, was das Jahr 1968 Europa zu bieten hat, erscheint damals Brooks Buch „Der leere Raum“, sicher eines der meistgelesensten und –kommentierten Schriften zum modernen Theater. Theater ist vergänglich, ist flüchtig, „in den Wind geschrieben“, wie Brook selber nicht müde wird zu betonen. Und so wird man, beim Wiederlesen, einiges als der Zeit verhaftet, als „historisch“, als überholt beurteilen. Doch die Substanz, die klugen, frechen, leidenschaftlichen Plädoyers für ein modernes, jeglicher Konvention entratendem Theater, die bleibt erhalten – und liest sich so frisch wie ehemals.
Das Buch beginnt mit Ueberlegungen zum titelgebenden Bild: „Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen.“ Das tönt heute unspektakulär, fast selbstverständlich, konnte aber damals durchaus als Provokation empfunden werden. Denn Theater, das hiess um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts immer noch: Guckkasten, Vorhang, möbliertes Bühnenbild, Kostüm, Pathos. Brook selber beeilt sich, diese traditionelle Erscheinungsform der Schauspielbühne zu erwähnen und zu respektieren. Aber ein paar Abschnitte weiter definiert er sie als „tödliches Theater“.
Man kann vielleicht heute, mit 50jährigem Abstand, die Cleverness des listenreichen Autors besser ermessen, die Schlauheit, mit der er seine Thesen platziert und immer wieder relativiert. Brook will kein Theatertheoretiker sein – er warnt vor ihnen! Er erzählt, sinniert, behauptet, reflektiert, gewährt der Theater-Praxis viel Raum und vor allem: er meidet nicht die Widersprüche, er lässt sie gelten. Er will das Theater neu erfinden und revolutionieren, aber auf sanfte Art. Agil und sensibel lässt er sich von allem, was es an neuen Theaterformen gibt, inspirieren, vom „armen“ oder, wie er sagt, „heiligen“ Theater des Polen Grotowski so gut wie vom „grausamen“ Theater des Franzosen Artaud, ein bisschen auch von den Verfremdungstheorien Brechts; aber er bleibt flexibel, möchte im Idealfall mit jeder Inszenierung bei Null anfangen, auf nackter Bühne, im leeren Raum das Wort, das Spiel entstehen lassen.
Massstäbe
Mit seinen Regiearbeiten hat Brook in allen möglichen Bereichen und Belangen Massstäbe gesetzt. Seine ein Leben lang in unregelmässigen Abständen produzierten Shakespeare-Inszenierungen sind legendär. Vibrierendes, extatisches Theater zeigte er in „Marat/Sade“ von Peter Weiss, Becketts „Glückliche Tage“ hat er, wie kein anderer, auf ein Minimum an Gestik, an Theatralik reduziert und verdichtet. Wer seine intime, lyrische Interpretation von Bizets „Carmen“ im Sand der Bouffes du Nord erlebt hat, wird so einen Abend nicht vergessen.
Dem Derben ist Brook ebenso zugetan wie dem Exotischen. Im „Ubu“ von Alfred Jarry spielt er genussvoll das Lärmige, Zerstörerische der Figuren und des Stücks aus. Das Theater lebt in der Gegenwart, eigentlich nur im Moment. Den gilt es zu packen, auszukosten. Tod und Zerstörung gehören zur theatralen Kunstform, müssen akzeptiert werden.
Während 1975 in den Bouffes „Timon von Athen“ geprobt wird, haben sechs Schauspieler in den Kulissen eine Hütte gebaut und beginnen sich ins Stück „Les Iks“ einzuüben, der ethnologisch aufgearbeiteten Geschichte eines afrikanischen Stamms, die als nächstes auf die Bühne kommen wird. Brook beschäftigt inzwischen ein internationales Ensemble mit Schauspielern aus Afrika, Asien, Europa. Zu den Voraussetzungen, unter denen sein „Centre International“ arbeitet, gehören lange Probezeiten und Expeditionen in die Länder, mit denen sich die gespielten Texte beschäftigen.
Mahabharata
Das aufwändigste, verrückteste Projekt, das mit dem Namen Peter Brook verbunden ist, heisst „Mahabharata“. So nennt sich das Hindu-Epos, eine Art indischer Bibel, entstanden zwischen 400 vor und 400 nach Christus und bestehend aus rund 100 000 Doppelversen. Brooks Mitarbeiter und Dramaturg Jean-Claude Carrière hat aus dem Material ein 400seitiges Stück destilliert, episches Theater, Geschichten, Legenden, Mythen, die ein Mann einem Kind erzählt und die sich, in Bildern und Szenen, aneinanderreihen, ineinander verschlingen. 1985 wurde das Monsterspiel in einem Steinbruch in der Nähe von Avignon uraugeführt, von sieben Uhr Abends bis sechs Uhr in der Früh (man konnte sich auch für eine Aufführung in drei Portionen entscheiden), später war es auch in Zürich, am Theaterspektakel, zu Gast. Das Durchhalten eine lange Nacht lang, fiel einem nicht schwer. Dem leeren Raum, den Steinen von Avignon entrangen sich Wörter und Klänge, entstiegen Figuren und Geschichten in immer neuen Kombinationen und Spannungen. Der vergängliche Theatermoment dehnte sich gewaltig aus – das Publikum war verzaubert.