In seinem Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ spricht Milan Kundera vom Kitsch als vom „Hervorrufen der zweiten Träne:“ „Der Kitsch ruft zwei nebeneinander fliessende Tränen hervor. Die erste Träne besagt: Wie schön sind doch auf dem Rasen rennende Kinder! Die zweite Träne besagt: Wie schön ist es doch, gemeinsam mit der Menschheit beim Anblick von auf dem Rasen rennenden Kindern gerührt zu sein! Erst diese zweite Träne macht den Kitsch zum Kitsch.“ In diesem Sinn gibt es auch den philosophischen Kitsch. Er produziert primär „zweite Tränen“, das heisst, ihm geht es neben dem Inhalt des Denkens vor allem um Habitus und Gestus des Denkens. Nun ist das unter Philosophen alles andere als neu. Habitus und Gestus des Denkens, so könnte man sagen, machen ja gerade den unverwechselbaren Stil eines Philosophen aus. Ob er in Kitsch hinüberkippt, ist immer eine Frage des delikaten Ausgleichs zwischen „erster“ und „zweiter Träne“. Man könnte geradezu eine Geschichte philosophischer Stile anhand dieses Leitfadens schreiben. Mir geht es hier um etwas Bescheideneres, nämlich um ein paar Merkmale des Genres des kulturkritischen Rührstücks: des Habitus’ und Gestus’ der „zweiten Träne“.
Blendsätze
Als deren Primärmerkmal fallen rhetorische Blendsätze auf, wie „Die Freiheit wird eine Episode gewesen sein“; oder „Das digitalisierte, vernetzte Subjekt ist ein Panoptikum seiner selbst“; oder „Der Neoliberalismus ist der Kapitalismus des Gefällt-mir“. Daran wäre per se nichts auszusetzen, dienten die Sätze quasi als Suchscheinwerfer einer nachfolgenden genaueren und konkreteren Analyse; zumal es ja um nichts weniger geht als um die Zukunft der Freiheit. Im Übrigen werfe den ersten Stein, wer sich nicht gelegentlich an seinen eigenen Sätzen delektiert. Aber die Blendsätze haben noch eine andere Funktion. Sie stecken thematische Claims ab. Sie bedeuten uns: Achtung, ich will zitiert werden! Es geht diesem Behauptungspathos um Wortführ-Hegemonie. Um philosophisches Branding. Deshalb erscheint es wichtig, möglichst viele Themenfelder zu usurpieren: Neoliberalismus, Biopolitik, Big Data, Social Media, Tod des Subjekts, Überwachung, Transparenz, Gamifizierung – Hans Rafflust affichiert ziemlich jeden aktuellen Eye-Catcher mikrokapitelweise. Man hat den Eindruck, das Meiste schon da und dort gelesen oder gehört zu haben, auch bei Han selber, aber in diesem Genre spielt das keine Rolle.
Konserven der Kulturkritik
Denn hier – und das ist ein zweites Merkmal – geht es ums Ganze. Deshalb müssen möglichst viele Konservenbüchsen der modernen Kulturkritik geöffnet werden. Rousseau, Marx, Nietzsche, Freud, Benjamin, Adorno, Agamben, Foucault, Deleuze, Rosset. Natürlich gehört das Zitieren zum Pensum des zünftigen Denkers. Die Balance ist gestört, wenn es den Gestus der „zweiten Träne“ zu sehr hervortreten lässt. Man positioniert sich selber in einer Parade philosophischer Respektträger, wobei man natürlich das Licht des eigenen Denkens nicht unter den Scheffel stellt, sondern es als Weiterentwicklung eines prominenten Vorgängers präsentiert. So ist unübersehbar, dass „Psychopolitik“ schon im Titel eine Fortführung von Foucaults „Biopolitik“ suggeriert; und – ebenfalls wichtig – sich befleissigt, das Ungenügen Foucaults angesichts heutiger Verhältnisse nachzuweisen.
Emotionale Unterfütterung
Kitsch benötigt – drittes Merkmal - immer emotionale Unterfütterung. Kulturkritik speist sich meist von einem diffusen Unbehagen. Der Reiz von Hans Büchlein dürfte gerade darin liegen, dass es einer allgemeinen Gefühlslage in der Digitalkultur die angemessene Begrifflichkeit zu verleihen sucht. Im Sinne von Kundera: Wie schön ist es, angesichts der digitalen Machtverhältnisse gemeinsam von den richtigen Worten gerührt zu sein! Die Produktion „zweiter Tränen“ in mundfertigen Sentenzen bedient das Gefühl, „es endlich zu verstehen“. Das Gefühl, wohlgemerkt. Denn im Grunde handelt es sich um Aufhübschung eines analytischen Defizits. Kitsch schafft Atmosphäre, er liefert nicht Argumente. Betrachten wir das Beispiel Big Data. Der Kolumnist David Brooks hat den Ausdruck „Dataismus“ für eine vorherrschende Atmosphäre geprägt. Mit ihm stösst man durchaus direkt in das Problemnest heutiger postindustrieller Lebensformen. Aber mehr erreicht man nicht. Auch dann nicht, wenn man, wie Han, sich darin gefällt, einen Kalauer zu klopfen: „Der Dataismus erweist sich als digitaler Dadaismus (..) Er verzichtet ganz auf Sinn. Daten und Zahlen sind additiv, nicht narrativ. Sinn beruht dagegen auf der Narration. Daten füllen die Sinnleere.“ Das ist – typisch für Kitsch - richtig und falsch zugleich. Richtig: Daten „erzählen“ nicht. Allerdings ist das unter Datenanalytikern eine Banalität. Falsch: Daten „füllen“ keine Sinnleere, sie dienen dazu, eine sinnvolle Hypothese zu bestätigen oder zu widerlegen, nicht mehr und nicht weniger. Das ist natürlich viel zu nüchtern, da muss Denk-Rührung her: „Barbarei der Daten.“
Big Evil – Big Exit
Ein viertes Merkmal lässt sich an der Dramaturgie des Kulturkritikkitsches ablesen. Sie folgt dem Schema: Hier ist ein grosses Übel – Big Evil –, und dort ist ein grosser Ausstieg – Big Exit. Das grosse Übel heisst bei Han: Neoliberales Regime, alias Selbstenthüllung. „Kommunikation fällt mit Kontrolle zusammen.“ Im digitalen Panoptikum der mobilen Gadgets überwachen und beuten wir uns selber aus. Beim neoliberalen Regime kann man nicht mehr genau sagen, wer es eigentlich ausübt - Techno-Unternehmen, politische Behörden, Geheimdienste, wir selber. Und gerade dieser nichtgreifbare Charakter ist vorteilhaft, denn dadurch lässt sich auch eine eingehendere Analyse umgehen und alles mit einem Grundaroma versetzen. Bei Han ist es jenes der Ausweglosigkeit. Die Vereinnahmung der Psyche durch die Psychopolitik der neuen Medien ist total. Das ganze Büchlein zielt darauf ab, unser Denken mit der Litanei dieser Totalvereinnahmung zu übertäuben. Dann kann uns nämlich der Erlöser Han am Schluss etwas über den Big Exit vorraunen. Er besteht darin, dass wir uns ent-psychologisieren, „ent-leeren“, damit wir frei werden „für eine Lebensform, die noch keinen Namen hat.“
Ironielosigkeit des Idioten
Das führt zu einem fünften Merkmal: Kitsch ist unironisch. Weil Ironie eine kritische Selbstdistanz voraussetzt. Die „zweite Träne“ ist dagegen ein Akt der Selbstgratulation. Han liebäugelt im Schlusskapitel mit der Existenz des Idioten, als Störefried des neoliberalen Regimes. Quasi eine Neudefinition des Menschen in der Conditio techno-humana. Das ist durchaus eine überraschende, ja, erregende Idee. Aber auch über ihr vergiesst Han zuviele „zweite Tränen“. Möglicherweise schwebt ihm ein neues „Lob der Torheit“ à la Erasmus vor. Jedenfalls ist der Idiot ein Denker, der ein eigenes Idiom kreiert. Idoten sind die eigentlichen Philosophen. Sie kommunizieren nicht. Sie hüllen sich in Schweigen. In „wissendes“ Schweigen, versteht sich. Es darf gemutmasst werden, dass Han sein Sentenzenbouquet als ein solches Idiom versteht und die Selbstinszenierung als Idioten betreibt. Das ist eine geschickte Marketing-Taktik. Sie sichert ihm einen Brandnamen und dient der gleichzeitigen Selbstbeglückung und Selbstimmunisierung. Denn dem Idioten ist ja eigentlich nicht beizukommen. Er „bewohnt das unvordenkliche Draussen, das sich jeder Kommunikation und Vernetzung entzieht.“ Im Lotussitz lächelnder Selbstverliebtheit erwidert er seinen Kritikern: „So hat die Intelligenz keinen Zugang zum ganz Anderen. Sie bewohnt das Horizontale, während der Idiot das Vertikale berührt, indem er das vorherrschende System, das heisst die Intelligenz verlässt.“ Womit sich der Idiot gleich noch elegant aus jeglicher intellektuellen Haftung davonstiehlt. Er ist kein Subjekt, das sich der Debatte stellt. „Eher eine Blumenexistenz: einfache Öffnung zum Licht.“ Mit einem solchen Schlusssatz sichert sich der Idiot den starken Abgang durch die Blume. Wobei das nicht sein eigenes Idiom ist, er borgt es von einem anderen Apologeten der Torheit, vom Modernitätsverweigerer und Edel-Elegiker Botho Strauss.
Eine Empfehlung aus der Ferne
Ein letztes Merkmal: Kulturkritikkitsch ist Teil der Missstände, die er benennt. Han spricht zum Beispiel vom „Kapitalismus der Emotion“, ja, von der „Diktatur der Emotion“; uneingedenk, dass sein ganzer Philosophiestil nichts anderes ist als das Abholen des Lesers auf der Ebene emotional aufgeladener Assoziationen. Und betreibt nicht auch „neoliberale“ Selbstausbeutung, wer in schöner Regelmässigkeit seine Vorlesungsnotizen rezykliert auf den Buchmarkt wirft, um der Charts willen? Denn der Markt der Aufmerksamkeit ist erbarmungslos geworden, seit pop-philosophische Branchenleader wie Sloterdjik, Zizek, Precht oder de Botton uns mit Begriffs-Flatulenz, berserkerhaften (La)Cancantänzen, Thesen-Gassenhauern bzw. Lifestyle-Atheismus zu ködern suchen.
Ob dieses neuerdings erhobenen Kitschtons in der Philosophie befällt einen in stets kürzer werdenden Abständen der Wunsch nach einem Ausfeger, wie ihn David Hume 1739 empfohlen hatte: „Nehmen wir irgendeinen Band zur Hand, etwa über Gotteslehre oder Schulmetaphysik, so laßt uns fragen: Enthält er irgendeine abstrakte Erörterung über Größe oder Zahl (wie in der Mathematik)? Nein. Enthält es irgendeine auf Erfahrung beruhende Erörterung über Tatsachen und Existenz (wie in den empirischen Wissenschaften)? Nein. Nun, so werft ihn ins Feuer, denn er kann nichts als Sophisterei und Blendwerk enthalten.“ Das war der Beginn einer Moderne, die heute in den „zweiten Tränen“ der Postmoderne zu ersticken droht.