Nicht nur, dass die Oper des von den Nationalsozialisten verfemten Paul Hindemith 1938 im damaligen Stadttheater Zürich uraufgeführt worden ist. Am Schicksal des Renaissancemalers Matthias Grünewald (um 1480 - um1528) aufgerollt, bildet die eigentliche Sentenz des Werkes die Stellung des Künstlers zur Welt.
Wege und Irrwege
Das steht auch beziehungsreich zum Motto der diesjährigen Zürcher Festspiele: „Wandern - Wege und Irrwege“. Gewandert, das heisst weggegangen wird demnächst viel im Zürcher Opernhaus. Mit dem seit 21 Jahren hier so ungemein erfolgreich wirkenden Intendanten Alexander Pereira zieht auch Heinz Spoerli, seit 16 Jahren Ballettdirektor des Hauses, weiter, ebenso der Chefdirigent der Zürcher Oper, Daniele Gatti. Pereira wird Intendant der Salzburger Festspiele, Spoerli wird als freier Choreograph tätig sein. Daniele Gatti, seit 2008 auch Musikdirektor des Orchestre National de France, wird diese Zürcher Saison noch mit der integralen Aufführung der vier Brahms-Sinfonien krönen. Soviel zum aktuellen Wandel in Zürich.
Leben in der Krise
Damals, als Matthias von Aschaffenburg, genannt auch Mathis Gothart-Nithart oder Matthias Grünewald, gerade in Halle an der Saale und Mainz gewirkt hatte, wurden die deutschen Gebiete nicht nur durch die religiösen Auseinandersetzungen zwischen Rom und Martin Luther aufgeschreckt, sondern auch durch den Grossen Bauernkrieg (1524/26) aufgerüttelt. Damals war Grünewald Hofmaler des mächtigen Kardinals und Erzbischofs von Mainz, Albrecht von Brandenburg und arbeitete - in Hindemith's Fassung - am sogenannten Isenheimer Altar (heute in Colmar).
Matthias Grünewald sympathisierte offenbar mit den durch die Feudalordnung grausam unterdrückten, in bitterster Armut und sogar Leibeigenschaft für die Obrigkeit schuftenden Bauern. Und hier setzte Paul Hindemith, der auch das zum Teil wortgewaltige Libretto zur Oper selbst verfasst hat, an: Wie verhält sich ein Mann in angesehener künstlerischer Stellung, der sich bis dato nur seinem Werk widmen wollte, angesichts des Brandes um ihn her?
Dissonant, nicht atonal
Hindemith befand sich ja selber inmitten eines Weltenbrandes, der ihn schliesslich, damals ein bereits hoch angesehener Komponist und Musiktheoretiker, als „entarteter Künstler“ in die Emigration zwang. Die Frage nach der Stellung des Künstlers im elfenbeinernen Turm war und ist öfters Gegenstand literarischer Betrachtungen. Im Falle von „Mathis der Maler“ jedoch tritt die musikalische Deutung hinzu und hebt die Auseinandersetzung auf ein unmittelbar berührendes Niveau, das alle Sinne anspricht – zeitgeistig ausgedrückt: das „einfährt“.
Und was für eine Musik! Nicht atonal, jedoch von heftigsten Reibungen und Dissonanzen versetzt, aber auch alte Musikformen und melodiöse volkshafte Lieder, sogar den gregorianischen Choral aufgreifend, atmet die ganze Partitur leidenschaftliche Parteinahme für den suchenden, von Zweifeln gemarterten Menschen. Eine solche Musik verlangt ebensolchen Einsatz im gross besetzten Orchester, das in entsprechend geänderter Orchesteraufstellung in Zürich sein Bestes gibt. Unter Daniele Gattis leidenschaftlicher Stabführung wurde klar herausgearbeitet, dass der eigentliche Ausdruck der Charaktere und Szenen in den Orchesterstimmen liegt.
Die Frage nach dem Gewissen
Was nicht heissen soll, dass die Sänger und Sängerinnen nicht auch grosse Soloszenen zu bewältigen hätten, welche ausserordentlich schwierigen Chorszenen gegenüber stehen (Choreinstudierung Jürg Hämmerli). Die Solistenstimmen sind ausnahmslos überzeugend, im Falle von Emily Magee als Ursula und Reinaldo Macias als Albrecht von Brandenburg sogar begeisternd besetzt.
Aber, natürlich: Alles und alle werden sowohl sängerisch als auch darstellerisch überstrahlt von einem, der hier sein Rollendebüt gibt: dem Bariton Thomas Hampson, inzwischen ein Weltstar und trotzdem immer wieder der Zürcher Oper treu. Hampsons nachdenklicher, ja resignierter Mathis, der in hoffnungsvollen oder empörten Passagen sein grosses Stimmvolumen aufblühen lässt: Man muss es gehört und gesehen haben, um einen der besten Charakterdarsteller der heutigen Opernbühne voll würdigen zu können.
Im kargen, strengen Bühnenbild des Burgtheater-Chefs Matthias Hartmann werden die Figuren zum Teil scherenschnitthaft herausgearbeitet, kreisen räumlich entweder um das Altarbild oder um Szenen der Macht oder der Visionen (Versuchung des Antonius), die Menschen klein und an den Rand gedrängt. Und spätestens dann, wenn Mathis im Antonius-Bild der Versucherin Üppigkeit bitter entgegnet: „Malen und zugleich / Die Münzen zählen; wer das könnte, wäre reich / Und tot der Arbeit“ sind wir in der Jetztzeit angekommen, in der Bereicherung um jeden Preis etwas verdrängt, was in unserem modernen Vokabular kaum mehr vorkommt: Gewissen.