Der 60-jährige Ugo Rondinone erfreut das Publikum weltweit mit seinen heiter-schönen und zugleich hintergründig-tiefsinnigen Werken. Nun schafft der in New York lebende Innerschweizer im Kunstmuseum Luzern unter dem Titel «Cry Me a River» Erlebnisräume von grosser emotionaler Bandbreite.
«Cry Me a River»: Das Lied mit seinem gefühlstriefenden Text von Arthur Hamilton ging seit 1953 um die Welt, gesungen von Stars von Ella Fitzgerald bis Justin Timberlake. Das Lied handelt von Liebe, Abschied, Schmerz, Trauer – und einem Funken Hoffnung. «Cry Me a River»: In Regenbogenfarben prangt der Songtitel an der grauen Fassade des KKL als Titel von Ugo Rondinones Ausstellung im Kunstmuseum Luzern.
Ugo Rondinone, 1964 in Brunnen als Sohn eines aus Matera in Süditalien stammenden Gastarbeiterpaares geboren, jetzt in New York lebend, ist heute der international wohl erfolgreichste Schweizer Künstler mit Auftritten rund um den Globus. Der Star auch des Kunsthandels kehrt nun zurück in die engere Heimat. Hier, im Kunstmuseum Luzern, beteiligte er sich um 1990 an Weihnachtausstellungen, hier wurde ihm der Ausstellungspreis der Kunstgesellschaft Luzern zugesprochen, und in der Folge zeigte er 1991 hier seine erste Museumsausstellung. Mehrere seiner frühen und auch späteren Werke gingen in die Sammlung des Luzerner Kunstmuseums ein.
Und nun «Cry Me a River»: Die Ausstellung ist spektakulär und gleichzeitig sparsam – spektakulär, weil sie teils mit immensen Formaten und tonnenschweren Steinskulpturen aufwartet, sparsam, weil Rondinone sich auf Weniges zu beschränken weiss. Mit diesem Wenigen erzeugt er in jedem einzelnen der insgesamt zehn Räume in schöner Abwechslung eine spezifische Atmosphäre. Gleichzeitig setzt er auf Mehrdeutigkeiten und überlässt den Besucherinnen und Besuchern viel Interpretationsspielraum.
Kunst kommt immer von Kunst
Schon der erste grosse Raum zeigt diese Mehrdeutigkeiten: Grellgelbe Blitze schlagen ein wie eine donnernde Gewalt aus dem Jenseits. Von nahe besehen erkennen wir die «glorious lights» als in Metall gegossene, sorgfältig zu Blitzen zusammengefügte und dick mit gelber Farbe überzogene Äste. Beides ist Natur – die enormen Spannungen des Blitzschlages und die organisch gewachsenen, sanft erscheinenden, wenn auch knorrigen Äste.
Die Blitz-Skulpturen entstanden im Vorjahr, werden hier aber kombiniert mit der ältesten Arbeit der Luzerner Ausstellung: In einer Ecke des Saales sitzt ein junger Mann in salopper Kleidung auf dem Boden. Er macht einen niedergeschlagenen oder gar traurigen Eindruck. Die Skulptur von 1995 mit dem Titel «Cry Me a River» zeigt Ugo Rondinone selbst und sie lässt an Duane Hansons superrealistische Figuren denken, wie denn die Blitze an Walter De Marias «The Lightning Field» in New Mexico erinnern. Beides zeigt, dass Rondinone sich mit seinen Werken bewusst in die Entwicklung der Kunst einschreibt. Kunst kommt immer von Kunst und erschliesst sich zuerst im Kunstkontext – und öffnet, in neuer Konstellation und neuer Zeit, zugleich neue Räume.
Das gilt auch von zwei weiteren Sälen der Luzerner Ausstellung, die beide von Witterungserscheinungen handeln: «rain» (2004) und «thank you silence» (2005). In «rain» fügt der Künstler Metallketten schräg so in den Raum, dass man einerseits an eine Spannung und Kraft signalisierende Minimal-Art-Skulptur denken mag, andererseits aber auch an ein Bild niederprasselnden Regens. Diese Deutung wird ausser vom Werktitel auch gestützt vom wolkenähnlichen Gebilde über der Glasdecke des Raumes.
Minimalistisches begegnet uns weiter in «thank you silence»: Unter der Decke ist eine Kiste in schlichter Quaderform, als sei’s von Donald Judd, angebracht, aus der in sanftem Schweben kleine Papierstücke wie Schneeflocken niederrieseln. Auch hier erzeugt Rondinone, wie auch in «rain» und «glorious lights», mit einfachen Mitteln unmittelbar einsichtige Bilder komplexer Witterungsvorgänge. Er gibt seinen vor zwanzig Jahren umgesetzten künstlerischen Ideen in neuem Ausstellungs- und Zeitkontext eine neue Gegenwart – und bietet seinem Publikum heute Erfahrungsräume an, in denen sich die Besucherinnen und Besucher wiederkennen können.
Die Landschaft der Jugend
Zugleich setzt Ugo Rondinone mit seiner Ausstellung im Kunstmuseum Luzern sehr persönliche, auf ihre Art autobiographische Akzente. Das gilt nicht nur von seinem Selbstporträt als auf dem Boden sitzender junger Mann, sondern auch von einer Klanginstallation, für die er eigene Texte rezitieren liess, oder von einer sehr kleinformatigen (so klein, dass manche Besucher sie neben den grossen Arbeiten kaum wahrnehmen werden) Wandskulptur, die den Abdruck seiner eigenen Hand zeigt.
Und das gilt auch von den spektakulärsten Räumen, die als Rondinones Hommage an die Landschaft seiner Jugend gelesen werden können. Im ersten stehen fünf bis an die hohe Decke reichende «stone figures» (2023), «Steinmannli», wie man sie im Alpenraum oft als Ergebnis familiärer Ferienaktivitäten antrifft, die aber in Rondinones Version wie riesige archaische Menschenbilder aus Urzeiten wirken. (Eine ähnliche Figur Rondinones fand im Kreisel eingangs Andermatt Aufstellung.)
Mitten im zweiten dieser spektakulären Räume hängen, Rücken an Rücken, die von Rondinone eigens auf diese Ausstellung hin geschaffenen, vier auf sechs Meter messenden zwei Malereien, die den Blick von Brunnen aus über den Urnersee nach Süden zeigen. (Eine ikonische Landschaftsansicht, der sich Alexandre Calame schon 1849 in einem prächtigen Gemälde widmete.) Rondinone zeigt den Blick als eine Art «Ideallandschaft» im Sinne romantischer Landschaftsmalerei. Er blendet Details aus, reduziert die Formen aufs Wesentliche und gibt den schön rhythmisierten Konturen und Horizontlinien einen eleganten Schwung. Blaue Töne in verschiedenen Abstufungen von beinahe Schwarz bis zum Lichtblau des Himmels herrschen vor.
Die eine Seite des von beiden Seiten her einsehbaren «Bildkörpers» zeigt den Blick über den See bei Tag, die andere jenen bei Nacht. Die Titel der Bilder benennen, wie oft bei Rondinone, die Entstehungsdaten: «sechstermaizweitausendundvierundzwanzig» und «siebtermaizweitausendundvierundzwanzig». Der Künstler wählte eine stark mit Wasser verdünnte Acrylfarbe, die er in spontaner Geschwindigkeit so auf die Leinwand auftrug, dass der Eindruck entsteht, es handle sich um klassische Aquarellmalereien mit ihren Verläufen und Unregelmässigkeit des wolkigen Farbauftrages.
Täuschende Leichtigkeit
Es ist ein Charakteristikum nicht nur dieser Ausstellung, sondern des gesamten Werks von Rondinone, dass er mit seiner Kunst dem Publikum primär Vergnügen bereiten und Lebensfreude signalisieren will. In einem Gespräch mit der NZZ (06.04.2024) bekannte er sich klar zu dieser seiner künstlerischen Grundposition: «Ich kann Leid und Trauer anerkennen, aber ich sehe mich als Künstler des Lichts. Ich möchte das Publikum zum Licht führen, zur Sonne, zu der reinen Sonne, die immer über uns allen scheint (…) Meine oft kindliche Arbeit heisst das Publikum willkommen. Ich möchte keine Mauer zwischen mir und dem Betrachter errichten (...) Das Leben feiern, seine Jahreszeiten und Rhythmen, seine Pflanzen und Steine, mit denen wir den Planeten und unser eigenes wildes Leben teilen.» Rondinone ist offenkundig kein Freund elitärer Kunst, und er ist zuversichtlich, dass, was er zeigt, auch ohne viel Vorwissen allgemein verständlich ist.
Da melden sich aber Bedenken. Die befreiende Leichtigkeit, die wir beim Gang durch die Ausstellung erleben, beruht auf klaren und präzis überlegten Konzepten, die sich auf theoretischer Ebene mit den Fundamenten der Kunst beschäftigen. Rondinone drängt sich damit aber nicht auf. Er lässt den Besucherinnen und Besuchern ihre Freiheit im Erleben seiner Kunst. Doch er überlässt nichts dem Zufall – weder formale Aspekte noch inhaltliche Dimensionen oder Strategien, die den Gang an die Öffentlichkeit betreffen: «Ich bin ein Verfechter von öffentlicher Kunst. Kunst muss auf die Leute zugehen. Egal ob mit einem Hafenkran wie seinerzeit in Zürich oder mit bunten Kühen», liess er im erwähnten Interview verlauten. Oder – ein veritabler PR-Coup – mit seiner eigenen Skulptur des schwebenden halbnackten Roger Federer, die in Luzern aber nicht zu sehen ist. Sein Erfolg am Kunstmarkt hängt zweifellos auch mit dieser seiner Position zusammen.
Schattenseiten und heiterer Schluss
Allerdings bleibt anzumerken: Bei aller Schönheit, bei aller Farbenpracht, bei allem Licht der «reinen Sonne» und bei all seinen oft «kindlichen» Arbeiten (womit er wohl vor allem die vielen hübschen kleinen bronzenen Pferde und Fische meint) – die Schattenseiten blendet er nicht aus. Der melancholisch auf dem Boden sitzende junge Mann im ersten Saal mit den Blitzen scheint jedenfalls nicht vom Glück gesegnet. Die Blitze selber signalisieren bei aller Erhabenheit existenzielle Gefahr. Die Masse der «stone figures» lassen die Besucherinnen klein erscheinen. (Aufgestellt auf der Rockefeller Plaza in New York, wie 2013, wirken sie wiederum klein und geradezu menschlich.) Die Nachtversion der Seelandschaft in Brunnen nimmt dunkle und bedrohliche Züge an.
Heiterkeit stellt sich wiederum ein im Raum mit dem Titel «your age and my age and the age of the sun». Da sind die Wände tapeziert mit mehreren hundert Kinderzeichnungen zu Rondinones Lieblingsthema «Sonne». Der Künstler lud Kinder aus der Innerschweiz ein, sich am «Sonnenprojekt» zu beteiligen. Seit 2013 unterstreicht er mit dieser seine Ausstellungen jeweils begleitenden Aktion seine Vision eines Museums, das allen offensteht. Folgerichtig fand denn im Kunstmuseum Luzern auch eine Kindervernissage statt.
Ugo Rondinone: «Cry me a River»
Kunstmuseum Luzern, bis 20. Oktober
Kuratiert von Fanni Fetzer
Katalog erscheint anfangs September